Der flammende Sumpf. Rudolf Stratz

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Der flammende Sumpf - Rudolf Stratz


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keine Erwiderung.

      Die Krasnopolska schaukelt mit den tänzerisch gekreuzten Füssen.

      „Wie kann man sich seinen Pass stehlen lassen? Warum nicht gleich Ihren Kopf? Aber das lohnte dem Dieb nicht! Mein Gott — wie soll man da noch Russland in Ordnung halten?“

      Sie seufzt, als sei sie Mitglied des Ministerkonseils, und bietet mir aus ihrem Karton mit Zuckerfrüchten an.

      „Nehmen Sie ruhig! Man versucht zuweilen, mich zu vergiften. Aber man hat kein Glück. Ich esse nie Konfitüren oder Obst, das man mir zuschickt — nur, was ich durch meinen Kammerdiener irgendwo an der Polizeibrücke oder an der armenischen Kirche vom Ladentisch holen lasse . . . Sie haben keinen Appetit? . . . Das glaube ich — wenn man mit einem Fuss schon in der Stadthauotmannschaft zum Verhör steht! . . . Eine schöne Geschichte . . . Damit haben Sie ein für allemal Igre Petersburger Karriere ruiniert!“

      „Dann kann ich ja also gehen!“ sage ich mühsam und will mich erheben. Sie halt mich zurück.

      „Warten Sie, bis ich Sie entlasse! Man glaubt immer, ich könne zaubern!“ Die Krasnopolska sieht mich strafend an. Ihr Gesicht hat den Ausdruck einer gereizten kleinen Katze. „Wie denken Sie sich denn das eigentlich? Einen zweijährigen Auslandspass in zwei Stunden aus dem Boden stampfen — mit allen Spuren des Gebrauchs — mit verblasster Tinte — mit sämtlichen Grenzvermerken und auslänischen Polizeistempeln — Schweiz — Deutschland — Frankreich — und ganz frisch noch von gestern die Eintrittsbescheinigung in Wirballen? Kann denn das ein Sterblicher? Verfügen wir denn hier über Hexenmeister? Urteilen Sie selbst!“

      Ich stehe verwirrt auf. Verstört. Ich begreife jetzt selbst Papa nicht mehr, wie er, der Weltkundige, derlei für möglich halten konnte! Ich sehe ein: da ist keine Hoffnung . . . Ich beuge mich über die Hand der Krasnopolska.

      „Ich danke Ihnen, dass Sie mich empfingen!“ sage ich leise und will gehen. Sie lacht hell auf.

      „Warten Sie! Ich gebe Ihnen noch ein Andenken mit!“

      Die Krasnopolska kramt umständlich, absichtlich langsam, mit vor Heiterkeit zusammengebissenen Lippen und einem schlangengeschmeidigen, vor Lachen zuckendem Körper in ihrem Réticule — holt ein Spitzentaschentuch heraus, ein Puderdöschen, einen kleinen mit Gold eingelegten Revolver, ein Glücksamulett: ein Stückchen groben, gefaserten, fingerdichen Baststrick — wahrscheinlich von irgendeinem nächtlich drüben in Schlüsselburg Gehängten — und dann — ich traue meinen Augen nicht: einen Pass. Einen richtigen Pass. Einen Auslandspass auf meinen Namen.

      „Da — armer Junge!“ sagt sie. „Und sei künftig vorsichtiger!“

      Ich durchblättere den Pass. Alles, aber auch alles, stimmt!

      Einen Augenblick habe ich die Hoffnung, es sei mein wirklicher, ursprünglicher, wieder zur Stelle gebrachter Pass. Aber auf der neunten Seite fehlt der mir wohlbekannte Daumenabdruck eines französischen Zollbeamten — auf der elften Seite der Einriss in das Papier oben. Nein. Es ist ein neuer, lächerlich ähnlicher Pass. Selbst meine vergilbte Unterschrift ist täuschend nachgemacht — offenbar auf Grund meines alten Passantrags vor zwei Jahren, der noch bei der Polozei ruht.

      „Sie sehen, was wir können, wenn wir uns für unsere Freunde Mühe geben!“ versetzt Hesie Krasnopolska. „Wir verfügen über Meister in unserem Fach. Diesmal trieb ich sie an, ihr Bestes zu tun! Wegen Ihres Vaters. Grüssen Sie ihn von mir und bestellen Sie ihm, ich hätte bei Gelegenheit irgendeinen grossen Gegendienst bei ihm gut! Wie oft brauche ich Krankheitsatteste für unsere Würdenträger, die ins Ausland, in deutsche Bäder reisen wollen und keinen Urlaub dorthin bekommen!“

      Jetzt schüttele ich Hesia Krasnopolska wirklich herzlich, wortlos vor Dankbarkeit, die dünnen Diamantenfinger, statt meine Lippen darauf zu pressen. Sie lacht. Sie gibt mir einen Klaps auf die Schulter.

      „Sie sind noch sehr jung!“ sagt sie, eigentlich wohlgefällig. „Gott helfe Ihnen weiter. Gute Nacht!“

      Ich setze den Fuss, im Begriff mich zurückzuziehen, auf die Schwelle zu dem vordersten Empfangsraum und pralle im selben Augenblick wieder erschrocken in das rückwärtige Zimmer zurück und zur Seite. Vom Eingang her kommt wuchtigen Schritts über den weichen Teppich ein breitschultriger, mittelgrosser, russischer General in Grüner Uniform mit goldenen Fangschnüren, dunklen Pluderhosen, kniehohen Stiefeln. Er ist zu jung für einen gewöhnlichen General. Erst Ende der Dreissig. Er hat kurzes, aufrechtes, dunkles Haar und buschige Brauen über den dunklen, finsteren Augen. Ein dunkler, kurzer Vollbart umrahmt das gebräunte, herrische, echt russisch geschnittene Gesicht mit den brutal aufgeworfenen Lippen. Ich erkenne mit Entsetzen: Es ist der Grossfürst Oleg selbst . . .

      Hinter ihm tänzelt verstört der hebräische Kammerdiener, Hesias Bruder. Er gibt mir verzweifelte Winke, zu verschwinden — nach hinten — nach dem Offenen Seitenkabinett hinaus. Aber ich kann es nicht mehr erreichen. Ich stehe vorn, in dem Winkel hinter der Tür, und den Grossfürst tritt schon über die Schwelle. Er ist offenbar unerwartet früh zum Besuch bei der Krasnopolska gekommen. Man hielt die Räume für leer. Man hat keine Zeit mehr, mich zu entfernen . . .

      Die Bewegung, mit der der Grossfürst sich ohne weiteres als Hausherr in den nächsten Sessel setzt, ist schwer und wuchtig. Seine Stimme grollt im Kellerbass eines Kirchensängers. Seine Worte rollen langsam und nachdräcklich in hartem Russisch.

      „Ich möchte solch eine Bitte wie heute wegen dieses Passes von dir nicht wieder hören!“ sagt er schroff statt jeder Begrüssung zu der Krasnopolska. „Welche Umstände, weil ein leichtsinniger junger Sperling irgendwo seinen Pass hat leigen lassen! Wozu ist die Stadthauptmannschaft da? Ich befahl das Nötige nur, weil er der Sohn dieses Deutschen — diese Küster ist . . .“

      „Er hat das Glück, vor Eurer Kaiserlichen Hoheit zu stehen!“ versetzt die Krasnopolska, in die Fügung des Schicksals ergeben, und weist in meine Ecke. Ich verbeuge mich tief und stumm. Der Grossfürst muster mich überrascht, mit gefurchter Stirn.

      „Und was tust du hier?“

      „Ich statte meinen Dank ab, wegen des Passes — meinen alleruntertänigsten Dank“, füge ich hastig hinzu.

      Der Vetter des Zaren, Befehlshaber über Tausende von Gardetruppen, blickt mich immer noch düster unter seinen buschigen Augenbrauen an. Er sitzt da wie ein verkörpertes Stück Asien. Sein barscher Gesichtsausdruck wird milder. Er scheint sich wieder zu erinnern, dass ich der Sohn seines Leibarztes bin. Er nennt mich plötzlich „Sie“.

      „Wie lange waren Sie im Ausland?“

      „Zwei Jahre, Kaiserliche Hoheit. In fast ganz Europa.“

      „Danken Sie Gott, dass Sie Europa sehen durften!“ Der Grossfürst geht plötzlich in ein leichteres, immer noch dunkel gefärbtes Französisch über. „Man ist bei uns in Russland erst Mensch, wenn man den Westen kennt!“

      Bei ihm, dem treuesten Sohn der orthodoxen Kirche, der ragenden Säule der Moskauer Panslawisten, verblüfft mich dieses offenherzige Wort. Er fährt fort:

      „Wir brauchen diese Bildung des Auslands. Auch ich besitze sie. Wir brauchen sie als Russen, um ihr zu widerstehen! Benutzen Sie diese Bildung, aber bringen Sie sie nicht nach Russland! Denn für Russland ist sie Gift.“

      Ich stehe vor dem Grossfürsten. Neben seinem Sessel steht die Kransnopolska. Der finstere General räuspert sich.

      „Ich sage Ihnen das als dem Sohn und, wie ich von Ihrem Vater höre, dem künftigen Gehilfen meines Arztes, der das Vertrauen, das sein Vater geniesst, sich erst verdienen muss!“

      „Um dies Vertrauen zu rechtfertigen“, der Bass des Grossfürsten dröhnt aus tiefster Brust, „muss man echter Russe sein. Behalten Sie das Gift der Aufklärung für sich, wie ich es für mich behalte! Die russische Seele ist ein Ding für sich! Sie passt nicht zu Europa. Europa macht sie zweispältig und krank. Der wahre Feind Russlands ist jener mattherzige Teil der russischen Gesellschaft, der die Institutionen des Auslandes an Russland anlagen will. Diese Menschen ziehen die Pfeiler fort, auf denen Russland ruht. Sie züchten, ohne es zu wollen,


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