Crazy Love. Eva Kah

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Crazy Love - Eva Kah


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drauflägen. Aber ich war so gut drauf, dass ich den lästigen Patienten einfach nicht böse sein konnte. Nicht nach den achtzehn Zentimetern!

      Ich war sogar zu dem arroganten alten Herrn nett, der jetzt mit einem Beckenbruch im ehemaligen Zimmer der El-Fayyad residierte und dem angeblich eine der größten deutschen Technikfirmen gehörte. Seine genaue Patientenakte war für uns tabu. Für uns Schwestern und die Pfleger war er nur „der Herr S.“ Den Beckenbruch hatte sich der Herr S. beim Golfen geholt, und nun durfte er sich für sechs Wochen nicht bewegen. Das ist bei Brüchen in dieser Körperregion so üblich. Man kann einem ja schlecht den ganzen Arsch eingipsen. Da gibt es selbst in einer Spitzenklinik wie unserer bei allem medizinischen Fortschritt keine Alternative – wer sich den Allerwertesten bricht, muss sich einfach so lange hinlegen, bis alles wieder zusammen gewachsen ist. Die Klinik ist dann nur dazu da, den Heilungsprozess zu überwachen. Großartig unterstützen können wir ihn nicht.

      Der alte Herr S. allerdings dankte uns Schwestern nicht wirklich dafür, dass wir bereit waren, ihn sechs Wochen gepflegt herumliegen zu lassen. Er war nicht direkt unfreundlich, aber extrem wortkarg, misstrauisch und grundsätzlich schlecht gelaunt. Meiner Meinung nach hätte er sich auch einfach zuhause in seiner Villa hinlegen können, denn einer wie er verfügte sicher über genügend Personal, um alle Viere in der gewohnten Umgebung gerade sein zu lassen. Nichts war ihm gut genug, weder das Essen noch der Kaffee, obwohl wir ihm extra eine spezielle italienische Espressomaschine aus seinem Privatbesitz ins Zimmer gestellt hatten. Eine Spezialanfertigung der Rancilio Silvia mit eingraviertem Familienwappen und vergoldetem Tassenwärmer. Sozusagen die protzige große Schwester von meinem Wolfgang.

      In meiner nicht enden wollenden Doofheit hatte ich das zu Anfang seines Aufenthaltes auch noch ausgeplaudert. Ich hatte ihm gesagt, ich wäre eine Art Hobby-Barista. Seither wollte der Herr S. nur noch von mir betreut werden, weil angeblich niemand sonst mit dem edlen Maschinchen umgehen konnte. Ich durfte ihm dann einen Espresso nach dem anderen zubereiten, pünktlich zu jeder vollen Stunde einen, aus ganzen Bohnen, die immer frisch gemahlen werden mussten. Wenn ich frei hatte und an meiner Stelle jemand anderer die heilige Silvia bediente, gab es nur Ärger. Meine Kolleginnen hatten mir erzählt, dass er sogar einmal einen Notizblock nach Vroni geworfen hatte, weil sie den Milchaufschäumer zu weit nach vorne gebogen und den falschen Knopf gedrückt hatte.

      Aber mir gegenüber taute der Herr S. langsam auf. In den letzten Tagen hatten wir uns beinahe ein wenig angefreundet. Er sah mich wohl als eine Seelenverwandte in Sachen Espresso. Normalerweise lag er nur schlecht gelaunt da und starrte auf sein superteures Notebook, doch wenn ich hereinkam, legte er das Ding weg. Während er sein Tässchen schlürfte und ich die Maschine ein bisschen polierte, teilte er sogar sein Fachwissen mit mir. Welche Bohnensorte auf welchem Boden die besten Ergebnisse brächte, wie man Kaffeebohnen am besten pflückte und zu welcher Jahreszeit man diese Bohnen dann trocknen und verschiffen sollte, damit sie in nahezu unveränderter Qualität bei uns einträfen.

      „Ja, ja, den Kaffee-Anbau muss man leider am anderen Ende der Welt betreiben. Da genügt die deutsche Tüchtigkeit nicht. Das können nicht einmal die Schweizer“, seufzte er gerne.

      An diesem Tag war aber alles anders als sonst. Nachdem ich mit einem fröhlichen „Guten Morgen, Herr S.!“ das Zimmer betreten und die Fenster zum Lüften geöffnet hatte, wollte ich gleich die Kaffeemaschine einschalten. So konnte sie schon etwas warm werden, während ich mich um die Tablettenkontrolle und die Cortisonspritze kümmerte.

      Doch als ich mich summend zur heiligen Silvia wandte und die Hand nach ihr ausstreckte, zischte mich ihr Besitzer an.

      „Finger weg!“

      Ich war ganz verwirrt. „Haben Sie denn heute keine Lust auf Kaffee, Herr S.?“

      „Doch“, entgegnete er mit verschlossener Miene. „Aber von so einer Drecksschlampe wie Ihnen will ich gar nichts mehr annehmen. Ich möchte, dass Sie mir nie wieder unter die Augen treten. Und jetzt raus mit Ihnen, aber sofort!“

      Sein Wunsch war mir Befehl. Ich verließ das Zimmer und marschierte leicht verstört zur Stationsleitung, die an diesem Tag Astrid innehatte.

      „Der Herr S. will mich nicht mehr sehen und sofort von jemand anderem bedient werden. Ich weiß zwar nicht, warum ich in Ungnade gefallen bin und er mich plötzlich als Drecksschlampe bezeichnet, aber vielleicht fällt dir ja jemand Neutrales ein. Jemand, den er bisher noch nicht zusammengefaltet hat.“

      „Puh, wird schwierig mitten in den Pfingstferien“, seufzte Astrid,ruckelte an ihrer Lesebrille und wandte sich dem Dienstplan zu. „Ah, wir haben Glück. Der Ivan hat heute noch Kapazitäten.“

      Oh ja, dachte ich und ging schmunzelnd davon. Die hat er allerdings. Aber vielleicht nicht mehr ganz so viele wie vor zwei Stunden...

      Ich arbeitete in anderen Zimmern der Station weiter und dachte mir erstmal nicht viel dabei. Jeder hat mal einen schlechten Tag, und ich hatte halt mal den vom Herrn S. erwischt.

      Doch mit der Zeit schmerzte mich der Gedanke an das verlorene Vertrauen immer mehr. Besonders weh tat die Enttäuschung, die ich in den Augen von Herrn S. gesehen hatte. Ein so feiner, kultivierter Mensch, und der wollte nichts mehr mit mir zu tun haben. Warum denn? Etwa, weil er mir mein unzüchtiges Verhalten in der Besenkammer irgendwie angesehen hatte? Oder gar gehört…?

      Oh, oh! Wie mir in diesem Moment siedend heiß bewusst wurde, lag die Besenkammer tatsächlich direkt neben seinem Zimmer. Der Herr S. hatte wahrscheinlich wirklich etwas gehört. Und zwar wie die nette Schwester, die ihm immer den Espresso machte, es sich so richtig besorgen ließ. Gott, wie peinlich! In seinen Augen war ich tiefer gesunken als die Titanic, und das gerade in dem Moment, in dem er mir zaghaft etwas Vertrauen zu schenken begann. Leute wie er waren nicht an die Spitze der Gesellschaft geraten, weil sie so hemmungslos in der Gegend herumvögelten. Leute wie er besaßen etwas, das ich offensichtlich nicht mal mehr vom Hörensagen kannte: Selbstkontrolle.

      Ich schämte mich. Darüber würde ich ein bisschen länger nachdenken müssen. Gleich nach der Arbeit radelte ich direkt, noch im Kasack, auf Susi in den Ostpark.

      6

      Fliegedings

      Wenn man auf der für mich schönsten Bank im ganzen Ostpark sitzt – die zweite von links hinter der japanischen Brücke, gleich neben diesem romantischen Tümpel – hat man einen guten Blick auf die Wohnsilos von Neuperlach Süd. Das lässt sich gar nicht vermeiden. Wie ein Rudel gigantischer Duplosteine stehen sie da herum, einer grauer als der andere. Aus der Perspektive meiner Lieblingsparkbank werden die Hochhäuser nicht von den sanften, bewaldeten Hügeln des Parks verdeckt, sondern eher noch betont. Sie sind weit genug weg, um keine interessanten Details mehr preis zu geben, aber noch nahe genug dran, um den halben Horizont einzunehmen. Ein lieblich grüner Bilderrahmen für die grässlichsten Buden von ganz München.

      In dem Tümpel, der wohl ursprünglich als Idyll mit Schwänen geplant war, leben seit Jahren nur noch Algen. In dem neongrünen Wasser kann man große Schwaden aus Enten- oder Fischfutter erkennen. Ein paar trotzige Omas werfen das immer wieder von der japanischen Brücke aus hinein, obwohl für jedermann mit weniger als acht Dioptrien Kurzsichtigkeit sonnenklar ist, dass selbst die hungrigste Ente dieser Welt keine Schwimmhautspitze in diese Brühe stecken würde, geschweige denn ihren Schnabel. Das Wasser bildet leuchtende kleine Bläschen und es stinkt. Es reicht fast bis an die Beine der Bank.

      Trotzdem ist es meine Lieblingsparkbank. Denn weil sie eben mit dieser Aussicht und dieser Brühe geschlagen ist, bin ich dort fast immer allein. Die anderen Bänke im Ostpark sind gut besucht – vormittags Rentner, nachmittags trinkende Jugendliche, nachts Penner oder übrig gebliebene Jugendliche. Aber auf die Bank am Stinketümpel setzt sich keiner, man könnte ja hinein fallen.

      Immer wenn es in meinem Leben etwas nachzudenken gibt, komme ich hier her. Das mache ich schon seit meinem ersten Jahr in München so. Als ich meine Ausbildung antrat und der Tümpel noch ein tapferes Entenpaar beherbergte, hatte ich noch keine Wohnung mit Balkon. Um ehrlich zu sein, hatte ich das erste Jahr nur ein Zimmer zur Untermiete in einem dieser grauen Duplosteine von Neuperlach.


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