Das Geheimnis des Medaillons. Marie Louise Fischer

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Das Geheimnis des Medaillons - Marie Louise Fischer


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mit dem seltsamen Mädchen Undine geschildert hatte, »der Herd ist noch warm.« Sie öffnete die Klappe. »Ja, tatsächlich: der Torf brennt noch, als wenn vor nicht allzu langer Zeit neu aufgelegt worden wäre. Das ist sonderbar. Soll ich den Patienten fragen?«

      »Lassen Sie nur, das mache ich selber.« Dr. Hagedorn ging zu Tede Carstens in die Kammer, weckte ihn. Es dauerte eine Weile, bis er ihm klargemacht hatte, wer er war und was er wollte. »Wo ist Undine?« fragte er dann. »Wir suchen sie, wir wollen sie ebenfalls mitnehmen.«

      Er spürte, daß der alte Mann seine Frage verstand, bekam aber keine Antwort. Da reichte er ihm Undines Rechnungsheft, das er aufgeschlagen auf dem Tisch gefunden hatte, und den Bleistiftstummel. »Bitte, schreiben Sie auf, was Sie wissen!« drängte er.

      Es dauerte lange, fast unerträglich lange für Dr. Hagedorns Ungeduld, bis Tede Carstens seine Antwort auf Papier gebracht hatte. Als er den Bleistift sinken ließ, riß er ihm fast das Heft aus der Hand. »Ich habe geschlafen«, las er, »ich weiß es nicht.«

      »Aber hören Sie mal, Sie müssen doch wissen …«, wunderte sich die Schwester.

      »Lassen Sie. Es ist zwecklos«, wehrte Dr. Hagedorn ab. »Entweder er weiß es nicht, oder er will es uns nicht sagen. Wir dürfen ihn nicht quälen.«

      »Na, dann können wir wohl?« fragte der Fahrer, der neben der Tragbahre stand und unberührt von dem, was die anderen bewegte, eine Zigarette rauchte.

      »Ja. Ich helfe Ihnen«, sagte der Arzt.

      Sie stellten die Trage neben das Bett, hoben den Kranken behutsam darauf.

      Die Schwester hatte den Koffer gefunden, den Undine für ihren Pflegervater gepackt hatte. »Ich denke, er gehört ihm«, sagte sie, öffnete den Deckel und prüfte den Inhalt. »Tatsächlich. Nehmen wir ihn mit.« Den Koffer in der Hand, folgte sie langsam den beiden Männern, denen es nur mit Mühe gelang, die Trage waagrecht die steile Treppe zur Haustür hinunterzubekommen.

      Dann lief sie voraus, öffnete die Türen des Transportwagens.

      Der Fahrer kletterte hinauf, und gemeinsam schoben sie die Trage hinein. Anschließend setzte sich der Fahrer ans Lenkrad. Die Schwester blieb hinten bei dem Kranken.

      Nur Dr. Hagedorn stand noch unschlüssig da, so, als wollte er versuchen, mit dem bloßen Auge die Dunkelheit zu durchdringen.

      Dann legte er beide Hände wie einen Schalltrichter an den Mund und rief: »Undine! Undine!« Nach einer kleinen Pause, in der ihm nicht einmal ein Echo Antwort gab, noch einmal: »Undine!«

      Undine hörte das Rufen.

      Sie hatte sich, seit sie in panischer Angst vor dem vermeintlichen Geist des Jakobus Schwenzen geflohen war, in den Dünen verborgen gehalten. Nun beobachtete sie von ihrem Versteck aus die Vorgänge beim alten Leuchtturm.

      Es war nicht viel, was sie sah – die Scheinwerfer des Krankenwagens und das blaue Warnlicht auf seinem Dach, die Lichter im Leuchtturm, die angingen und nach einer guten Weile wieder erloschen, und den Schein einer Taschenlampe, der über den Boden huschte.

      Sie war überzeugt, daß Dr. Hagedorn die Polizei zum alten Leuchtturm geführt hatte, die sie, die Mörderin, festnehmen wollte. Sein Rufen hatte in ihren Ohren keinen besorgten, sondern vielmehr einen drohenden Klang. Zitternd vor Angst preßte sie sich noch enger auf den Boden.

      Endlich schlugen die Autotüren zu, und der Wagen setzte sich in Bewegung.

      Jetzt erst, da sie ihn versorgt wußte, konnte sie daran denken, was mit ihr selber geschehen sollte. Sie brauchte nicht lange zu überlegen. Für sie gab es nur einen Weg: Flucht.

      Sie ging ins Haus, nahm ihr Bündel, das sie in einer alten Truhe verwahrt hatte, öffnete es noch einmal und legte ihr fest zusammengerolltes Sonntagskleid dazu, zog ihre Strickjacke an und darüber den Wettermantel ihres Vaters, band sich ein Tuch fest um das schwarze Haar. Das Sparkassenbuch hatte sie ihrem Pflegevater in den Koffer gesteckt, sie selber hatte nur die paar Mark, die vom Haushaltsgeld in ihrer Börse geblieben waren.

      Sie verließ das Haus und rannte den Strand entlang, bis sie zu der kleinen Bucht kam, wo die Fischerjungen den Sommer über ihre Ruderboote liegen hatten. Sie hatte Glück. Die meisten Jungen hatten ihre Boote rechtzeitig vor dem Unwetter eingeholt, aber eines war in der Bucht zurückgeblieben. Jetzt lag es kieloben auf dem Schlick. Es dauerte eine Weile, bis Undine es wieder herumgedreht hatte. Dann brachte Undine das Boot zu Wasser, zog Schuhe und Strümpfe aus, warf sie hinein, ihr Bündel dazu. Dann hob sie mit der linken Hand den Rock hoch, watete, das Boot vor sich herstoßend, bis das Wasser tiefer wurde.

      Als sie endlich im Boot saß und die Riemen ins Wasser gleiten ließ, schloß sie für ein paar Sekunden die Augen. Der gefährlichste Teil der Flucht war geglückt, obwohl sie noch um die Insel herumfahren mußte, ehe sie die Richtung zum Festland einschlagen konnte.

      Mit kräftigen, sicheren Schlägen glitt sie das Ufer entlang. Sie achtete genau auf den Abstand. Sie mußte sich vorsehen, um nicht ins offene Meer hinausgetrieben zu werden.

      Sie brauchte kaum eine halbe Stunde, um das Festland zu erreichen. Nachdem das Boot aufgelaufen war, warf sie Schuhe, Strümpfe und ihr Bündel aufs Trockene. Dann stieg sie aus, gab dem Boot einen kräftigen Stoß, damit es in eine Strömung geriet und vom Land forttrieb. Nun erst watete sie aus dem Wasser.

      Zur Rechten und Linken des schmalen Pfades, den sie gewählt hatte, lag die Marsch, dem Meer abgewonnenes Land. Es bot einen eintönigen Anblick. Nur hier und da erhoben sich Werften, zum Schutz gegen die Wassergefahr aufgeworfene Erdhügel, auf denen niedrige Häuser standen. Nirgends war ein Licht zu sehen. Alle Menschen, außer ihr selbst, schienen zu schlafen. Endlich erreichte sie die Geest, das höher gelegene Land hinter der Marsch, und sah rechter Hand einen stattlichen Hof, dessen Eingang von einer mächtigen Eiche überschattet wurde. Mondschein spiegelte sich in den Fensterscheiben, hinter denen die Lichter erloschen waren.

      Undine blieb stehen, von einem seltsamen Gefühl berührt. Ihr war, als hätte sie dies alles schon einmal gesehen – vor langer, langer Zeit oder in einem anderen Leben. Alles schien ihr irgendwie vertraut. Selbst Einzelheiten, wie die eisernen Ringe links und rechts neben der Haustür, kamen ihr seltsam bekannt vor, obwohl sie auf der Insel dergleichen nie gesehen hatte.

      Ein überwältigendes Glücksgefühl ergriff sie. Aber es verging so schnell, wie es gekommen war. Plötzlich schien alles wieder fremd und kalt. Undine fühlte sich verlassener denn je. Sie schauderte vor Kälte, taumelte vor Müdigkeit, spürte, daß sie sich nicht länger auf den Beinen halten konnte.

      Als sie um das langgestreckte Haus herumging, schlug ein Hund an, riß klirrend an seiner langen Kette. Aber sonst regte sich nichts.

      Ein gutes Stück vom Hof entfernt stand eine Scheune. Sie öffnete die Tür, tastete im Dunkeln, fand eine Leiter und kletterte hinauf. Sie kroch, um warm zu werden, tief in das Heu hinein, ihr Bündel immer krampfhaft in der Hand haltend, um es nicht zu verlieren.

      ›Nur ein paar Stunden‹, dachte sie, ›dann bin ich wieder frisch. Bevor die Sonne aufgeht, muß ich weiter.‹

      Sie wagte nicht, die Augen zu schließen, wollte sich nur ausruhen.

      Aber sie war eingeschlafen, noch ehe der Hund aufgehört hatte zu bellen.

      Gregor Ostwald, der Verwalter des Harmshofes, erwachte von dem Gebell. ›Er kläfft nur den Mond an‹, dachte er flüchtig und wollte sich auf die andere Seite drehen. Aber so schnell, wie er gehofft hatte, kam der Schlaf nicht wieder, und das Gebell wollte nicht aufhören.

      Der Verwalter setzte sich auf, lauschte. Hassan bellte zwar manchmal in der Nacht, wenn ein Fremder vorbeiging oder eine neue Magd sich spät in ihre Kammer schlich, aber doch nie so lange. Das mußte etwas zu bedeuten haben.

      Noch einen Augenblick wartete der Verwalter ab, ob nicht auch Iven, der Großknecht, Anstalten machte, nach dem Rechten zu sehen. Aber da nichts dergleichen geschah, beschloß er, selber hinunterzugehen. Zwar dachte er nicht an Einbrecher, aber der Bauer und seine Frau waren alt und kränklich, und sie würden es sehr übel vermerken,


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