Der flammende Sumpf. Rudolf Stratz
Читать онлайн книгу.an ie Gurgel springen, ihn würgen, ihm in das kleine, weisse, fanatische Antlitz schreien: „Gib mir meinen Pass zurück!“ An der Tür mahnt vorwurfsvoll Mama:
„Aber so komm doch! Es sind alle Verwandten da, um dich zu sehen. Onkel Pauluscha, Polgers — Beate Stichling — Annette Kosiakow mit ihrem Mann. Dein Vetter Sacha!“
Ich nehme resigniert zwischen den Verwandten Platz. Um mich lärmt die Tafelrunde. Onkel Pauluscha Katsch, der irgendwo a draussen eine Gummigaloschenfabrik betreibt, hält ein Stück geräucherten Sigifisch auf der Gabel und schreit:
„Um heutzutage in Russland Geschäfte zu machen, muss man Däne sein! Überall protegiert die Zarin Dagmar ihre Landsleute!“
„Ihre Majestät wird übermorgen ganz bestimmt persönlich den Wohltätigkeitsbasar im Patriotischen Institut eröffnen!“ ruft Tante Annattchen. Neben ihrem Mann, dem berühmten Professor der Medizin Kosiakow, Papas Kollegen, der sich als Vollblutrusse schweigsam mit der eigegen Gabel die kalten Bissen von der allgemeinen Platte nimmt, sitzt Mama und meldet:
„Lisa hat sich verlobt! Denke dir: mit einem Odessiten! Mit einem gewissen Dargens, einem Schweizer von Geburt!“
Und Pastor Polger von der lutherischen Petersburger Matthäuskirche, berichtet von seinem Sohn:
„Eduard besucht jetzt die Bergakademie!“
Um mich schwatzen sie von der italienischen Oper im Saal des Konservatoriums, von der Schlittschuhbahn im Jussupow-Garten . . . Schiffers lassen sich scheiden . . . Plötzlich frage ich brüsk, aus meinen Gedanken heraus:
„Und was machen die Terroristen?“
„Pscht! Pscht! Onkel Genje — eigentlich Heinrich Stichling —, schnalzt missbilligens mit der Zunge. Der alte Junggeselle besitzt eine grosse Apotheke auf dem Newski-Prospekt. „Rede mir von allem! Nur nicht von Kronsangelegenheiten!“
Und der einzige Träger einer russischen Linienleutnantsuniform am Tisch, mein Vetter Sascha von Etwein vom Revaler Armeekorps, warnt schnell und leise:
„Verbrenne dir nur nicht den Mund!“
Wieder Familiengesimpel und Newa-Tratsch um mich. Ich bin still. Dann rücke ich meinen Stuhl.
„Ich höre draussen Papas Stimme!“ sage ich. „Vielleicht braucht er mich!“
Kaum, dass ich auf dem Flur stehe, tritt der Vater der Lüge lautlos und behutsam, von Papas hoher, geschmeidiger Erscheinung gefolgt, aus dessen Arbeitszimmer. Er sieht jetzt viel wohler aus als vorhin. Sein leises, trockenes Französisch hat einen Anflug von Wärme.
„Ein Viertelstündchen mit Ihnen, mein lieber Professor, und man fühlt wieder neue Kräfte! Glauben Si emir: das sind bei mir immer nur kurze Schwächeanwandlungen! Gleich nachher weiss ich wieder, was ich dem Zaren un der russischen Gesellschaft schuldig bin!“
Boris Tschurin hat offenbar jetzt noch allerhand geheime Haussuchungen und Verhaftungen vor. Er hüstelte unternehmend. Seine dünnen Lippen sind zäh zusammengekniffen. Ein unheimliches Lächeln zuckt in ihren Winkeln . . . Ich möchre heute nacht nicht der Gegenstand seiner Aufmerksamkeit in Petersburg sein.
Nun will er Papas Rezept in seinem Portefeuille aus rotem Juchten bergen. Runzelt betroffen die Stirne: In der Brieftasche steckt ein Stück Papier, das er offenbar nicht kennt. Er muster es. Entfaltet es vorsichtig. Liest. Taumelt . . .
„Hohe Exzellenz . . . Was ist Ihnen?“ Papa beugt sich über Tschurin. Der kleine, kränkliche Herr ist auf den nächsten buntlackierten Beuernstuhl im Flur gesunken. Er schluchzt grell auf, in ganz hellen, sonderbaren Tönen, fast wie ein Kind. Er halt mit abgewandtem Haupt Papa das Blatt hin.
„Wissen Sie, was das ist, Professor? Mein Todesurteil! Irgens jemand aus meiner nächsten Umgebung muss es vorhin, als ich von zu Haus wegfuhr, mir in meine Brieftasche gesteckt haben!“
Papa halt seinem Patienten ein Ätherfläschchen unter die kolbige Nase. Das belebt den wachsgelb erbleichten Vater der Lüge. Er legt sein Todesurteil mit spitzen, langnägeligen, zigarettengelben Fingern umständlich wieder dahin, wo er es gefunden, in die Brieftasche zurück, und hebt den Glatzkopf. Aber sein altes Fuchsgesicht ist verfallen. Er steht mühsam mit Hilfe meines Vaters auf.
„Sie sehen mich erschöpft!“ sagte er leise zu ihm. „Glauben Sie mir: es ist nicht die Furcht! Ich kenne keine Furcht. Jede Stunde könnte ich meinen Abschied erbitten und in der Krim, unter den Tataren, in einem Orangenhain, meine Pension verzehren. Ich tue es nicht. Ich stehe wie ein Soldat auf dem Posten. Aber wenn ein Soldat fühlt, dass der Freund neben ihm sein Feind ist — dass unter den paar Menschen auf Erden, denen man noch vertraut, irgendwo, dicht neben einem, unsichtbar ein Verräter steckt — wie soll man da noch seine Pflicht tun? Herr . . . erbarme dich meiner!“
Die ganze Zeit wird französisch gesprochen. Stumm, kein Wort begreifend, steht der Diener und hält den verschnürten Pelzmantel zum Anziehen bereit. Der ofenheizer wartet mit der Lammfellmütze. Ein Zimmermädchen kniet mit den Galoschen am Boden. Der Oberdwornik hat die Flurtüre geöffnet. Auf den Treppenabsäten stehen die Hausknechte. Unten, im Flur und durch das offene Haustor bis auf den Bürgersteig hinaus, die Geheimpolizisten. Alles ist bereit, Seiner Hohen Exzellenz das geleit bis zum Wagen zu geben, hinter dem unauffällig, in einiger Entfernung, ein zweites Gefährt mit Gendarmerieoffizieren in Zivil wartet. Die Nacht draussen ist tief dunkel. Sturmstösse heulen vom fernen Finnischen Meer her, die Newa-Ufer entlang. Man hört noch hoer, mitten in der Stadt, ihr Stöhnen über das freie, riesige Marsfeld und den Michaelsgarten bis zu uns her. Unser Besucher zögert. Er fröstelt. Es ist, als ob er — der furchtbare Boris Tschurin — plötzlich vor der Nacht da draussen und ihren Geheimnissen bangte . . . Dann raft er sich zusammen.
„Wie denn? Wer will mir Rapport erstatten?“ fragt er barsch.
„Der Gendarmeriekapitän Gejkin, Eure Hohe Exzellenz!“ meldet zitternd der Diener. „Er wartet im Vorzimmer!“
Boris Tschurin trippelt hinein. Gleich darauf steckt er seinen fahlen Ziegenbart wieder durch den Türspalt und winkt uns, ihm zu folgen. Innen wendet er sich an einen jungen energischen Mann mit schwarzem Schnurrbart in Schirmmütze und hechtfarbenem Mantel.
„Wiederholen Sie den Herren Ihren Bericht!“ befiehlt er schroff. Der Offizier gehorcht mit einer sichtlichen Überwindung.
„Die Frauensperson, die gestern nacht im Gymnasiastenuniform die Wirballener Grenze überschritt und in Pskow aus dem Zug flüchtete, wurde heute abend gegen sieben Uhr hier in Petersburg, in Wassilij Ostrow, gesehen, wie sie in Frauenkleidern von Smolensker Friedhof her in einem Iswoschtschik den Kleinen Prospekt hinabfuhr. Ein Geheimpolizist erkannte sie beim Schein einer Strassenlaterne als die . . .“
„Heraus mit der Sprache . . .“ herrschte Seine Hohe Exzellenz kalt und trocken.
„Ich höre! . . . erkannte sia als die polizeilich gesuchte Senatorentochter Ljuba Borissowna Tschurin! Da er zu Fuss und keine Droschke in der Nähe war, konnte sie ihm entkommen!“
„Aber nicht mehr für lange!“ Exzellenz Tschurin reicht meinem Vater und mir seine Totenhand. „Die Entscheidung rückt mit Riesenschritten heran. Von allen Seiten ergänzen sich die Meldungen, dass man im Lager der Verbrecher zu einem seit Jahren nicht dagewesenen Schlag ausholt! Nun — man soll mich kennenlernen! Ich bin auf dem Posten! . . . Wie?“ Er schnaubt einen die Treppe hinaufgeeilten, bärtigen Menschen in Kleinbürgertracht an. „Die Schurken, die vorhin beim Justizminister auf mich schossen, sind entkommen? Immer entkommen sie euch! . . . Man wird euch noch in den Bergwerken verrecken lassen, ihr räudigen Schweine! Weg mit dir, du Sohn einer Hündin . . . Nun . . .“ Er lächelt höflich: „Gute Nacht, mein teurer Professor! Gute Nacht, mein junger Freund!“
Papa hat den hohen Besuch selbst hinab auf die Strasse bis zum Wagen geleitet. Er kommt zurück. Er steigt die Stufen nicht so elastisch wie sonst. Er ist bleich und erschüttert.
„Und sie hat deinen Pass . . .“ sagt er zu mir. Weiter nichts.
Und dann — sich verstört mit der schönen, weissen Hand