Gesammelte Werke: Historische Romane, Kriminalromane, Erzählungen & Essays. Rudolf Stratz
Читать онлайн книгу.an der Schulter – »jetzt wird umgekehrt! Jetzt hab' ich's dick!! ... das Wetter wird jede Minute schlechter. Haben Sie Lust, am Matterhorn in einen Schneesturm zu kommen?«
Der Kleine sah irre um sich, wie wenn er aus einem Traume erwachte. »... 's ist so schön hier ...« flüsterte er geheimnisvoll ... »wunderschön ... ich möcht' nicht weg ...«
»Aber jedes Kind sieht doch ein, daß wir nicht weiter können ... es ist gar keine Möglichkeit, auch nur die alte Hütte zu erreichen ...«
»Doch!« schrie der Professor, »doch ... wir müssen ... und wenn wir zehnmal ...«
Seine nächsten Worte verhallten in dem betäubenden Donner, mit dem plötzlich der Orkan herauffegte. Sie klammerten sich mit abgewandten Gesichtern an die Felswand, deren lebloses Gestein selbst im Zittern der Luft mitzuschwingen schien. Mit eisigen Armen umfaßte der jählings wachsende Sturm die beiden Männer. Er raubte ihnen den Atem, er zwang sie, die Augen zu schließen, und hauchte erstarrende, tödliche Kälte über die festgekrampften Hände.
»Da schauen S'!« Der Baron war bleich geworden. Da kam der Schneesturm ... der Schneesturm am Matterhorn!
Einzelne Flocken flogen weit voraus, dann immer dichtere, windgepeitschte Schwärme, endlich ganze Wolken von stiebendem Schnee, die im Augenblick Felsen und Menschen verhüllten. Die Luft verfinsterte sich. Man konnte kaum mehr ein paar Schritte weiter sehen. Es war, als bräche die Nacht herein, als legte sich eine tiefe eisige Dunkelheit über die Gebirgswelt, in deren Schluchten und Schründen der Föhn heulend wie eine gefangene Bestie hin und her fuhr.
»... 'runter, wenn uns unser Leben lieb ist!« Der Baron zerrte mit mächtigem Ruck den kleinen, jetzt nicht mehr widerstrebenden Begleiter zu sich herab und begann mit ihm den Niederstieg.
Das war ein böser Weg über das mehr und mehr vereisende Gestein in der Tiefe. Mit äußerster Vorsicht, so langsam und behutsam wie möglich mußte man klettern, und dabei drängte doch die Gefahr, die mit jeder Sekunde wuchs.
In einem Felsloch ruhten sie einen Augenblick erschöpft aus. Wie die beiden Männer da kauerten, unförmlich eingemummt, gestrickte Wollkappen über dem Kopf, dicke Tücher um den Hals, und das alles überschneit und mit Reif überzogen – da sahen sie selbst zwei Eisklumpen zum Verwechseln ähnlich.
Der Sturm hatte plötzlich aufgehört.
Auf kurze Zeit herrschte jene unheimliche Ruhe des Hochgebirges, durch die schon ganz aus der Ferne unheilverkündendes Grollen das Nahen eines neuen wütenden Anpralls verkündet.
»So muß sich's an 'nem gotischen Kirchturm außen klettern«, sagte der Kleine plötzlich und warf einen Blick auf das zerrissene Gestein, an dem sie mehr hingen als standen. »Sie wissen doch ... im Mittelalter haben s' Brot ganz oben auf die Kirchturmspitze gesteckt und die Verbrecher unten bei der Glockenwölbung heraus auf den Steinsims gestellt. Dann mußten die Schelme, wenn sie nicht verhungern wollten, durch das Steingeschnörkel aufwärts kriechen und sich die Hälse brechen ...«
»Das wird uns gerad' so gehen!« – der Baron kletterte ärgerlich weiter – »wegen Ihrer Dummheit ... Das Matterhorn ist auch so ein Kirchturm ... nur ein vierzehntausend Fuß hoher ... und oben gibt's nicht einmal Brot, sondern Steine ...«
Er konnte nicht weitersprechen, kaum durch Zeichen sich dem andern verständlich machen, so betäubend brach jetzt wieder der Sturm los. Ein verwirrendes Flockengewimmel drehte sich um die beiden atemlosen Männer, die verzweifelt mit den Windstößen rangen, um nicht bei einem unvorsichtigen Tritt in den Abgrund geschleudert zu werden. Der feine Schnee drang durch alle Ritzen der Kleidung, er erfüllte Mund und Nase und umkrustete die dicken Handschuhe mit einer zähen, glitschrigen Eisschicht, unter der sich die erstarrten Finger kaum mehr zu regen vermochten.
Und das Schlimmste stand bevor: der Weg über das lange, schmale Felsenband, über das sie nach dem gefährlichen Aufstieg zum Furggletscher den Berg nach rechts in der Richtung zum Kamm hin traversiert hatten. Jetzt, da sie umkehrten, hieß es, den schweren Weg noch einmal machen. Waren sie erst an dessen Ende angelangt, dann bot, sofern der Steinschlag sie verschonte, der weitere Abstieg keine außerordentliche Gefahr mehr.
Aber jetzt hieß es, das rechte Band finden ... inmitten dieses wütenden Kampfes, in dem die geblendeten Augen, durch den Schneesturm blinzelnd, kaum die ausgestreckte Hand mehr erkennen konnten.
Der Professor lachte plötzlich laut auf und schwang sich, den bisherigen senkrechten Abstieg verlassend, nach rechts auf eine schmale vereiste Steinkante.
»Weiter unten!« brüllte der Baron, der über ihm mit dem Bauch auf einer Felsenplatte lag, »mindestens hundert Schritt weiter unten ... ich weiß es ganz genau ...«
Das Männchen lächelte und schüttelte das Haupt, um das Bart und Haar zerzaust im Winde flogen. Wieder kam ein seltsamer Blick aus seinen Augen.
»Das ist der Weg! Wenn ich's sag', ein Mann, der siebenmal auf dem Matterhorn war und im Jänner Montblanc und Monte Rosa gemacht hat ...«
»Aber ich erinner' mich doch ...«
»Vorwärts!« Der Kleine huschte den Sims entlang und schlug Stufen in einen schmalen Schneehang, jenseits dessen das Band sich fortsetzte.
Ja ... allerdings ... hier im Wallis war der Professor Meister. Hier kannte er Berg und Tal.
»Vorwärts!« klang wieder im Gellen des Windes das dünne unheimliche Stimmchen herüber, »im Oberland können Sie mich führen ... fürs Matterhorn bin ich der rechte Mann ...«
Der Baron folgte ihm. Wieder regte sich in ihm das unerklärliche Grauen vor seinem Genossen. Aber fast gleichzeitig gewann auch er – er wußte selbst nicht warum – die Überzeugung, daß jener dort recht hatte! Das war der richtige Weg, und er folgte ihm in den Kampf auf Tod und Leben.
Denn nichts andres war dies Vorwärtsschreiten und Klettern im Sturme auf vereister, kaum fußbreiter Rampe, während unausgesetzt durch das Schneegestöber hoch von oben, wie vom Himmel herunter, die Steinblöcke flogen. Die Pickel klirrten auf dem Fels, bis sich, in Stücke zerspringend, die Eiskruste löste, die ihn spiegelglatt umglast hielt, und der Nagelschuh sicher auftreten konnte. Das Seil schlang sich um Zacken und hielt in der Arbeit des Stufenhauens über Firnrinnen den sturmgerüttelten Leib in seiner halb schwebenden Lage; die pelzverhüllte Hand fegte den tückischen Neuschnee von den Klippen und forschte nach den Griffen und Tritten, die seine weiße Decke verbarg. So ging es langsam in atemlosem Ringen vorwärts.
Das Schlimmste blieb der Kampf mit dem eisigen Sturm. Es war, als habe man ein lebendes Wesen vor sich, das mit allen Kräften, mit List und Gewalt die beiden Eindringlinge aus seinem Reiche herauszuschleudern und zu vernichten strebte. Mit eisigen, unsichtbaren Gespensterarmen griff es nach ihnen und drängte sie in den Abgrund, es fuhr ihnen unversehens mit gewaltigem Stoß in den Rücken, wo es sie einen Augenblick auf schwankendem Stande glaubte, und warf sich ihnen beim Weiterdringen Brust an Brust als zähnefletschender Feind zum Ringkampf entgegen. Dann plötzlich verschwand es wieder, die Wanderer in trügerische Sicherheit lullend, und fuhr mit jähem Aufheulen aus der nächsten Bergspalte auf die Taumelnden los, um durch sein gräßliches Gebrüll ihre Sinne zu verwirren. »Da bin ich!« klang es in eisigem, Mark und Bein erstarrendem Hauch um ihre Ohren, »da bin ich ... der Tod im Hochgebirge! Ihr habt mich ja gerufen. Ihr wolltet ja mit mir spielen! Wohl! Da bin ich und mache Ernst! Ich scherze nicht. Eure Genossen wissen's, die da unten in Zermatt unter den Holzkreuzen und Steinplatten ruhen. Und die andern wissen's, die ich in meinen Gletscherspalten aufbewahre, bis einmal nach Jahren die Sonnenstrahlen das Gerippe zu Tage lecken. Und die Skelette wissen's, die irgendwo im ewigen Schnee, fern von den Augen der Menschen sitzen, noch mit Sturmhut und Joppe und Bergschuhen angetan, während die Alpendohlen die letzte Fleischfaser von dem grinsenden Schädel lösen.«
Der Tod im Hochgebirge! Aber noch lebten sie ja ... noch atmeten sie ja! Weiter ... immer weiter ... Einmal muß ja das Band ein Ende nehmen.
Und zum erstenmal inmitten dieses Todesganges stieg in dem Baron die Erkenntnis auf: Es ist ein Wahnsinn, was wir treiben und alle die andern, die ohne Zwang und Not in den Bergen mit der Vernichtung spielen. Unser