Panik in Odessa. Rudolf Stratz

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Panik in Odessa - Rudolf Stratz


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sich an, rüttelten noch einmal. Der Körper da unten gab willenlos nach. Antoschka, der Geheimagent, beugte sich über das gelbliche Antlitz, aus dessen Haarwildnis eine mächtige Geiernase vorsprang, er schaute prüfend in die Augen unten, die nicht wie im Schlaf geschlossen, sondern gläsern starr und offen waren. Er richtete sich auf und sagte in seinem weichen, leisen Stimmklang:

      „Aber wie denn? Er ist ja tot!“

      „Tot?“ Die Gendarmen standen mit offenem Mund.

      „Tot!“

      Darauf war eine kurze Stille.

      Haja Perlstein stedte ihre Hände zwischen die Zähne und biss sich krampfhaft auf die Finger, um nicht aufzuschreien. Ihr magerer Busen flog in ungläubigem Schrecken. Ihr geschmeidiges Körperchen zitterte vor Entsetzen über den Mord. Antoschka, der Geheimagent, mass sie mit einem mitleidigen Blick.

      „Das wundert dich noch?“ sprach er. „Spiele du nur Komödie wie im Adelsgarten in Odessa! Deswegen wird man dich doch aufknüpfen!“

      Die beiden Gendarmen hatten sich stumm bekreuzigt. Dann befühlte der eine die graubehaarte Faust des Toten, die sich in der Seidendecke eingekrallt hatte, und murmelte:

      „Er ist noch warm!“

      „Vor ganz kurzer Zeit hat ihn Gott abgerufen!“ Antoschka bückte sich und beschaute das starre Antlitz da unten, das einem grimmen Hohenpriester Israels aus dem Alten Testament glich. „Bemerkt das aufgedunsene Gesicht! Die vorgequollenen Augen! Eine Spur Blut, Brüder, am rechten Mundwinkel!“

      Er schlug den grauen Bart mit der Hand nach oben, so dass der Hals des Toten freilag. „Da seht: Im Schlaf erdrosselt . . . ..“

      Tiefe Würgemale zeichneten sich wie zwei talergrosse bläuliche Teller zu den beiden Seiten des Kehlkopfes ab. Der Agent der Ochrana legte sorgfältig wieder den Bart darüber und richtete sich auf.

      „Er ist der erste nicht!“ versetzte er. „Was, Goldhändchen?“

      Haja Perlstein stiess einen weinerlichen Schrei aus. Es klang wie das Wimmern einer geängstigten Katze. Der bleiche blondbärtige Antoschka fasste ihre bebende kleine magere Rechte, hob sie empor, betrachtete sie, liess sie wie einen wertlosen Lappen wieder fallen und schüttelte den Kopf.

      „Mit diesen Fingerchen ist es nicht geschehen!“ Er wandte sich streng zu der jungen Jüdin. „Gestehe: Wer war der rotbärtige riesige Barfüssler, mit dem ich dich noch auf der vorigen Station im Wagen dritter Klasse da nebenan zusammensah?“

      „Ein Freund von mir aus Odessa!“ stammelte Haja. „Ein Sackträger im Praktischen Hafen!“

      „Wie heisst dieser Sohn des Teufels?“

      „Morduch Izaaks, Euer Wohlgeboren! Aber auch er ist unschuldig wie ein Kind!“

      „Wir wollen dieses Kind festnehmen, ehe es auf der nächsten Station aussteigt!“ sagte Antoschka. „Dich wird man vorläufig in dem leeren Abteil vorn im Wagen einsperren! Du . . .“, er wandte sich zu den beiden Gendarmen, „hältst drinnen bei ihr Wacht, damit sie nicht durch das Fenster klettert! Und du bleibst hier stehen und sorgst, dass niemand zu dem toten Kaufmann da drinnen eintritt!“

      Antoschka, der Geheimagent, stiess die Aussentüre des dahinrollenden Wagens auf. Draussen war stockdunkle Sturmnacht. Schräg gepeitschte Regengüsse klatschten ihm ins Gesicht. Unter ihm donnerte der Bahnkörper, während er die lebensgefährliche Kletterei über die dröhnenden und schaukelnden Puffer zum nächsten Wagen unternahm, dort die Türe aufriss und sich hineinschwang.

      In der verpesteten Stickluft von Ofenglut, Menschenbrodem, Leder- und Schafpelzbunst, Zwiebelgeruch, Zigarettenrauch winkte er zwei Gendarmen, die stumm, die Revolver über die Mäntel geschnallt, an der Wand des Seitengangs lehnten.

      „Im dritten Abteil sitzt er? Gut! Macht auf! . . . . Steh auf, du Judassohn, wenn man mit dir spricht!“

      Das Abteil war voll von allerlei Volk. Von der Holzbank erhob sich langsam ein hünenhafter Hebräer mit rotem Haarschopf und langem, wirrem rotem Bart. Es schien, als wollte er kein Ende nehmen. Er wuchs weit über den Geheimagenten und die Gendarmer hinaus. Es war, als sei Simson unter den Philistern wieder auferstandert, so riesig stand er da, breitbeinig auf knochigen blossen Füssen, die mächtigen Hände in dem Ledergurt, der den zerlumpten, aus einem alten Kohlensack gearbeiteten Kittel umschloss.

      „Zeige deinen Pass! Wahrhaftig: Du hast einen!“ Der Agent Antoschka blätterte. „Du bist Morduch Izaaks, Obmann einer Genossenschaft hebräischer Kohlen- und Getreidesackträger im Hafen! Warum bist du nicht dort?“

      „Ich sah mich hier für unsere Gemeinschaft nach Arbeit auf einer der Stationen um. Überall wird Weizen für den Krieg in der Türkei eingeladen!“

      „Und bei dieser Gelegenheit hast du den reichen Kaufmann in der ersten Klasse ermordet?“

      „Wie denn, Herr?“ Der rote Riese hob voll Staunen und Abscheu die hornigen Handteller gegen den Polizeiagenter.

      „ . . . und bist dabei offenbar gestört worden! Denn du bist auf der letzten Station hierher zurüdgekehrt und hast Haja Perlstein beauftragt, das Werk zu vollendert und den Toten zu berauben! Oh, lüge nicht! Ich selbst habe euch beide hier im Gang beisammenstehen sehen!“

      „Wie sollten wir nicht? Aber . . . .“

      „Aber den Wagen hat dieser Hebräer nicht verlassen!“ sprach ein alter, schmutziger Dorfpope, der in einer Ecke des Abteils sass. Ein bärtiger Altgläubiger neben ihm ergänzte in tiefem Bass:

      „Wenn er auch Christus gekreuzigt hat — der Wahrheit die Ehre!“

      „So ist es!“ sagte ein schlitzäugiger tatarischer Stationskellner neben ihm. Zwei Kaukasier schüttelten heftig die hohen schwarzen Fellmützen auf ihren bräunlichen Köpfen als Zeichen: Nein. Der Hebräer stieg nicht aus!

      „Ihr hört, Herr . . .“, sprach Morduch Izaaks fast drohend. Er hatte grobe, finstere Züge und einen unheimlichen Blick. Man konnte ihn jedes Verbrechen zutrauen. Der Agent Antoschka überschaute das Abteil: ein Pope, ein Altgläubiger, ein Tatar, zwei Georgier — was war auf das Gerede dieses Häufleins Armseliger zu geben? Wer von ihnen fürchtete sich nicht, wenn er sprach, vor der Rache des Riesen und seiner Spiessgesellen?

      „Man wird eure Namen aufschreiben und euch als Zeugen vernehmen!“ sagte er verächtlich und dann barsch zu den Gendarmen: „Sowie der Zug jetzt hält, führt ihr diesen Menschen in den nächsten Militärwagen und bewacht ihn dort gut!“

      Es war auf der Steppenstation das übliche nächtliche Getümmel von grauen Soldatenmänteln und gelben Schafpelzen der Bauern und bunten Kopftüchern der Weiber, die harte Eier und Wassermelonen feilhielten, und grünen Uniformen der Beamten — das alles in unstätem Schein von Handlaternen, in der grossen russischen Stille, in der die Menschen sich wie stumme Schatten bewegten.

      Nur einer schrie durch Sturm und Regen vom finsteren Himmel, dass alles sich neugierig um ihn drängte. Vier Gendarmen hatten Mühe, den baumlangen Morduch Izaaks zu bändigen und ihn durch die Menge zu einem Wagen voll Kosakenpferden zu schleppen. Er schlug mit Bärenkraft um sich und zeterte dabei in seltsam hohen klagenden Fisteltönen. Er verfluchte auf hebräisch seine Bedränger und rief die Rache Jahves auf sie nieder, und um ihn grinsten die Uralkosaken und halfen deri Gendarmen, den strampelnden roten Riesen zu den struppigen Gäulchen in den Wagen hineinzustossen.

      Einer von ihnen prallte dabei in dem Geraufe an einen Herrn vom langen, dünnen Wuchs der vornehmen Petersburger Welt, der, das Genfer rote Kreuz auf der weissen Armbinde und über dem Schirm der weissen Mütze, mit zwei dampfenden Teegläsern vom Stationsbüfett kan und Mühe hatte, nichts zu verschütten. Es war ein Mann zu Mitte Dreissig mit einem dunkeln Schnurrbart in dem länglichen, blassen Gesicht. Er ging suchend an dem Wagen erster Klasse entlang. Er frug den Oberkonduktor des Zugs:

      „Belieben Sie: In diesem Wagen soll sich doch Seine Exzellenz General Schischko vom Stab des Feldintendanten für die Truppenversorgung befinden?“

      „Ein


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