WILDER FLUSS. Cheryl Kaye Tardif

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WILDER FLUSS - Cheryl Kaye Tardif


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Mund klappte auf. Grundgütiger!

      Er ließ sie los und plötzlich fühlte sie sich kälter.

      »Nun, äh … Danke für, äh, fürs Auffangen.«

      Sie hätte sich ohrfeigen können. Noch dämlicher hätte sie wohl nicht klingen können?

      Tiefblaue Augen wanderten über sie.

      »Gern geschehen.«

      Wie hypnotisiert starrte sie ihm nach, als er wegging. Dann hielt sie auf den Aufzug zu, trat hinein und sah den Mann von dort aus erneut. Er stand am Empfang. Kurz bevor sich die Aufzugtüren schlossen, und kurz bevor ihre brodelnden Hormone überzukochen drohten, drehte er sich noch einmal um und zwinkerte ihr zu.

      Leise fluchend, trommelte sie auf den Knopf zum zweiten Stock – der geschlossenen psychiatrischen Abteilung der Klinik. Als sie am Zimmer der Oberschwester ankam, musste sie ein Formular ausfüllen und wurde durch eine verschlossene Doppeltür begleitet.

      Die Schwester legte Del eine Hand auf den Arm. »Ich möchte Sie vorwarnen, Miss Hawthorne, wir mussten ihm ein Beruhigungsmittel verabreichen. Als er eingeliefert wurde, hatte er Halluzinationen … und starke Schmerzen.«

      Als Del Professor Schroeders Zimmer betrat, war Mr. Groß, Dunkel und Ach-so-sexy schlagartig vergessen. Der Raum wurde nur von einem kleinen Nachtlicht in der hintersten Ecke spärlich beleuchtet. Jemand hatte die Vorhänge einen Spalt aufgezogen, doch das machte keinen Unterschied. Draußen hielt der schwarze Sturmhimmel die Sonne in Schach und entfesselte seinen Zorn.

      Schroeder lag da, die eine runzelige Hand am Bettgitter festgebunden, die andere in dicke Bandagen gehüllt. Ein Infusionsschlauch verlief von seiner Hand zu einem Beutel mit klarer Flüssigkeit, der an einem Ständer hing, und neben seinem Bett befand sich ein Herzmonitor, der gleichmäßig piepte.

      Del beobachtete die Ausschläge.

      Schroeder war immer noch am Leben.

      »Professor?«

      Er rührte sich nicht.

      Sie trat näher ans Bett heran und hielt erschrocken inne.

      Arnold Schroeders Gesicht war massiv gealtert. Die Haut unter seinem Kinn hing in schlaffen Falten über seinen Hals. Jeder Zentimeter seiner fleckigen Haut war hutzelig und schuppig, die Lippen spröde und rissig.

      Nur einen Tag zuvor in ihrem Hörsaal hatte der Mann noch wie siebzig ausgesehen.

      Nun sah er aus, als ginge er auf die Neunzig zu. Auf den Tod.

       Was konnte nur passiert sein, weshalb er so rapide alterte? Progeria?

      Del fasste nach vorne und strich Schroeder das Haar aus dem Gesicht. Als sie ihre Hand wieder zurückzog, gingen die Haare auch mit. Entsetzt schüttelte sie das Büschel von ihren Fingern in den Mülleimer neben dem Bett.

      Schroeder öffnete langsam seine wässrigen Augen.

      »Sie sind im Krankenhaus«, erklärte sie und streichelte ihn am Arm.

      »Delly?«

      »Ich bin hier, Professor.«

      »Ach komm, ist es nicht langsam an der Zeit, dass du mich Arnold nennst?«

      Seine Frage endete mit einem heiseren Hustenanfall.

      Del griff nach einem Glas Wasser, das einsam auf einem Tablett stand, und führte den Strohhalm an seinen Mund. Der Anblick seines blutigen Zahnfleisches und der fehlenden Zähne erschütterte sie.

      Nach ein paar schwachen Schlückchen schob er das Glas samt Dels Hand beiseite.

      »Hast du es gefunden, Delly?«

      »Das Notizbuch? Ja.«

      »Es steht alles darin. Alles, was du wissen musst. Folge deinem Herzen. Finde zuerst den Schlüssel. Erzähle aber niemandem davon, Delly! Wenn die Polizei erfährt, dass dein Vater immer noch am Leben ist, werdet ihr beide in Gefahr schweben.«

      Er stöhnte vor Schmerzen auf, als ein starker Krampf seinen Körper beutelte.

      Del ergriff seine Hand. »Soll ich die Schwester rufen?«

      »Nein, für mich ist es zu spät. Es ist nur noch eine Frage der Zeit. Du aber, Delly … du musst gehen. Finde den Schlüssel.«

      Er hustete schwerfällig und spuckte Blut.

      »Drehe jeden noch so kleinen Stein um. Vergiss … das nicht. Nimm … Ker … gan …«

      Plötzlich raste der Herzmonitor los und ein schriller Alarm setzte ein.

      Del musste hilflos zusehen, wie sich jeder Muskel in Schroeders Körper krampfhaft zusammenzog. Die Adern auf seiner Stirn und an den Schläfen traten gefährlich hervor, seine Augen rollten zurück in die Höhlen und er stieß einen entsetzlichen Schmerzensschrei aus. Dann kollabierte er – stumm, regungslos.

      Eine groß gewachsene asiatische Ärztin hetzte in den Raum, gefolgt von zwei Männern, die einen Notfallwagen schoben.

      »Es tut mir leid, aber ich muss Sie bitten, jetzt zu gehen.«

      Dels Puls raste, als sie auf den Flur hinaustrat. Sie lugte durch das kleine Fenster in der Tür, während die Ärztin die Kontakte des Defibrillators über Schroeders nackte Brust hielt. Als sein Körper sich in Reaktion auf den Strom durchbog, wich Del vom Glas zurück.

      Niedergeschlagen und schweren Schrittes ging sie zu einem kleinen Sitzbereich und beobachtete die anderen Besucher, die mit sorgenvollen Gesichtern darauf warteten, Neuigkeiten über ihre Angehörigen zu erfahren. Wie sie Krankenhäuser nur hasste! Sie verabscheute den Geruch von Krankheit und Tod; von Verfall. Genauso das ständige Herumstochern und -fummeln von Ärzten und Krankenpflegern. Und die endlosen, lästigen Untersuchungen.

      Oh ja, sie war mit Krankenhäusern aufs Engste vertraut.

      Sie schüttelte ihren Kopf.

      Keine Zeit für Selbstmitleid. Sie musste jetzt an Schroeder denken … und ihren Vater. Etwas Furchtbares war ihnen zugestoßen, und Del war entschlossen, es herauszufinden.

      Die Ärztin trat aus dem Zimmer des Professors und steuerte mit einem entschuldigenden Ausdruck auf Del zu.

      »Gehören Sie zu Arnold Schroeder?«

      Del schwieg.

      »Ich bin Dr. Wang. Wir konnten ihn vorerst stabilisieren, doch ich muss Ihnen sagen – ich denke, dass es nur noch eine Frage der Zeit ist.«

       Genau, was Schroeder gesagt hat.

      »Ein Spezialist ist bereits auf dem Weg. Genau genommen ist er vor etwa einer halben Stunde angekommen.«

      Del war entrüstet. Wieso dauert das dann so lange?

      Dr. Wang lächelte plötzlich. »Ah, da ist er ja. Entschuldigen Sie mich.«

      Der Spezialist stand dort am Schalter und wandte seinen Kopf. Del erkannte ihn sofort wieder.

      Der Mann aus dem Foyer.

      Dr. Wang begrüßte ihn, sie wechselten ein paar Worte und die Ärztin schüttelte den Kopf. Minuten später verschwanden sie in Schroeders Zimmer.

      Dels Entrüstung schlug in Zorn um.

      Mr. Groß, Dunkel, Ach-so-sexy und Egoistisch hatte sich alle Zeit der Welt gelassen. Er hätte nach Schroeder sehen sollen, anstatt mit ihr zu flirten.

      Sie verließ das Krankenhaus, war stocksauer und enttäuscht.

      Wegen des attraktiven Spezialisten … und sich selbst.

      ***

      Eine Stunde später saß sie in ihrem Wohnzimmer mit Lisa.

      Lisa Shaw war seit der Highschool ihre beste Freundin gewesen. Sie waren wie Schwestern, auch wenn Lisa in fast jeder Hinsicht das komplette Gegenteil von


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