Die letzte Wahl. Rudolf Stratz

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Die letzte Wahl - Rudolf Stratz


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mal, Männe!“ ... Frau Ellen drehte sich sanft lächelnd um ... „ist das eigentlich wahr: Mary behauptet, Bebel sei nicht hier! der käme nicht zu so was!“

      „Nein. Das tut er auch nicht!“

      „Und Windthorst ist wirklich schon tot?“

      „Schon lange.“

      „Und Bismarck war eingeladen und hat abgesagt?“

      „Ja.“

      „Nun ... dann hat Mary wieder einmal recht!“

      „Warum glaubst du mir’s denn nicht gleich?“ sagte Mary gelassen und halblaut zu ihrer Schwester. „Nun lachen sie wieder ringsum über dich!“

      „Das ist sehr unrecht!“ Die schöne Frau unterdrückte ein leichtes Gähnen. „Ich versteh’ doch nichts von Politik und lese nicht den ganzen Tag Zeitungen und Broschüren wie du. Wenn du Kinder hättest, tätest du’s auch nicht!“

      Mary erwiderte nichts, sondern warf nur hinter Ellens Rücken ihrem Schwager einen Blick zu. Der zuckte nur mit unmerklichem Lächeln die Achseln, und ein ebensolches Lächeln überlegenen Mitleids glitt wie ein Widerschein eine Sekunde über ihr kluges, von glänzenden Augen erhelltes Gesicht. Gleich darauf lenkte sie den Blick wieder in das Gewühl des Saales hinab und er schaute gleichgültig, beinahe gelangweilt, zu der Glaskuppel hinauf, durch deren Wölbung grau und grämlich der Winternachmittag in den vom Glühlicht sonnenhell strahlenden Raum hineinschielte.

      Eine kurze Pause trat ein, in der der alte von Dalchow über etwas nachzusinnen schien.

      „Wie Sie sich verlobt haben ...“ fragte er dann ganz unvermittelt seinen Nachbar ... „haben Sie da eigentlich Ihre Schwägerin schon gekannt?“

      „Nein. Ich stand doch damals in Berlin. Ich hab’ sie erst auf der Hochzeit gesehen.“

      „Aber sie war damals auch schon verheiratet?“

      „Ja. Interessiert Sie das so?“

      „I wo!“ sagte der alte Herr. „Ich kam nur so gerade drauf, weil ...“

      Da setzten die Posaunen wieder ein, die letzten Worte einer unhörbaren Rede unten verschlingend, und in das Schmettern der Fanfaren hallte aus Tausenden von Männerstimmen ein Ruf ... und noch einmal ... und zum drittenmal, an den Wänden und Wölbungen dahinrollend, das Hurra auf den Kaiser.

      „Heil dir im Siegerkranz!“ die Musik setzte mit der feierlichen Weise ein. Auf den Tribünen ringsum waren die Zuschauer aufgestanden und sangen mit, die hellen Soprane der Offiziersfrauen klangen durch das stossweise Schmettern der Nationalhymne, und unten aus dem Saal tönte das Rauschen, Scharren und Sporenklirren der aufbrechenden Farbenmassen.

      Das Kaiserpaar schritt durch eine bunte Gasse von Präsidenten und Generalen davon, gefolgt vom Zug der schwarzgekleideten Prinzessinnen. Dahinter strömte in regellosen Wogen das offizielle Deutschland und versickerte als immer dünner werdendes Farbengerinnsel durch den Wandelgang und die Ausgangspforten. Schon klafften breite weisse Steinlücken an den Stellen, wo eben noch Schwärme von Exzellenzen leise flüsternd gestanden, schon konnte man die letzten Gruppen, die einzelnen Gestalten zählen, die den scheinbar in seiner Leere immer riesiger werdenden Kuppelraum belebten, dann verschwanden auch diese, die Posaunen verstummten, das neue Reichshaus war eingeweiht.

      Auch die Tribünenbesucher durften nun, nachdem die schillernde Seifenblase der Festversammlung zergangen, ihre Plätze verlassen und auf die Strasse niedersteigen. Die meisten Bänke lagen bereits menschenleer im Glanz des roten Tuches da, als Herbert mit den beiden Damen in den Garderoberaum heraustrat. „Mache rasch!“ flüsterte er seiner Frau zu, während er ihr den Pelzmantel umhing, „dass wir den alten Dalchow loswerden. Der Mensch ist grässlich mit seinen ewigen Taktlosigkeiten!“

      Aber da hörte er schon die heiser-joviale Stimme hinter sich: „Darf ich um den Vorzug bitten, mich Ihrer Frau Schwägerin zu präsentieren?“ und musste das wohl oder übel tun.

      Dann stiegen sie im Schwarm der anderen Zuschauer die Treppe hinunter.

      „Jerade wie wenn’s Theater aus is!“ sagte der alte von Dalchow ... „... jrosse Oper oder so was! Schade, jnädigste Gräfin, dass Ihr Herr Gemahl nicht auch das in Berlin mit ansehen konnte!“

      „Mein Mann ist in Berlin. Wir leben ja hier!“ erwiderte Mary.

      „... und er versäumt dies Schauspiel? ... nicht möglich ... ja ... was tut er denn jetzt?“

      „Er frühstückt bei Töpfer. Oder ist auf der Börse oder sonstwo. Aber kommen Sie ... sonst verlieren wir die anderen aus den Augen.“

      „So ... er frühstückt bei Töpfer?“ murmelte der alte Herr, warf einen verstohlenen Blick auf Mary, dann auf die beiden vor ihnen und trabte, so gut es seine etwas gichtbrüchigen Beine erlaubten, neben seiner rasch und biegsam ausschreitenden Begleiterin dahin.

      II.

      Die kalte Winterluft des Dezembermittags schlug ihnen entgegen, als sie durch das südliche Portal ins Freie traten. Es war ein jäher Übergang aus der Märchenpracht da innen in die graue Wirklichkeit Berlins. Dort trug die Welt ihr Feiertagsgewand, hier den schmutzigen Arbeitskittel des Alltags. Graue Wolken am Himmel, zwischen denen die Sonne wie eine blinde rote Scheibe stand, die kahl zum Himmel sich aufreckenden Äste des Tiergartens, rauhe bis ins Mark erkältende Windstösse, die kleine Staubwirbel über den Asphalt dahintanzen liessen, Schornsteine und graue Dächer in der Ferne — das alles wollte so gar nicht zu dem sonnigen Glanz der eben verflossenen Feier passen.

      Beendet war die Feier eigentlich noch nicht ganz, denn der Kaiser war auf einer Besichtigung der inneren Reichstagsräume begriffen und viele der Festgäste und Tribünenbesucher standen, seiner Abfahrt harrend, in plaudernden Gruppen vor den weissen Riesenwänden des Prunkbaus beisammen.

      Man konnte glauben, sich im Innern eines Feldlagers zu befinden! Militär ringsum. Der ganze Reichstag war von Gardetruppen umgeben. Zu Hunderten flatterten an aufrecht im Sattelschuh gehaltener Lanze die weiss-schwarzen Fähnchen der Dragoner, von der kaiserlichen Freitreppe her nickten in ganzen Wäldern die vom Winde schiefgewehten weissen, schwarzen und roten Haarbüsche des Fussvolks und davor schaukelten über den dunklen, haarscharf gerichteten Linien der Rosseleiber die fliegenden Adler der Kürassierhelme auf und nieder, wenn einer der frierenden Gäule ungeduldig mit den Hufen scharrte.

      Hinter diesen starren Mauern, deren tiefes Schweigen nur das eintönige Käuen der Rosse an den Kandaren, das leise Klirren der Säbel und ab und zu der gedämpfte Zuruf eines Unteroffiziers unterbrach, dehnten sich in der Ferne, zwischen den kahlen, von Frost bereiften Stämmen des Tiergartens lange, stumme Menschenreihen, schwarzgrau, unansehnlich, endlos, wie der Winterhimmel über ihnen, wie die arbeitsrussige Stadt, die sie gesandt. So standen sie seit Stunden in stiller Erwartung, der Absperrung gewohnt und schon froh, wenn das Vorübertraben eines Adjutanten, die Grobheit eines Schutzmanns oder der faule Witz eines Eckenstehers das Stilleben einer Festlichkeit unterbrach, von der sie nichts sahen und hörten und doch nicht lassen wollten.

      „Brr ... ist das kalt!“ sagte Ellen und wickelte sich fester in ihren Pelz ... „... sieh nur all die komischen Leute da hinten ... wie wir kamen, standen sie schon da, und nun sind sie immer noch nicht nach Hause gegangen! Und dabei sehen sie doch gar nichts!“

      „Das ist das Volk!“ erwiderte Herbert trocken. „Das wohnt der Feier als Zaungast bei.“

      Der alte Dalchow hatte das gehört und wandte sich kopfschüttelnd zu seiner Begleiterin. „Ihr Schwager hat sich sehr verändert, Gnädigste! Damals als Generalstabsoffizier ... na ja ... er war ja immer ein bisschen scharf und schroff und ein Streber, wie er im Buch steht. Aber dabei doch ’n zufriedener Mensch ... hat ja ’ne Riesenkarriere vor sich ... Wenn einem der Kommandierende General todsicher ist, dann ist es der uns beiden nicht unbekannte Generalstabshauptmann Herbert von Haldern ... und nun sehen Sie mal sein Gesicht ... gelb ... mager ... und so etwas merkwürdig Verbissenes in den Mundwinkeln ... unter dem Schnurrbart, der auch seinen Schwung eingebüsst hat ... nee ... hören


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