Uncountry. Yanara Friedland
Читать онлайн книгу.Stimme, ist so bezaubert von ihren Purpurlippen, den hohen, blassen Wangenknochen, dem Lachen, das aus ihrer Brust geflügelte Lettern entlässt. Er ist so hin und weg von ihrem Geplauder über die Donau, ihre unglücklichen Vorfahren, den Aktienmarkt und all das Gold, das sie finden wird, dass er einen Kredit aufnimmt und ihr einen Ring an den kalten, weichen Finger steckt.
Das Winterland mit seinen blattlosen Bäumen sieht aus wie ein Stoppelgesicht. Mimi schreitet in einem Satinmantel auf und ab. »Der Atlantik«, seufzt sie, »macht mir Alpträume.« Die Türklingel geht schon früh am Morgen. Ist ihr Mann im Geschäft, empfängt Mimi den ganzen Tag Besucher. Sie serviert Kuchen, kandierte Früchte und russische Sprichwörter. Endlich hat sie eine Straße. Farwell Avenue. In Milwaukee.
Falken zeichnen sich ab vor dunklem Ackerland. Im Herbst scheinen die Himmel zu sinken. Sie hat einen schönen Namen, aber hierzulande wird sie von allen nur Mimi genannt. Ihr Lachen lässt Fenster zersplittern. In der Kälte draußen wächst es heran und betrauert das Haus. Sie trägt Kleider, Federkleider. In Amerika und für Amerika.
Mimi nennt ihre Kinder »kleine Gesichter« und schreibt jedem an die Wiege: Geh, denn du hast weder Anteil noch Erbe hier. Damit Sukkuben und verstoßene Geister ihre Babys nicht erwürgen. Sie erzählt ihrem Lieblingskind von den »Nestern« und streicht ihm dabei über die Locken. Die Nester, sagt sie, machen Gesetze. Sie kommen aus den niederen Regionen. Ihre langen Finger zwirbeln.
Sie ist keine gebildete Frau, hat Bücher nur zur Dekoration. Posthume Jackie-O.-Biografien neben Jiddischen Liedersammlungen.
Manchmal zeigt sie ein Bild von Odessa, vom Primorskij Boulevard mit seinen Akazien, und beklagt den Verlust der griechischen und türkischen Cafés, der deutschen Bäckereien und französischen Friseure.
Die sonntägliche Purpursuppe reicht die ganze Woche.
Ihre Lieblingsgeschichte ist Tod. Wenn du stirbst, gehst du an einer Wand aus Steinen entlang, die aus der Erde ragen wie lange Gebeine. Wenn du stirbst, fällst du in einen Brunnen hinab und bringst Blut zum Spiegelbild des Monds. Wenn du stirbst, trägt dich die vogeltötende Halluxkralle zum Orionbogen hinauf. Wenn du stirbst, kehrst du zurück zu Lehm und Nebel. Wenn du stirbst, wimmern die Golems. Wenn du stirbst, verschwindet die Welt. Wenn du stirbst, werde ich sterben.
Mimis Sohn, der miesgeborene, wird herausgezogen wie Wasser aus einem Brunnen. Große Zangen haben den Nacken fest im Griff. Taumeln der Laute, er drängt zurück. Seine Arme: Ruder. Die Drosselvene pocht. Auf dem Dach sind Eichhörnchen. Mimis Worte krächzen die Kehle herauf und fallen aus ihrem Mund wie unreife Beeren. Es braucht mehrere Schwestern, um Mimi zu halten. Sie brüllt. Frau der tausend Köpfe auf allen vieren; die Zange steckt noch irgendwo fest. Das Eibrot erbrochen auf weißen Laken. Das Baby ist plötzlich von taubem Fleisch umgeben, sein Kopf in der trägen Strömung eines dunklen Weihers.
Die seltsamsten Augenblicke sind immer von Lächeln bevölkert.
Wenn Kinder im Schlaf lächeln, sagt Mimi, dann spiele Lilith mit ihren weichen Gliedern, bevor sie ihnen das Mark aus den Knochen saugt.
Mimi warnt vor dem Winter. Keine Verträge, keine Reisen. Keine Geburten, keine nächtlichen Einfälle. Seit Jahren spendet sie dem Krankenhaus Geschenke. Bis ihr Sohn mies geboren wird. Mimi behauptet, dass die Hände des Arztes zittrig und die Augen blutunterlaufen gewesen seien. Der Gerichtsprozess macht Mimi im ganzen Ort bekannt. Sogar die Zeitung schreibt über sie.
Eine Nachbarin, die die Zukunft sehen kann und oft mit Tieren spricht, wird beim Abendessen blass. Sie lässt ihren Löffel in die Suppe fallen und blickt zu Mimi hin. »Da sitzt eine Krähe auf deinem Kopf«, sagt sie. Mimi bröselt Brot auf ihren beinschwarzen Haarkranz und fragt: »Frisst sie?«
Vögel nisten sich in den Schränken ein, Mäuse hinterm Kühlschrank. Mimis Muttermal auf der Wange sieht aus wie ein zerkautes Stück Fleisch, das dörrt auf der Haut. Sie zupft sich jeden Morgen vier Wimpern aus und gibt sie ihren Kindern. Die pusten ihre Wünsche über den Frühstückstisch.
Mimi züchtet Männer. Es geht das Gerücht, Mimi kümmere sich, nachdem sich ihr Ehemann in seinen frühen Tod ergeben, auf außergewöhnliche Weise um ihren miesgeborenen Sohn. »Ich bin die einzige Frau, die das für ihn tun würde«, gesteht sie später.
Ihr letzter Sohn wird kein Holzfäller und kein Doktor sein. Er wird nicht heiraten, wird keine Kinder haben. Er lebt mit ihr, bis er dreiundvierzig Jahre alt ist, dann fällt er die Treppe hinunter und blutet sich lautlos aus der Welt.
Danach spielt Mimi Gameshows mit ihren Nerven und schaut Tennisspiele in der Anstalt. Ihr Zimmer ist steril. Auf der Fensterbank stehen sechs Matrjoschkas.
In der Anstalt erzählt Mimi die Geschichte vom Holzschnitzer, mit dem sie einst in einem Haus aus Nussbaum- und Apfelholz lebte. Sie schnitzten Schwäne, tanzende Figurinen und Früchte. Niemand kennt die Geschichte genau oder versteht wirklich, wo und wann was geschah; in einigen Versionen heißt es, der Bildhauer oder Holzschnitzer habe eine Frau gehabt, die mit drei Kindern unten im Tal in einem Bauernhaus lebte und Brieffreundin von Theodore Dreiser war.
Bei anderen Gelegenheiten erzählt sie von ihren Kinderjahren in einem namenlosen ukrainischen Dorf. »Wishniak ist ein rubinroter Kirschlikör. Wir haben die Liköre im Herbst selbst hergestellt. Dann kamen Männer ins Dorf und schmissen mit diesen Likörflaschen unsere Fenster ein. Die Teppiche wurden rot. Die Kirschen pflückten Mutter und ich von den Bäumen hinterm Haus. Wir hatten ein paar Pferde.«
Es bleibt ungeklärt, ob sie in diesem Dorf oder in Odessa aufwuchs, wie sie auf einem Schiff den Hafen von Odessa in Richtung Atlantik verließ oder einen Freund von Dreiser kennenlernte.
Als Mimi in der Anstalt lebt, wird ihr Haar dünner. Sie hat viel zu tun. Sie gehe am Morgen segeln mit einem Millionär, sagt sie, und zeige ihm die Statue von Katharina der Großen hoch oben über den Pflasterstraßen ihrer Stadt. Sie passieren die Adlergrenze und meiden die Straßen, die alten Katakomben und das schwärzeste aller Meere, das alles vom Menschen Gemachte und alles vom Menschen Zerstörte gesehen hat. Hunderte Vögel fluten vom Himmel. Gegen Ende zeichnet Mimi Seekarten und stellt sie neben die Matrjoschkas auf die Fensterbank. Sie sagt, sie müsse das Licht zerteilen, bevor sie stirbt.
Wildnis
Im Zimmer ebben die Geräusche ab, das hohle Bellen des Hundes hohlt nicht mehr. Der Himmel tönt, und auch der leere Waschraum in der Schule; Frauen schauen sie an oder sich selbst. Wie lange dauert es, bis der Tee in einem Glas erkaltet? Oder der Fluss, die Kirche, die Glocken, der Rauch, der aus der Nase glitt? Es gibt eine Form von Gedächtnisschwund, die lässt sich nicht klinisch belegen. Ein Aufweichen von klaren Grenzlinien bis hin zur Auflösung aller Himmelsrichtungen, wie unter Wasser. Meine liebe Frau ---------, das Brot ist ausverkauft. Ist noch Krieg? Immer noch Krieg? Im Handgelenk, da gibt es noch ein Klingen, und im Kupferklirren des Beckenbodens. Jeder Teil des Hauses hat eine Bedeutung. Und der stattliche Mann, der sich in der Küche über ihre Backwaren beugt, hat einen Namen. Sag das noch mal. Brombeer und Rhabarber. Der Verlust sitzt tiefer noch. Ihre eigene Haut fühlt sich weit an und fremd. Chicago, Beloit, Detroit Lakes. Sie sind irgendwo. Die Sonne fehlt, und so zeichnen sie sie mit den Fingern: Was macht die Sonne jeden Nachmittag? Sie bewegt sich so.
Es gibt eine Form von Gedächtnisschwund, die fängt mit Wörtern an, die lose von Zahndamm zu Zahndamm zittern. Äpfel haben ein Eigenleben; schneidet man sie, dann springen sie gern hinter Möbelstücke. Sie wiegt die Luft in ihren Händen, die sprachlos war; warum sollte man sie sich auch anders vorstellen? Man hat genug abstrakte Areale durchschifft: Stunden, Anfänge, Jahreszeiten, Lebensalter, Treppen, Wochenenden, Denkmäler. Sie sitzt auf ihren zwei Knochen und zieht das Fleisch darunter hervor. Hast du dich jemals an einen Türrahmen gelehnt, mit rotem Kleid, eisigen, eisblauen Augen? Sie lacht. Die Nachbarn lieben Süßes. Aber sie hört auf, Ratschläge zu geben, als ihr erster Zahn in den Devil’s punch fällt. Ein Kind nach dem anderen schneit ihr ins Haus; ihre Taille ist nie wieder wie einst. Und doch gleicht sie immer noch den Hollywood-Diven aus den Fünfzigern, mit kessen Brüsten und molligem Grinsen. Das Rauschen des Wasserturms schläfert