Panik in Odessa. Rudolf Stratz

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Panik in Odessa - Rudolf Stratz


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Türe war geschlossen. Avrom Ruben war allein. Starr und feierlich sass er da. Der Morgenschein umfloss sein grimmes, bleiches Moseshaupt. Er hatte die Augen geschlossen. Er sah nicht mehr gleichgültigen Blicks vorn im Zug die Soldaten, von denen bald viele, dank ihm, nicht mehr am Leben sein würden. Er hörte nicht mehr die Flüche der Krieger, die im Schnee des Balkans merkten, dass ihre Stiefelsohlen aus Pappe waren, nicht mehr das Stöhnen der Fiebernden, denen das Chinin nichts half, weil es aus Gipsstaub mit Bitterwurzelpulver bestand, nicht mehr die Hilferufe der Verwundeten, denen die aus Packpapier statt aus Leinen gefertigten Verbände den Blutstrom nicht stillten. Unbewegt, wie er im Leben gewesent, fuhr er Odessa und der Ewigkeit zu.

      Vor dem Abteil standen noch Schischko und Minde. Der General schüttelte unruhig den Kopf.

      „Sie sind scharfsinnig! Man sieht es Ihnen an!“ sagte er zu dem jungen Mann. „Bitte — belehren Sie mich: Wir haben als Täter eine Handvoll Gesindel. Einen liederlichen Lappen vom Sobranje-Varieté in Odessa, einen Barfüssler aus dem Hafen, vielleicht noch ein paar Sackträger, Hebräer, Tataren und derlei. Wie ist es möglich“, die stämmige, bärtige Exzellenz hob bedeutungsvoll den Zeigefinger, „dass diese Anwärter auf den Galgen und die Bergwerke nicht sofort nach den Rubeln griffen, die Ruben mit sich führte, sondern nach seinen Papieren?“

      „Jedenfalls sind die Papiere weg!“ versetzte Paul von Minde und schwieg wieder.

      „Aber wohin?“ General Schischko stiess aufgeregt einen Qualm Zigarettenrauch durch die breiten Nasenflügel. „Erbarmen Sie sich: Wohin?“

      „Schliesslich wird der Oberpolizeimeister von Odessa die Verbrecher schon zum Reden bringen?“ Der junge Mann sah gleichgültig an der Exzellenz vorbei in die Weite hinaus.

      Es war ganz heller Tag geworden. Regenüberströmt dehnte sich draussen die unermessliche Weizenebene Südrusslands, nicht weiss wie im Winter, nicht grün wie im Frühling, nicht gelb wie im Sommer, sondern jetzt im Herbst zu fast schwarzen, fetten Erdschollen umgeadert. Mächtige silbergraue Steppenrinder mit weiten Gabelhörnern zogen da und dort noch die vorsintflutlichen flachen Holzpflüge. In der Ferne rauchte der aus Deutschland bezogene Dampfdressass eines grossen Guts. Auf dem planlosen Geschlängel der Landwege rollten die Krummholzwägelchen deutscher Kolonisten mit Getreidesäden. Wie schwarze Vogelscheuchen standen schon mitten auf der Steppe in wehenden Kaftanen als Vorposten der Odessaer Getreidebörse die jüdischen Kommissionäre, um den russischen Bauern noch vor der Stadt ihren Weizen abzuschwatzen. Am sturmgrauen Horizont schwankten die Lanzen trabender Kosaken. Sie sollten den Steppenschacher hindern und kamen gegen eine Handvoll Kopeken immer zu spät.

      Fräulein Nadeschda Schischko und der Fürst Peter Duchowskoi hatten die ganze Zeit zehn Schritte abseits von dem Todesabteil in den Wagengang gestanden. Der elegante, schmalbrüstige Petersburger mit der Rote-Kreuz-Binde am Arm sagte böse:

      „Für eine Freiwillige Krankenschwester sind Sie recht weltlich, Nadeschda Basilewna!“

      „Was habe ich verbrochen?“. Die junge Pflegerin hob harmlos ihr weiches rundes, von dem weissen Häubchen umrahmtes Antlig zu ihm empor.

      „Ich beobachte Sie seit einer Viertelstunde. Fortwährend sahen Sie nach dem Abteil, in dem Ihr Vater und dieser Herr aus Petersburg standen!“

      „Durch welchen Ukas ist das verboten, Fürst? Verzeihen Sie mir meine Unwissenheit!“

      „Ihren Vater können Sie den ganzen Tag betrachten. Also galten Ihre Blicke dem andern!“

      „Sind Sie eifersüchtig?“ frug die junge Pflegeschwestersanft.

      „Können Sie das einem Verliebten übernehmen? Sie wissen, wie verliebt ich in Sie bin!“

      „Trösten Sie sich, Fürst! Es wird vorübergehen!“

      „Diese Blicke passen nicht zu Ihrer ehrwürdigen Tracht. Sie sind jetzt eine Dienerin unseres heiligen Russland in diesem Kreuzzug gegen die Ungläubigen. Warum wenden Sie kein Auge von diesem rothaarigen Windhund?“

      „Er gefällt mir!“

      „Was gefällt Ihnen an ihm?“

      „Das weiss ich nicht!“ sagte Nadeschda. „Es ist ebenso. Derlei muss man eine Frau nicht fragen. Das ist Gottes Wille.“

      „Und was das Schlimmste ist . . .“, murmelte Peter Duchowskoi, „auch er blidt fortwährend zu Ihnen hinüber!“

      „Wirklich?“ Das junge Mädchen lachte. Sie sah frisch und unbefangen aus. Ihre Wangen waren leicht gerötet. Sie reichte dem herantretenden Paul von Minde, den ihr Vater ihr vorstellte, gnädig die Hand zum Kuss. Er schaute ihr in seiner eindringlichen und freimütigen Art ins Gesicht. Er frug:

      „Sie hielten die ganze Zeit tapfer hier aus? Sie fürchteten sich nicht?“

      „Vor was?“

      „Nun — vor dem toten Spitzbuben da drinnen! Der Anblick einer Leiche . . . .“

      „Leichen sind mir nichts Neues“, sagte Nadeschda Schischko, „ich habe die ganze Zeit schon in Petersburg gepflegt.“

      „Aber in Odessa hoffe ich in eines der Schlammbad-Sanatorien zu kommen!“ fuhr sie fort. „Es sind da doch die grossen Salzsümpfe ausserhalb der Stadt — die Limans. Man hat diese Institute für die Krone beschlagnahmt. Da möchte ich unsere armen Soldaten pflegen, die sich draussen in ihren papierdünnen Uniformen und ohne Mäntel und Fusstücher die Glieder erfroren. Fürchten diese Kriegslieferanten denn nicht Gott? Ist denn ein solches Verbrechen an dem russischen Volk möglich?“

      „Wenn Ruben da drinnen noch reden könnte, würde er Ihnen antworten: ‚Ja — Herrin! Es ist möglich!‘ Aber vielleicht spricht der Gott seiner Väter jetzt eben schon ein ernstes Wort mit ihm!“ sagte Paul von Minde.

      Der General war an ihm vorbei in tiefen Gedanken nach seinem Abteil geschritten. Fürst Duchowskoi folgte ihm mit einem finsteren Blick auf den Nebenbuhler, der mit Nadeshda im Gang zurüdckblieb, und setzte sich neben Exzellenz Schischko. Eine Weile musterte er missmutig die vorübergleitenden Telegraphenstangen, das Krähengeflatter, den Regen. Dann hub er nervös an:

      „Beachten Sie bitte die beiden da draussen! Ein Herz und eine Seele!“

      Exzellenz Schischko schaute vor sich hin und rauchte. Es war, als ob er gar nicht hörte.

      „Wenn das Zehnte Departement keinen zuverlässigeren Beamten zu schicken hatte als diesen Vogel . . . .“, fuhr Peter Duchowskoi gereizt fort. „Einen geheimen Auftrag soll er haben und steht statt dessen und macht einer jungen Dame die Cour!“

      „Wie denn? Was beliebten Sie zu sagen?“ Der General schraf aus seinem Grübeln auf und schaute geistesabwesend um sich.

      Nie sah ich Nadeschda Basilewna so heiter und belebt wie jetzt in diesem Gespräch drüben! Ihre Augen glänzen . . .“

      „Man kommt darüber nicht hinweg!“ sprach Exzellenz Schischko tiefsinnig. „Warum raubten die Verbrecher zuerst statt des baren Gelds die Papiere dieses Kriegslieferanten?“

      „Sie hören nicht, was ich sagte . . .“ Fürst Duchowskoi mass mit einem stechenden Blick das Paar draussen. „Da lacht man und plaudert, als habe man schon ein Pub Salz zusammen gegessen!“

      „Geheimpapiere sicherlich!“ murmelte der General. „Das weiss jeder, der Ruben kannte . . .“ Er sammelte sich. „Wie? Sie sprachen von Nadeschda . . .“

      „Dazu trägt sie das Schwesternkleid“, sprach Peter Duchowskoi bitter. Die Hand, in der er einen Krankenrapport des Roten Kreuzes hielt, zitterte vor Eifersucht. „Dazu ist Krieg. Dazu fliesst das Blut in Strömen für den Glauben von Byzanz, dass zwei Täubchen sich hier schnäbeln! Oder wenigstens sich so ansehen, als ob sie am liebsten gleich nach einer Viertelstunde Bekanntschaft sich küssen möchten!“

      „Wohin, glauben Sie, könnten diese Papiere hingeraten sein?“ murmelte der General Schischko.

      „Sie sind zerstreut, Exzellenz!“

      „Vielleicht


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