Bleibt uns die Hoffnung. Marie Louise Fischer

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Bleibt uns die Hoffnung - Marie Louise Fischer


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Zentimetern von der Außenmauer ist eine Rabatte angelegt, deren Schmalseite drei Meter breit …« Sabine hob den Kopf. »Sag mal, was soll denn das?«

      »Das ist eine Gleichung! Du mußt den Ansatz finden!«

      »Wieso ich? Ich denke, du hast das gelernt!«

      »Ich dachte nur, weil du doch etwas vom Gärtnern verstehst!«

      »Du lieber Himmel! Willst du mich auf den Arm nehmen?!«

      »Nein, ehrlich nicht. Ich blicke da nämlich nicht durch.«

      Sabine seufzte und versuchte es noch einmal »Der Garten ist neunzehn Meter lang, und die Schmalseite der Rabatte ist drei Meter …« Sie unterbrach sich. »Ein blödes Format!«

      »Aber Mutti, darum geht es doch gar nicht!« Sven blickte über Sabines Kopf hinweg auf den Bildschirm.

      »Wie wär’s, wenn du das Ganze mal aufzeichnen würdest? Dann können wir es ausmessen.« Sven antwortete nicht.

      Sabine blickte zu ihm auf. »He, hörst du mir eigentlich zu?«

      »Klar.«

      »Was hab’ ich denn eben gesagt?«

      »Daß ich es aufzeichnen soll. Aber das nutzt mir nichts. Ich brauche nicht die Lösung; sondern den Ansatz.«

      Es war zu lange her, seit Sabine dergleichen gelernt hatte; sie fühlte sich überfordert und sprang auf. »Herrgott, müßt ihr denn so einen Krach machen!« Sie stellte den Apparat leiser.

      »Aber so können wir doch nichts verstehn!« protestierte Andy.

      »Das ist gemein!« schrie Christian.

      Fast gleichzeitig liefen die Jungen vor, und Andy drehte den Lautsprecher noch weiter auf als vorher.

      In diesem Augenblick trat Arnold ein; niemand hatte ihn kommen hören. »Guten Abend miteinander!«

      Andy stellte den Apparat sofort leiser, denn er wußte aus Erfahrung, daß der Onkel keine langen Geschichten machte, sondern den Fernseher einfach ganz abschaltete, wenn er sich gestört fühlte.

      Aber heute war er gnädig. »Na, was seht ihr denn da?« fragte er.

      »Abenteuer im Gran Cañon!« schrien die Jungen.

      »Versteht ihr das denn überhaupt?« fragte Arnold.

      Sabine war aufgestanden und kam ihrem Mann entgegen. »Wahrscheinlich nicht. Aber ich wußte nicht, wie ich sie sonst noch beschäftigen konnte.« Sie küßte ihn auf die Wange. »Wir können gleich verschwinden, wenn du lieber allein sein willst.«

      »Aber wieso denn? Ich will euch doch nicht vertreiben.«

      »Na, schließlich ist es jetzt dein Zimmer.«

      »Guten Abend, Vater«, sagte Sven.

      »Er hat eine Mathematikaufgabe, mit der er nicht zu Rande kommt«, erklärte Sabine.

      »Na, die werd’ ich mir gleich mal vornehmen, sobald die Sendung vorbei ist.« Arnold ließ sich in seinen Fernsehsessel fallen. »Dann werden die beiden jungen Herren wohl noch Zeit haben, mich zu begrüßen.«

      Andy und Christian hockten sich auf den Teppich.

      Sabine setzte sich zu ihm auf die Sessellehne. »Was ist los mit dir? Du bist ja heute so gut gelaunt?«

      »Das liegt an dem herrlich weichen Hemd«, sagte er, »und es riecht auch so frisch … aprilfrisch!«

      Sie lachte herzlich; es war lange her, seit er Humor gezeigt hatte. »So gefällst du mir«, sagte sie, »soll ich dir was zu trinken bringen?«

      »Am besten eine Flasche Sekt.«

      »Gibt es denn etwas zu feiern?«

      »Ja, Biene.« Er hielt sie fest. »Ich habe im Supermarkt Schluß gemacht. Ich habe Egon gekündigt.«

      Sabine war froh, daß er nicht zu ihr aufblickte; es fiel ihr schwer, ihre Betroffenheit zu verbergen, und sie war im ersten Moment außerstande, etwas zu sagen.

      »Das hast du doch immer gewollt«, erinnerte er sie.

      »Ja, aber du hattest immer tausend Argumente dagegen.«

      »Stimmt. Inzwischen habe ich eingesehen, daß sie falsch waren. Schlimmer als dort kann es gar nicht mehr kommen. Und wenn ich als Hilfsarbeiter beim Bau anfangen müßte.«

      Sie schmiegte ihre Wange an seinen Kopf. »Ach, du wirst schon was Besseres finden«, beruhigte sie ihn, während sie krampfhaft überlegte, wie sie ohne seinen Lohn auskommen sollten, und ob er, da er selber gekündigt hatte, überhaupt eine Arbeitslosenunterstützung bekam.

      »Bestimmt werde ich mich auch wieder besser mit Egon verstehen, wenn er keine Gelegenheit mehr hat, sich als Vorgesetzter aufzuspielen.«

      »Ganz bestimmt, Arnold!«

      »Sehr erfreut klingt das aber nicht!«

      »Doch, ich freue mich, Arnold«, behauptete sie, »schon allein wenn du dich jetzt besser fühlst, ist das die Sache wert gewesen.«

      Auf dem Bildschirm ritt eine Indianerschar mit donnernden Hufen der untergehenden Sonne entgegen, eine riesige Sandwolke aufwirbelnd, damit war der Film zu Ende.

      »Soll ich ausschalten?« fragte Sabine.

      »Nein, bitte, bitte, nicht!« rief Andreas.

      »Es kommt noch was!« schrie Christian.

      »Laß nur an«, sagte Arnold, »es ist ganz entspannend.«

      »Aber du wolltest dir doch Svens Mathematikaufgabe …«

      »Nicht nötig.« Sven hatte sich rittlings, die Arme auf der Lehne, das Kinn auf den gefalteten Händen, auf einem Stuhl niedergelassen. »Die schau ich mir nach dem Essen selber noch mal genau an.«

      »Das ist auch besser so«, erklärte sein Vater, »denn was nutzt es dir schon, wenn ich sie vorrechne. Dabei lernst du ja nichts.«

      Ohne ein weiteres Wort verließ Sabine das Zimmer.

      Gleich nach dem Abendessen verzog sich Sven unter dem Vorwand, noch arbeiten zu müssen, in sein Zimmer unter dem Dach. Dort breitete er seine Bücher und Hefte in malerischer Unordnung auf dem Schreibtisch aus, aber nur um ein Alibi zu haben, falls jemand aus dem Haus bei ihm nach dem Rechten schauen würde. Tatsächlich aber dachte er nicht daran, auch nur einen einzigen Blick hineinzutun, nicht nur, weil er etwas anderes vorhatte, sondern auch, weil er es für vollkommen sinnlos hielt. Angesichts seiner miserablen Noten besaß er, das war ihm völlig klar, nicht mehr die geringste Chance, versetzt zu werden.

      Das Wissen um sein Versagen lag ihm wie ein ständiger Druck auf der Brust. Obwohl er nicht ehrgeizig war, litt er doch darunter, in der Schule als Esel behandelt zu werden. Er war sich sicher, daß auch seine Kameraden ihn verachteten, wenn sie es auch nicht zu zeigen wagten. Wie sie über ihn hinter seinem Rücken sprachen, wagte er sich nicht einmal auszumalen.

      Auch zu Hause galt er nichts, schien ihm, weniger als nichts. Er war ja immer nur der »Kleine« gewesen. Mit Knut hatte er sich nie messen können. Seit aber auch noch Torsten zum Ernährer der Familie avanciert war, war es ganz aus. Früher hatte die Mutter ihn immer noch in Schutz genommen. Doch jetzt nahmen die Zwillinge sie voll und ganz in Anspruch. Er konnte sehen, wo er blieb.

      Wenn er an das Theater dachte, das sie bei seinem letzten Zeugnis aufgeführt hatten, konnte ihm noch nachträglich schlecht werden. Sie hatten sich aufgeführt, als handelte es sich um eine nationale Katastrophe.

      Dabei – was hatte es in Wirklichkeit mit einem schlechten Zeugnis schon auf sich? Gar nichts. Man brauchte ja nur die Zeitungen zu lesen. Ein Drittel aller Gymnasiasten, die das Abitur schafften, waren auf dem Weg dahin ein- oder mehrmals hängengeblieben. Na also. Nur einem Miller durfte so was natürlich nicht passieren. Als wenn er überhaupt Wert auf das Abitur legte! Scheiße! Was verdiente so ein Akademiker schon nach all den Studienjahren?


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