Uncountry. Yanara Friedland

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Uncountry - Yanara Friedland


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Zehen. Sie rollte sich zur Schnecke und wartete auf seine Hand auf ihrem Haar. Aber der Mann blickte ins Feuer und sprach in einer nie zuvor gehörten Sprache. Tatsächlich sprach er gar nicht durch seine Zunge, sondern gab frei, was das Beben von seinem gorge geschluckt. Er reichte ihr einen Feuerfarn, und obwohl sie es besser wusste, ergriff sie ihn. Die Flamme ballte sich in ihrer Faust, und sie wartete gespannt darauf, was er ihr antun würde. Er nahm ihr Haar zwischen seine Hände und rieb die Strähnen, als sei ihnen kalt. Noch bebte die Welt vom Bersten, und sie nahmen herumwirbelnde und zerfallene Dinge, um einander Geschenke zu machen. Am nächsten Tag hatten sie Berge von Hundebeinen, Kirschvögeln, Töpfen, heißen Kartoffeln, Knochen und eine Sammlung von Zungen, Augen und anderen Körperteilen beisammen. Und obschon sie nie herausfand, wer dieser Mann am Feuer war, warum er sich so freundlich um sie kümmerte mit seinem poltrigen Tun und den eifrigen, von all den falschen Stellen geliebten Händen (er verbrachte Stunden damit, ihre Lider zu streicheln, ihre Nägel zu massieren, ihre Achseln zu beschirmen), und obwohl sie nicht ganz sicher war, warum er nicht in sie eindringen wollte, wie alle anderen Männer zur rechten Zeit, warum er sich überhaupt nicht für ihre Brüste, ihre Lippen und all das Bedeutende zwischen ihren Beinen interessierte, blieb sie ihm nah und schlief vor seinen Füßen und fehlenden Zehen. Und obwohl sie einander ihre Gedanken nicht mitteilen konnten, verwirrten sie einander Herz und Verstand. Sie versuchte, ihn für ihre Nacktheit zu gewinnen, und er lockte sie mit gesammelten Flammen, reichte ihr manchmal eine seltene Leblosigkeit oder sagte ihr einfach in seinem Kuddelmuddel von Sprache, wohin er seine Hand gern legen mochte, und tat es dann. Im Laufe der Zeit brach der Himmel wieder hervor mit seinem Sternenvolk und Mond und Sonne. Die Jahreszeiten kehrten zurück, und die Laute wurden wieder an ihre wahren Erzeuger zurückverwiesen; Vögel zwitscherten und Schatten blieben stumm. Sie brachte ihm das Kauen und das Schlucken bei, und er ließ es sich von ihr zeigen. Wohin sie gingen oder was aus ihnen geworden ist, weiß niemand. Manche meinen, sie seien die Letzten gewesen, die auf dieser Erde gesehen wurden, andere glauben, die Allerersten.

       I. Lilith

      Eine Frau ist eine dunkle Kammer/ Eine Frau ist ein Meer/ Eine Frau ist ungehorsam/ Eine Frau ist verdammt/ Eine Frau wohnt unter Dämonen und bringt Totgeborene zur Welt/ Eine Frau hat keine Milch in ihren Brüsten/ Eine Frau hat Eulenfüße/ Eine Frau bricht den Hausfrieden/ Eine Frau lauert unter Türschwellen, in Brunnen und Latrinen/ Eine Frau führt Männer in die Irre/ Eine Frau wird zum makabren Klischee/ Eine Frau wird aus dem Buch gestrichen/ Eine Frau findet keinen Ort für Rast

       Schwarzes Meer

      Katharina die Große schreibt gern. Jeden Morgen steht sie um sechs Uhr auf und geht für drei Stunden ihrer literarischen Arbeit nach, bevor sich ihre Diener die müden Augen reiben. Zuerst wäscht sie sich Gesicht und Ohren mit Eis. Dann trinkt sie fünf Tassen vom stärksten Kaffee, setzt sich mit dem Federkiel vor die Kerze und verfasst in großer, fließender Schrift Instruktionen, Korrespondenzen, Memoiren, Fabeln, Geschichten und Komödien. Ihre Produktion ist gewaltig. Sie beendet ein Stück nicht erst, bevor sie ein nächstes anfängt; das erste bleibt für immer unvollendet.

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      Das schwärzeste aller Meere schickt die Pest nach Europa. Schwarz: Ein aschbleiches Blau, das alles Menschengemachte, alles Menschenzerstörte gesehen hat.

      Der Kornhandel entgleitet zu anderen Seehäfen; einzig die Bäume, die der Duc zu Zeiten des Opernhauses und der bestickten Tücher gepflanzt und gegossen, wiegen sich fort in den Augustnächten.

      Zar Nikolaus II. rekrutiert rechte Truppen, bekannt als die Schwarzen Hundert, die jeden töten, der nicht russisch ist, zaristisch oder orthodox. 1905 erleiden die Juden von Odessa das blutigste aller Pogrome.

      Katharina die Große steht auf ihrer Säule, während – weiter oben noch – das V der ziehenden Vögel zum Meer hin pfeilt.

      Puschkins Büste auf Granit, mit feschen Fischen und der Inschrift »von den Odessiten«; so weiß man, von wessen Geldern sie errichtet wurde. Das Opernhaus vor und nach dem »Großen« Brand. Die Uspenski-Kathedrale mit himmlischen Glocken, überfallen, dann saniert. Der Woronzow-Leuchtturm wurde nach seiner Zerstörung zylindrisch wiedererrichtet. Der Bahnhof: klassizistisch, die erste Klasse zur Puschkinska hin, die dritte zum Alten Heuplatz, zerstört. Neu errichtet im alten Stil. Und die Stufen zum Meer, 192, sind ein paar weniger jetzt.

      An der Potemkin’schen Treppe steht ein Hochstaplerpaar und schnürt einen wilden Adler, eine Eule und einen Fasan auf ein Kreuz aus Metall. Kinder fächern dem Fasan die Federn. Für ein paar Münzen kann man den Vögeln über die weichen Schädel streichen oder sich die Eule auf die Schulter setzen lassen. Die Eule hatte das Paar bei Nacht gefangen, in der Nähe der Katakomben, wo sie jenen Gaunern und Verfolgten als Glücksbringer galt, die zu spät kamen, um die Stadt noch auf dem Seeweg zu verlassen.

       Exil

      An einem heißen Julimorgen reist Mimi mit ihren Eltern ab. Ihr schmächtiger Körper lehnt an der Reling der Jekaterina, Kurs nach Kanada. Vom Hafen winken die Brüder. Mimi denkt nicht an das, was sie nicht wiedersehen wird.

      Ihr Vater verweigert das Essen an Bord, weil es nicht koscher ist. Rinderbraten, Dörrpflaumenkompott und Baked Beans. Ein Mädchen auf dem Schiff erkrankt an Masern. Mimi ist vier Wochen krank und wird nach der Ankunft in Montreal in eine Klinik verbracht. Frauen mit schwarzen Schleiern scheinen von Käfern bedeckt. Bis ins hohe Alter noch würde Mimi den Geschmack von Dörrpflaumenkompott im Mund haben, bevor sie erkrankte.

      Sie entkommen dem Schnaufen, dem Wind eines lichtlosen Tags.

      Das Ritual aus Stille, Hunger und Orientierungslosigkeit zeugt Wolfsmütter.

      Erst. Mal. Gibt. Es. Schmale. Kost.

      Maurer $7.00, Dreher $6.00, Klempner $6.00, Klempnergehilfen $2.50, Estrichleger $5.00, Steinmetze $4.75, Tischler $4.00, Handlanger $4.00, Hufschmiede $4.00, Schmiede $4.00, Fliesenleger $4.00, Glaser $4.00, Schildner $4.00, Verputzer $4.00, Schindler $4.00, Maschinisten $3.75, Möbelschreiner $3.50, Walzwerker $3.50, Ungelernte Arbeiter $2.00 bis $2.50.

      Mimis Vater, Torah-Lehrer im Osten, wird im Westen Hausierer.

      Einmal verirrt er sich in einer Wohngegend und steht plötzlich vor einem jiddischen Theater, wo eine Gruppe von Schauspielern eine Übertragung von Shakespeares Der Sturm probt. Eine Weile lauscht er den gedämpften Gesprächen, den flüsternden Stimmen. Caliban ist ein großer ungarischer Jude mit einem Lispeln. Miranda fragt in die Runde: »Fun wonen is a Jid?«

      Mimi lädt Fremde zu sich nach Haus, hat einen stattlichen Busen, entsinnt sich nie ihrer Kindheit. Sie erinnert an Marie-Antoinette oder Madame Bovary. Das Herrische in einer Frau kommt schnell zu Fall.

      »Sie war so beliebt, dass sie ohne Freunde starb«, wird man später sagen.

      Mimi hat eine Krankheit. Die Krankheit ist ein Kreischen, ein katzenfreundliches. Sie kann für ein paar Tage verschwinden, ausbrechen, und wieder verschwinden. Es ist wie beim Feuer in Neros Rom; niemand weiß, ob Mimi die Krankheit selbst gelegt hat.

      Manchmal poliert sie die ganze Nacht lang das Silber. Oder brüllt ein Kirchenhaus an: »Ich spreche kein Erzengelisch!«. Dann kauft sie sich von Vaters Ersparnissen Kleider und Schmuck und zündet, die Rubine im BH versteckt, am Abend vor Schabbat feierlich die Kerzen.

      Sie treffen sich bei einer Hochzeit an der Küste. Sanftlila Sonnenschirme und ein Wandelgang zum Meer. Mimi tritt zum Schrei der Möwen aus einem weißen Zelt. Sie geht aufs Wasser zu und trifft ihn am Pier. Ihr Blick durchbohrt die Ferne.

      »Wie die Sonne glitzert«, beginnt er.

      »Sie glitzert immer«, zischt sie.

      Die Stille wird vom Rhythmus der Wellen erfasst, und ohne ihn eines Blickes zu würdigen ruft sie unvermittelt: Ho, Europa,


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