Du bist die Ruh!. Rudolf Stratz

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Du bist die Ruh! - Rudolf Stratz


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blendenden weissen Schnee, das Funkeln der Sonne auf spitzen und runden, vor dem weisslich-bläulichen Himmel schwimmenden Goldmassen, das Regenbogenbunt der grau ummauerten heiligen Stadt drüben, über dem Eis des Flusses. Sie stiegen ein und dabei sagte Marja noch einmal, aber diesmal schon ihrer Sache ganz sicher: „Also abgemacht, Mischa — du machst jetzt den Besuch! Ihr braucht ja nicht gleich miteinander Brüderschaft zu trinken. Es ist doch nur eine Geschäftssache!“ Da seufzte er und gab endgültig nach. „Nun ja! sluschba nje druschba! Dienst ist noch nicht Freundschaft! — Ich will also in Gottesnamen jetzt zu Wieprecht fahren ...“

      II

      Vor dem vereisten Bürgerpfad, auf den das Ehepaar hinaustrat, harrte ihrer ein Lichatsch, einer der bunt geputzten Luxuslohnkutscher Moskaus und liess, als Iwan Michels mit seiner Frau eingestiegen war und ihm sein übliches: s’Bogom! Mit Gott! ... zugerufen hatte, seinen Traber ausgreifen und in sausender Fahrt ging es längs des Flusses dahin, durch das Menschen- und Schlittengewimmel der Moskwarezkijbrücke und auf der andern Seite steil empor und über den riesigen, jetzt weiss verschneiten „Roten Platz“.

      Man war hier im Herzen Moskaus. Zur Linken trotzten wieder, jetzt ganz nahe, altersgrau und vermorscht die mächtigen Mongolenmauern des Kreml mit ihren moosschwarzen Türmen, ihren von Kirchenbildern und brennenden Heiligenlämpchen überhöhten Eingangstoren und davor auf dem roten Platz stand als ein phantastisches Spukgebilde aus Stein und rotgrünem Farbenglanz und irrem Geschnörkel die Kathedrale Iwans des Schrecklichen, „der lächerliche Palast“ im Volksmund, unheimlich, wie ein Fiebertraum, gebuckelt, verkrüppelt, gerillt und geschuppt mit seinen ananas- und zwiebelförmigen Auswüchsen, die, ein ineinander geschrumpftes Bündel, ein Rattenkönig schillernder Missgeburten am Körper der Kirche hingen und diese eigentlich ausmachten. Wenn Marja diese orientalisch-drachenartige, groteske Schöpfung sah, erschien sie ihr wie ein Gleichnis der dem Westeuropäer doch ewig fremden Welt, die sie hier umgab — in der sie, still und zurückgezogen in ihrem Winkel, mit ihrem Mann und ihren Kindern lebte — ein Gleichnis für die Vermählung des Morgen- und Abendlandes, die sich hier in Moskau vollzog. Denn überall lugte hier, trotz Schnee und Winterkälte, der Orient in die alte Zarenstadt hinein — ja, diese selbst war ein Stück Asien und war eigentlich gar keine Stadt — es war eine ganze Reihe von Städten — jede von der andern durch Bewohner, Sitten und Treiben verschieden — oder eigentlich: es waren auch keine Städte — es waren Dörfer — ungeheure steinerne und hölzerne Dörfer — alle mit hunderten von bunten Kirchen und Kathedralen, von goldenen Kuppeln und grünen Klöstern und weissen Glockentürmen und amerikanischen Wolkenkratzern geschmückt, und diese Dörfer waren durch weite freie Plätze voneinander geschieden, auf denen wieder mächtige Paläste standen, oder sie gingen ineinander über, sie verschmolzen sich zu Vorstädten, Riesenhaufen elender Bretterbuden, in Schmutz und Brandschutt, schon am Rand der Föhrenwälder. Und hinter diesen Baumgruppen zeigten sich neue verschneite Dächer, neuer goldener und weisser Glanz in der trüben Luft, das Qualmen vieler Fabrikschornsteine, und so ging das weiter und weiter und nahm kaum ein Ende. Hiess es doch, dass ein rüstiger Fussgänger zwei Tage brauchte, um um Moskau herumzuwandern. Wenn Marja sich das vorstellte, dann kam sie sich wie in einen riesigen Kerker gebannt vor, der einem allen Spielraum liess und doch kein Entweichen gestattete. Man musste schon, wie ihr Mann, in Moskau geboren und aufgewachsen und halber Russe geworden sein, um sich hier heimisch zu fühlen. Und Iwan Michels betrachtete sich als Russen. Bereits sein Vater war russischer Untertan geworden. Ihm war die Zugehörigkeit zum Zarenreich das ganz Natürliche. Er hatte für die Enge deutscher Verhältnisse, wie er sie ansah — es lebten ihm noch viele Verwandte, meist in dürftiger Lage, im Königreich Sachsen — nur sein stilles, gutmütiges Lächeln.

      Jetzt sass er die ganze Zeit stumm, der versprochene Besuch bei Wieprecht drückte ihn, die bevorstehenden kaufmännischen Auseinandersetzungen — alles, was mit den Geschäften zusammenhing. Er schaute, während sie über den roten Platz fuhren, nicht wie sie nach dem Kreml und der bizarren Kathedrale vor ihm, er blickte zur Rechten. Auch da erhoben sich Mauern — neue Türme und Zinnen — und hinter diesen finsteren Bollwerken des Mittelalters, an denen einst die Stürme der Tatarenhorden gebrandet, nur durch enge, menschenwimmelnde Tore mit der Aussenwelt verbunden, lag seine Welt, lag Kitai-Gorod, die „Chinesenstadt“, der Mittelpunkt des ganzen Moskauer Handels und Wandels. Hier war die City für die russischen wie für die deutschen und französischen, die englischen, amerikanischen und dänischen Firmen, für die sibirischen Kaufleute und die Perser und Tataren und Armenier, hier waren die Börse, die Warenlager und Musterräume und Bureaus. Des Nachts starb diese ganze Stadt aus. Dann blieben, ausser den Wächtern, nur noch die Priester und Mönche der vielen Kirchen und Klöster zurück, die sich von altersgrauen Zeiten her mit ihrem Glockenklang und Weihrauchdunst, ihren ewigen Lampen und wundertätigen Bildern friedlich zwischen den blau und rosa getünchten Kaufmannshöfen, den finsteren Stapelhallen und Schreibstuben erhalten hatten.

      Und hier, in der Iljinkastrasse, hatte auch Iwan Michels sein noch wenig in Anspruch genommenes Kontor. Das sah er jetzt und sagte, das lange Schweigen brechend, zu seiner Frau: „Es wird jetzt auch Zeit, dass ich mich da ordentlich einrichte!“ und dann blieb er wieder still und seufzte, bis der Schlitten durch die Iberische Pforte glitt. War schon bisher das Kennzeichnende an dem ganzen Strassenleben das unaufhörliche sich Bekreuzigen und mit abgenommener Mütze sich Verbeugen vor unzähligen sichtbaren und unsichtbaren Heiligenbildern, Kirchen und geweihten Stätten gewesen, so sah man jetzt vor der winzig kleinen himmelblauen, mit grossen goldenen Sternen geschmückten Iberischen Kapelle überhaupt kaum mehr einen bedeckten Kopf. Dichte Menschengruppen drängten sich da vor dem heiligsten Heiligtum Moskaus und sanken drinnen vor dem Kerzengeflimmer zu Boden, schwarzgekleidete Nonnen standen almosensammelnd in einer Reihe davor und daneben waren leere wartende Schlitten in Menge aufgefahren, ein leiser bläulicher Wirbel von Wohlgeruch zog aus dem Innern der Kapelle heraus in die Winterluft und um die gebeugten Stirnen der da im Schnee Knieenden, und mit ihm umwob ein eigener Hauch frommer Inbrunst das stillbewegte Strassenbild.

      Iwan Michels hatte, wenn er sich auch als Russen betrachtete, doch die Mütze nicht vom Kopf genommen. Er ging alle vierzehn Tage in die evangelische Kirche, wie es sein Vater und Grossvater schon in Moskau getan; darin blieb er fest. Aber er schaute doch aufmerksam nach dem kleinen blauen Gnadenort mit dem kindlichen Sternendach hinüber und sagte dann lebhafter als bisher zu Marja: „Davon hängt’s nun ab, Duscha Maja, an welchem Tage ich werde die Fabrik eröffnen können!“

      „Von der Iberischen Mutter Gottes?“

      Er nickte. „Von der Iberskaja!“

      „Also willst du sie wirklich zur Einweihung bestellen?“

      Ihr Mann zündete sich mit geübter Hand trotz der raschen Fahrt eine Papyros an und warf das Streichholz seitlings in den Schnee. „Ich will nicht, Seelchen ... ich muss! Vergiss nicht, dass alle meine Arbeiter rechtgläubige Russen sind — zum Teil aus ganz weltentlegenen Dörfern hergeholt. Die würden es einfach nicht begreifen, dass irgend ein Unternehmen ohne den Beistand der Iberischen Mutter Gottes eingeweiht werden kann. Ich muss dieser Tage gleich Schritte tun und anfragen, zu wann ich die Iberskaja bekomme ...“

      „Aber das wird eine Menge Geld kosten!“

      „Kanietschno!“ sagte ihr Gatte. „Natürlich! Das geht jetzt schon in einem hin. Was liegt daran, wenn ein ganzes Vermögen auf dem Spiele steht? Mein Schicksal liegt nicht hier, sondern in New York — an der Börse, wo dieser Ascott in seinem Irrsinn die Baumwollpreise weiter und weiter in die Höhe treibt!“

      Damit war er wieder beim Geschäft und sprach davon wie ein Mann, den stets dieselbe, nie weichende Sorge drückt. Sie hörte ihm zu. Aber es war nichts neues — immer das alte Lied. Die Worte verklangen ihr im Ohr. Still sass sie da und hielt mit einer Hand den Bibermuff vor den Mund, um sich vor der Kälte zu schützen, und griff zuweilen mechanisch mit der andern nach der Deichsel eines zu nahe herankommenden fremden Schlittens und schob sie zur Seite, wie es alle hier Fahrenden taten. Denn jetzt, wo sie die Twersche Strasse erreicht hatten, war um sie herum alles voll Leben und Getümmel. Schwärme von winzigen, niederen Schlitten schossen schnell wie die Schwalben den steilen Hang der Fahrbahn über den Schnee dahin, der hier hellbraun und ganz locker und trocken war, kreuzten einander, wichen sich aus, überholten


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