WILDER FLUSS. Cheryl Kaye Tardif

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WILDER FLUSS - Cheryl Kaye Tardif


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zu sein. Man denke nur, wie lange sie gebraucht hatte, um zu erkennen, das TJ sie betrog. Er war in ihr Haus und ihr Herz gezogen … und hatte beide betrogen.

      Niemals würde sie den Tag vergessen, als sie früher nach Hause gekommen war, mit schmerzenden Füßen und sich nach ihrem Bett sehnend – nur, um vorzufinden, dass es schon anderweitig belegt war.

      Ihre Nachbarin, Julie Adams, hatte immer gefragt, ob denn wohl die Gerüchte wahr seien, die sich um die Libido eines schwarzen Mannes und die Größe eines ganz bestimmten Teiles seiner Anatomie rankten. Tja, sie hatte es herausgefunden.

      Del hatte TJ noch am selben Tag vor die Tür gesetzt.

      Mit einem Schulterzucken schüttelte sie die düstere Stimmung ab, die sie zu überkommen drohte, und tätschelte Kayber flüchtig am Kopf. Mit dem Notizbuch und ihrer Aktentasche in den Händen begab sie sich in ihr großes, zweites Schlafzimmer, das gleichzeitig als Büro diente. Sie knipste die Lampe an und wurde sogleich von einem Berg Sommerabschlussprüfungen begrüßt, die danach riefen, benotet zu werden.

      Sie stießen jedoch auf taube Ohren. Del schob sie zur Seite, öffnete ihre Aktentasche und zog ein leeres Notizbuch heraus. Ganz oben auf die erste Seite schrieb sie sich eine Erinnerungsnotiz:

       Herausfinden, wo Schroeder ist. Ihn besuchen!

      Dann versuchte sie sich daran, Schroeders Notizbuch zu übersetzen.

      Eine Stunde später gab sie schließlich auf, die hastig gekritzelten Notizen und seltsamen Zahlen zu entschlüsseln. Als sie nach der Korrektur ihrer Examen schließlich ins Bett schlüpfte, war es bereits nach Mitternacht.

      Schatten tanzten durch das Zimmer, als sie im Dunkeln lag und sich ihren Vater so vorstellte, wie sie ihn in Erinnerung behalten hatte. Groß, mit goldbraunem Haar und tiefbraunen Augen. Er war immer fröhlich, hatte immer ein Lächeln auf den Lippen.

      Sie schloss ihre Augen, die Wimpern feucht von unvergossenen Tränen.

       Ich komme, Dad.

      Kapitel 2

      Als sie früh am nächsten Morgen die UBC betrat, grüßte Del den Wachdienst und ging den Flur hinunter. An der Tür zu ihrem Hörsaal hantierte sie mit ihrer Aktentasche und nestelte am Schlüssel.

      »Del!«

      Sie fuhr auf dem Absatz herum und wurde von Phoebe Smythe, Präsidentin der Universität, begrüßt. Phoebe war eine große, attraktive Frau mit Haaren wie dunkle Schokolade – bis auf eine schneeweiße Strähne, die aus ihrem Haaransatz spross.

      »Ich habe gerade davon gehört«, sprach Phoebe und strich sich besagte Strähne hinter das Ohr. »Kann ich irgendetwas tun?«

      »Was schon? Gegen die Tatsache, dass ein lieber Freund, von dem wir alle gedacht hatten, er sei tot, aus dem Grab wiederauferstanden ist und felsenfest behauptet, dass mein Vater noch am Leben ist …?«

      »Oh Gott! Von Arnold habe ich gehört, aber ich wusste nichts von deinem Vater. Alles in Ordnung bei dir?«

      Del zuckte mit den Schultern. »Wird schon. Erst einmal muss ich mit Professor Schroeder sprechen. Weißt du, wo er ist?«

      »Sie haben ihn ins Riverview Hospital gebracht. Er ist in keinem guten Zustand, Del.«

      »Was haben die Ärzte herausgefunden?«

      Phoebe tätschelte ihren Arm. »Er leidet an einer sehr ungewöhnlichen Form von Progeria.«

      »Beschleunigtes Altern? Aber von Progeria sind doch für gewöhnlich nur Kinder betroffen!«

      »Das ist ein Rätsel, so viel ist sicher.«

      »Nun, das erklärt zumindest, weshalb ich ihn nicht erkannt habe. Trotzdem macht es keinen Sinn. Selbst mit Progeria dürfte er nicht so alt aussehen.«

      »Sie lassen einen Spezialisten kommen, Del. Jemanden aus der Stadt. Progeria und Werner-Syndrom sind unter anderem gefallen … sie wissen es wirklich nicht sicher. Worüber sie jedoch einer Meinung sind, ist Arnolds Denkvermögen. Es ist irreparabel geschädigt.«

      »Du meinst also, er könnte es erfunden haben? Das mit Dad?«

      Phoebe steckte Del einen kleinen Notizzettel zu. »Ruf im Krankenhaus an. Sag ihnen, du gehörst zur Familie. Arnolds Frau ist nach London gezogen und seine Söhne sind beide verheiratet und wohnen in einer anderen Provinz. Du bist die Einzige, die er noch hat.«

      Als sie wieder alleine im Hörsaal war, rief Del das Riverview an und traf Vorkehrungen, um kurz vor vier bei Schroeder zu sein.

      Das würde noch ein langer Tag werden.

      ***

      »Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Anthropologie das Gesamtbild zu verstehen sucht, wenn es um die Erforschung des Menschen – des Homo sapiens – geht«, referierte Del vor ihrem Sommerkurs. »Als Anthropologen werden Sie geografischen Raum und evolutionäre Zeit untersuchen, um die menschliche Existenz begreifen zu können. Anthropologie ist eine einzigartige Mischung aus Folklore und gewöhnlicher Wissenschaft. Sie umfasst die Evolution von Sprache und die mikroskopischen Killerkrankheiten, die ganze Bevölkerungen ausgelöscht haben.«

      Sie warf einen Blick auf die Uhr. »Das war’s. Genug für heute.«

      »Mr. Cavanaugh, alles in Ordnung wegen gestern?«, erkundigte sie sich bei Peter, als er vorbeihuschte. »Wegen des alten Mannes im Hörsaal?«

      »Ich habe gehört, er ist ein Freund von Ihnen.«

      »Er … ist ein Freund meines Vaters.«

       Obwohl er mein Großvater sein könnte, so wie er aussieht.

      Der junge Mann verlagerte den Laptop und die Bücher in seinen Armen. »Wird er wieder?«

      »Ich hoffe es.«

      Nachdem Peter gegangen war, blickte sie aus dem Fenster.

      Es regnete.

       Vancouver – die Stadt des Regens.

      Für Del war es das perfekte Wetter, um in der Vergangenheit zu graben. Das perfekte Wetter, um den Toten noch mal einen Besuch abzustatten. Oder eben den nicht ganz so Toten.

      ***

      Als Del das Gelände des Riverview Hospital erreichte, hatte ein frühsommerliches Unwetter seinem Zorn über Vancouver freien Lauf gelassen und die Straßen unter Wasser gesetzt. Sie bog in den Besucherparkplatz ein, löste am Automaten ein Ticket und hielt Ausschau nach einer freien Parklücke. Als sie durch den Haupteingang hastete, wurde sie vom rutschigen Boden des Krankenhauses überrascht. Sie schlitterte über die glatten Fliesen – direkt in die Arme eines äußerst gut aussehenden Fremden.

      »Huch! Aber hallo!«, bemerkte er und schenkte ihr ein umwerfendes Lächeln.

      Der Mann, der sie aufgefangen hatte, war in einen sportlichen Anzug gekleidet. Wäre es nach Del gegangen, hätte er aber auch genauso gut nichts anhaben dürfen. Sein dunkelbraunes Haar war nach hinten gekämmt, bis auf eine freche Locke, die über eine seiner wohlgeformten Augenbrauen hing. Er hatte ein markantes Gesicht mit einer kräftigen Kinnpartie und lächerlich hohen Wangenknochen. Sein Bart an Oberlippe und Kinn war kurz rasiert – eine Art Fünf-Uhr-Schatten-Look.

      Del gefiel es trotzdem. Gott, was konnte einem an diesem Kerl nicht gefallen?

       Wenn er mich jetzt loslässt, schmelze ich auf den Boden.

      »Sorry. Ich … ich bin ausgerutscht.«

      »Na, zum Glück war ich zur Stelle, um Sie aufzufangen.«

      Seine Stimme war warm und einladend wie gutes Essen.

      »Ja, zum Glück …«, murmelte sie verlegen.

      »Krank sehen Sie aber nicht gerade aus.«

      »Ich,


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