Panik in Odessa. Rudolf Stratz

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Panik in Odessa - Rudolf Stratz


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trat auf den Fussspitzen in den Wagengang hinaus.

      „Wissen Sie, was passiert ist?“ sagte er leise zu Nadeschda Schischko, die draussen stand. „Kennen Sie das allmächtige Kleeblatt Ruben, Wainstein und Channeles?“

      „Die grossen Kriegslieferanten?“

      „ . . . denen man zum grössten Teil die Versorgung der Balkanarmee übertragen hat.“

      „Alle Welt flucht ihnen! Unsere armen Soldaten verhungern und erfrieren. Es fehlt an Verbandzeug und Medikamenten. Die Lazarette stehen auf dem Papier. Jeder weiss es in Petersburg. Was hat mein armer Vater unter den betrügerischen Lieferungen dieser drei Sünder zu leiden!“

      „Aber gegen den Grossfürsten Igor, der sie schützt, ist nichts zu machen. Denn er hat die Oberaufsicht und füllt sich selbst mit Millionen von Rubeln die Tasche. Nun: Einen der drei Kriegslieferanten hat Gott gestraft. Goldhändchen und ihr Volk haben da nebenan Avrom Ruben, jedenfalls ohne ihn zu kennen, in das Jenseits befördert.“

      „Siehe: der alte Ruben ist tot!“ sprach erfreut ein junger Herr zu Anfang der Dreissig hinter den beiden. Er war aus seinem Abteil am anderen Ende des Wagens gekommen, hatte gähnend den leeren kerzenhellen Gang gemustert und war ihn dann schnell entlanggeschritten, um zu sehen, was da vorne los sei. Jetzt blieb er stehen. Er hatte ein kluges, sehr lebhaftes, an allen Dingen interessiertes Gesicht mit rotblondem Schnurrbart und kurz geschnittenem rotblondem Haar. Er machte den Eindruck eines gewandten Petersburgers. Aber seine Haltung zeigte nichts von der russischen Lässigkeit, sondern war straff und seine Bewegungen rasch und entschieden.

      „Eigentlich verdienen die Mörder den Annenorden“, sagte er herzlich. „Kann man die Leiche sehen?“

      Antoschka, der Geheimagent, musterte ihn mürrisch.

      „Belieben Sie: was für eine Leiche? Hier ist kein Jahrmarkt von Leichen. Einem grossen Herrn aus Petersburg ist da drinnen ein wenig übel geworden. Es geht ihm schon besser.“

      „Sollte ich taub geworden sein?“ Der Fremde hatte einen kaltblütig humoristischen Zug um die Lippen. „Sie sagten doch eben zu dieser Dame . . .“

      „Aber nicht zu Euer Wohlgeboren! Sie missverstanden mich. Belieben. Sie den Kranken drinnen nicht weiter zu stören!“

      Der Unbekannte machte Miente, neugierig in das Abteil zu schauen. Antoschka stellte sich vor den Türspalt.

      „Gehen Sie!“ bat er mit seinem öligen Stimmklang und betonte noch leiser und weicher das furchtbare Wort, bei dem jedem Untertan des Zaren eine Gänsehaut über den Rücken lief. „Sie haben es hier mit der Ochrana zu tun!“

      „Das habe ich bereits bemerkt!“ sagte der junge Mann, ohne ein Zeichen des Schreckens. Er zog aus einer Tasche seiner verschnürten Morgenjacke ein Schriftstück mit dem aufgestempelten russischen Adler und hielt es dem andern vor die schläfrigen wasserblauen Augen. Seine Sprache wurde plötzlich rücksichtslos barsch und hart. „Kennst du das — he?“ herrschte er schneidend den zitternden Tschinownik an.

      Das war der Ton von oben, von hoch oben, der Antoschka, dem Geheimagenten, vertraut war. So wagte niemand zu der Ochrana zu reden, der nicht das Recht dazu besass. Der Geheimagent entfaltete das Papier. Er las. Sein Gesichtsausdruck veränderte sich zu scheuer Unterwürfigkeit. Er versetzte gedämpft, mit unter dem Blondbart zitternden Lippen:

      „Befehlen Sie, Herr? Ich höre!“

      „Wie doch Gott uns Menschen führt!“ sagte zugleich drinnen vor der Leiche General Schischko in seinem tiefen Bass zu dem Obergendarm. „Ich erwartete meine aus Moskau kommende Tochter in Balta. Ich stieg erst spät abends zu ihr in den Zug, als Herr Ruben bereits schlief. Wäre ich schon früher mitgefahren, so hätten wir uns vielleicht auf dem Gang getroffen, womöglich in seinem Abteil einen Teil der Nacht verplaudert. Die Mörder hätten an den Stimmen innen gehört, dass er nicht allein war, und für diese Nacht den Mut verloren. Nun: Gott wollte es anders!“

      Der General trat schwerfällig auf die Schwelle des Abteils und stiess die Türe auf. Vor ihm stand draussen Antoschka. Der Geheimagent hielt das Papier noch in der Hand. Mit einem Augenwink nach den jungen Mann im Gang raunte er:

      „Dies ist eine besondere Persönlichkeit, Exzellenz!“

      „Auch ein Verdächtiger?“

      „Im Gegenteil: dies ist Herr Paul von Minde. Beamter für besondere Aufträge im Zehnten Departement des Ministeriums des Innern in Petersburg!“

      Im Zehnten Departement . . . In der Geheimen Staatspolizei, die nur bei besonders wichtigen Dingen in der Provinz eingriff. Dieser freundliche und weltläufige junge Mann war eine Macht. Das derb russisch geschnittene Antlitz des Generals Schischko wurde sonnig. Er ging auf den Kaiserlichen Kommissar zu.

      „Gott führte Sie zu uns!“ sagte er aus tiefer Brust. „Es sind hier allerhand Missstände. Was nimmt dieser tote Sünder da drinnen allein schon an Schuld mit ins Grab! Wenn es nottut, verfügen Sie über mich! Darf ich um Ihren Vor- und Patersnamen bitten — Herr Minde?“

      „Paul Gendrikowitsch!“ sagte der junge Mann. „Ja. Er klingt für russische Ohren schwierig. Aber mein Vater hiess nun einmal noch Heinrich, und ich bin aus rein deutschstämmigem Blut, wenn auch russischer Untertan.“

      „Basil Basilowitsch!“ stellte sich mit einem Händedruck der General als echten Russen vor. „Wir sahen uns noch nie in Petersburg.“

      „Ich bin erst seit ganz kurzem im Ministerium tätig. Man berief mich aus dem Generalgouvernement in Warschau, wo man mich bis dahin beschäftigte.“

      „Dadurch erklärt sich das! Und nun führt Sie ein besonderer Auftrag nach dem Süden?“

      „So ist es!“ sagte Paul von Minde. Weiter nichts.

      „Nochmals: Da unser russischer Süden für Sie noch Neuland ist — ich stehe jederzeit mit meinem Rat und meinen Erfahrungen für Ihren geheimen Auftrag zu Diensten.“

      „Oh — ich bin kein Fremdling hier auf der Schwarzen Erde zwischen Kiew und Odessa.“ Der junge Mann lächelte freimütig. Er hatte eine Gabe, den Menschen sehr rasch mit einer vertraulichen, wie selbstverständlichen Offenherzigkeit nahezukommen. „Ich besitze Verwandte in Odessa, die ich oft besuche.“

      „Das ist selten. Es gibt im Gouvernement Cherson so wenig örtlichen Adel . . .“

      „Aber um so mehr Kaufleute in Odessa!“ sagte Paul von Minde. „Kennen Sie dort die Firma Förster?“

      „Den Weizenexporteur? Wie der nicht?“

      „Madame Förster, seine Frau, war eine Schwester meines auch schon als Hohe Exzellenz in Tiflis verstorbenen Vaters. Daher meine nahen Beziehungen zu Odessa . . .“

      „Die Ihnen in der sicherlich wichtigen Sendung, die Sie dorthin führt, von Nutzen sein werden!“

      „Ich hoffe.“

      Paul von Minde sprach es knapp und mehr nicht. Exzellenz Schischko begriff, dass dieser liebenswürdige junge Mann die Kunst des Schweigens, da wo es ihm nötig schien, beherrschte. Die beiden waren in das Abteil getreten und betrachteten noch einmal den toten Kriegslieferanten. Wieder bemerkte der General Schischko den grübelnd in sich gesammelten und forschenden Blick des Kommissars von dem unheimlichen Zehnten Departement des Ministeriums des Innern. Verborgene Gedankengänge schatteten hinter der Stirne dieses äusserlich freundliden und frischen Gesichts. Exzellenz Schischko hoffte immer noch, dass der junge Vertrauensmann Petersburgs reden würde. Aber Paul von Minde sagte nur, sich eine Papyros anzündend:

      „Es wird im Osten über der Steppe hell. Der Tag ist nahe!“

      „In wenigen Stunden sind wir in Odessa“, bestätigte General Schischko und gab den beiden Gendarmen einen Wink, das Abteil in Ordnung zu bringen und dann bis zur Ankunft an Ort und Stelle zu verschliessen.

      Die beiden Grünröcke packten mit gefühllosen Fäusten den stillen Avrom Ruben. Jetzt war die Angst vor seiner Allmacht verschwunden. Jetzt war er nur noch


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