WILDER FLUSS. Cheryl Kaye Tardif

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WILDER FLUSS - Cheryl Kaye Tardif


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deinem Herzen, Delly. Und denke daran … nur einem

      Die Wachmänner schleiften ihn halb in den Aufzug.

      »Professor Schroeder!«, schrie sie. »Von was reden Sie da?«

      Seine müden braunen Augen loderten auf. Wild und ungezähmt, wie bei einem Fuchs, der in der Falle sitzt.

      »Es steht alles im Buch. Zerstöre die Zelle, Delly. Finde den Fluss und halte den Direktor auf, bevor er die Menschheit vernichtet.«

      Die Türen des Aufzugs schlossen mit einem zischenden Geräusch.

      Del lehnte sich gegen die Wand vor ihrem Klassenzimmer. Ihre Beine schmerzten und zitterten. Als alles vor ihr zu verschwimmen begann, schloss sie ihre Augen und hieß die Dunkelheit willkommen.

       Sie werden ihn töten, Delly.

      War ihr Vater wirklich noch am Leben?

      Jemand nannte ihren Namen. Peter.

      Er stand neben ihr und hielt etwas gegen seine Brust gedrückt. Was es auch immer war, er hielt es so fest, als lägen die Schätze der ägyptischen Pharaonen in seinen Händen.

      »Das hat er fallen lassen«, sagte er und reichte ihr ein Buch. »Danach hat der alte Kerl gegriffen. Sind Sie in Ordnung, Professor?«

      Sie nickte. »Bis morgen, Peter.«

      Del kehrte in den leeren Hörsaal zurück, zog die Tür fest hinter sich zu und schloss ab. Sie schaffte es gerade noch durch den Raum, bevor ihre Beine unter ihr nachgaben. Sie ließ sich auf einen Stuhl fallen, atmete ein paar Mal tief durch und griff dann nach dem ledergebundenen Buch, das Peter ihr gegeben hatte.

      Der Einband war verschmutzt und ging stellenweise ab. Er war völlig leer, bis auf ein leicht erhabenes Symbol, das man nur schlecht erkennen konnte.

       Ein Kreuz vielleicht.

      Sie zeichnete das Symbol mit dem Finger nach.

       Professor Schroeder, was ist Ihnen nur zugestoßen?

      Arnold Schroeder war ein renommiertes Anthropologie-Genie. Wann immer er Dels Vater besucht hatte – und er hatte ihn oft besucht – hatte er Del unter seine Fittiche genommen und ihr etwas Neues beigebracht. Er war der Grund, weshalb sie an der University of British Columbia Anthropologie lehrte. Schroeder war ihr Vorbild gewesen.

       Nach Dad natürlich.

      Del schlug das Notizbuch so vorsichtig auf, dass ihre Fingerspitzen es kaum berührten. Sie blätterte durch die Seiten, las hier und da ein paar Sätze und versuchte, aus Schroeders Notizen schlau zu werden. Die meisten der Einträge im Notizbuch schienen in einer Art Code geschrieben zu sein und es war fast unmöglich, sie zu entziffern. Gerade wollte sie das Buch wieder niederlegen, als ihr ein Name auf einer der Seiten ins Auge sprang.

       Dr. Lawrence V. Hawthorne.

      Direkt unter den Namen ihres Vaters war ein Datum gekritzelt.

       Januar 2001.

      Ihre Hand begann zu zittern.

       2001?

      Sie riss eine Schublade auf und wühlte darin herum.

      Schließlich fand sie, wonach sie gesucht hatte – ein Foto, das sieben Jahre zuvor, 1998, aufgenommen worden war. Es zeigte ihren Vater und Professor Schroeder Seite an Seite in Jeans, T-Shirts und mit albernen Fischerhüten. Sie hatten ein ansteckendes Grinsen auf den Gesichtern, als ob sie über irgendeinen Insiderwitz lachten. Das Foto wurde am selben Tag aufgenommen, an dem ihr Vater, Schroeder und zwei Mitarbeiter zum Abenteuer ihres Lebens aufgebrochen waren.

      Im Sommer ’98 schlug ein neuer Praktikant bei Bio-Tec Kanada, dem Unternehmen, für das auch Dels Vater tätig war, eine Raftingexkursion auf dem Nahanni River in den Northwest Territories vor. Der Praktikant machte es ihrem Vater mit alten Legenden über unentdecktes Gold und kopflose Skelette und Leichen, die die Flussufer säumten, schmackhaft. Ihren Vater packte die Vorstellung, einen der spektakulärsten Orte Kanadas zu erforschen, und er überzeugte Schroeder und seinen Chef, sie zu begleiten.

      Drei Tage später verschwanden die vier Männer spurlos.

      Ein Suchtrupp wurde den Nahanni hinuntergeschickt und die Ermittler fanden ein paar Meilen weiter flussabwärts von Virginia Falls ein kopfloses Skelett. Der Großteil der Gebeine war von wilden Tieren abgefressen worden und die Knochen waren stark verwittert, doch ein Forensikexperte konnte die Leiche identifizieren.

      Es war Neil Parnitski, Geschäftsführer von Bio-Tec Kanada.

      Von Dels Vater jedoch fehlte jede Spur … so auch von den anderen Männern.

      Eine Woche später fand das Suchteam ein blutiges Hemd am Ufer sowie Kopfhautgewebe an einem unweit davon gelegenen Felsen. DNA-Tests ergaben, dass ein Großteil des Blutes ihrem Vater zugeordnet werden konnte, während das Gewebe von Schroeder stammte. Die Ermittler betonten auch, dass aufgrund der erheblichen Menge Blutes, die gefunden wurde, nicht einmal ein Arzt ohne medizinische Hilfe hätte überleben können. Sechs Monate später waren die Ermittlungen eingestellt worden und der letzte Vermisste für tot erklärt.

      Del strich über das Foto ihres Vaters.

       Sie werden ihn töten, Delly.

      Schroeders Worte hallten in ihrem Kopf wider und sie konnte das beklemmende Gefühl einfach nicht abschütteln, das ihr allmählich unter die Haut kroch und jede Zelle ihres Körpers packte. Sie starrte durch das Fenster in den dunkelnden Nachthimmel und dachte an den Tag, als ihre Mutter ihr die Nachricht überbrachte, dass ihr Vater, nur wenige Monate nach seinem Verschwinden, für tot erklärt worden war. Sie erinnerte sich an die Beerdigung eine Woche später zurück, wie sie im strömenden Regen vor einem schwarzen, gähnenden Loch stand, und ein leerer Sarg in den schlammigen Boden gesenkt wurde. Die Beerdigung hatte nur drei Tage vor ihrem fünfundzwanzigsten Geburtstag stattgefunden – ein Geburtstag, der ohne großes Trara gekommen und wieder gegangen war.

      Del hatte danach nie wieder irgendeinen ihrer Geburtstage gefeiert. Zu viele Erinnerungen.

      Nun, da sie das Foto ihres Vaters anstarrte, kamen all der Schmerz und die Trauer, die sie sieben Jahre zuvor gefühlt hatte, mit voller Wucht zurück.

       Sie werden ihn töten, Delly.

      ***

      Es war bereits nach acht, als Del an ihrem kleinen Zuhause in Port Coquitlam ankam. Sie parkte ihr Auto unter dem Carport, nahm ihre Aktentasche und ging ins Haus.

      »Schatz, ich bin zu Haaause!«

      Eine übergewichtige, braun melierte Siamkatze mit nur einem Ohr schoss wie ein Pfeil auf sie zu und rieb sich ungeduldig mit einem schwermütigen Miauen an ihrem Bein.

      »Oh, Kayber! Tu nicht so, als würde ich dich nie füttern!«

      Del hatte die Katze fünf Monate zuvor in ihrem Garten gefunden. Voller Prellungen und Kratzwunden, und mit einem rechten Ohr, das nur noch an einem dünnen Stück Haut gehangen hatte, machte er den Eindruck, als wäre er in eine Kneipenschlägerei verwickelt gewesen – und hätte den Kürzeren gezogen. Sie hatte ihn vom Fleck weg adoptiert, wobei sie sich aber oft die Frage stellte, ob es nicht eher umgekehrt der Fall war.

      Sie warf ihre Aktentasche auf das Sofa, ging in die Küche, streute etwas Katzenfutter in einen Napf und stellte ihn auf den Boden. Dann nahm sie auf dem Sofa Platz, stocherte in den Überresten eines Makkaroniauflaufs herum und schlürfte eine Tasse Vanilletee.

      Ihr Blick wanderte über die Fotos auf dem Sims ihres Ziegelkamins und zahlreiche Erinnerungen schossen ihr durch den Kopf. Erinnerungen an gute Zeiten, glückliche Zeiten. Zeiten, als ihr Vater noch am Leben war; bevor er verschwand und eine gähnende Leere in ihrem Leben hinterließ.

      Sie stellte den halb leer gegessenen Teller Makkaroni auf den Couchtisch, zog das Notizbuch aus ihrer Aktentasche und fing an, es durchzublättern.


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