Der neue Landdoktor Paket 1 – Arztroman. Tessa Hofreiter

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Der neue Landdoktor Paket 1 – Arztroman - Tessa Hofreiter


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Was, wenn er Lisas Enthüllungen bestätigte? Gab es nicht doch noch die Möglichkeit, dass alles nur ein bösartiges, abgekartetes Spiel war, das Lisa allein spielte?

      »Ben, erlöse mich! Sag, dass das alles nicht wahr ist!«, flüsterte Marie heiser. Angstvoll umklammerte sie das Handy. Plötzlich kam es ihr wie eine Rettungsleine vor, die zwischen Ben und ihr gespannt war. War es falsch gewesen, sich in den vergangenen Tagen von ihm abzuschotten? Egal, was er jetzt zu ihr sagen würde, sie musste es von ihm erfahren, von ihm allein! Mit zitternden Fingern wählte sie seine Nummer und lauschte dem Rufzeichen. Ben mochte am äußersten Ende Norwegens sein, aber er war nicht aus der Welt! Gleich, gleich würde sie mit ihm reden, würde sie ihn alles fragen können …

      … aber die für Marie lebenswichtige Verbindung konnte nicht hergestellt werden, Bens Handy war ausgestellt. Es antwortete nur eine mechanische Stimme, die der Anruferin mitteilte, dass der Teilnehmer nicht zu erreichen ist.

      Die verzweifelte Frau versuchte es wieder und wieder, aber immer wies sie die Automatenstimme ab. Ben war unerreichbar.

      Dämmerung breitete ihr dunkles Tuch über das Land, bald würde es ganz dunkel sein. Der Tee in Maries Becher war kalt geworden. Sie saß noch immer wie betäubt in der Laube und konnte es nicht fassen, dass Ben unerreichbar blieb. Nie schaltete er sein Handy aus, immer hatte sie zumindest eine Nachricht auf der Mailbox hinterlassen können!

      Bedeutete das, dass Lisa doch die Wahrheit gesagt hatte? Dass Ben nichts mehr von ihr und ihren Kindern wissen wollte?

      Nein, das bedeutete es ganz und gar nicht, aber das konnte die verängstigte Marie nicht wissen. Ben saß zu diesem Zeitpunkt bereits im Flieger von Oslo und befand sich im Landeanflug auf München. Sein langer Heimweg hatte ihn über verschneite Straßen, durch endlose Tunnel und per Fähren über mehrere Fjorde geführt, ehe er einen Inlandsflug nach Oslo erreichte. Übermüdet und gebeutelt von Angst und Hilflosigkeit, hatte Benjamin die norwegische Hauptstadt endlich erreicht und einen Flug nach Deutschland nehmen können.

      Sowie er in München gelandet war und sein Handy wieder einschalten durfte, würde er bei Seefelds anrufen und sich nach Marie erkundigen. Die letzten beiden Tage ohne Kontakt zu ihr waren die Hölle gewesen! Er spürte, dass etwas nicht stimmte, und jede einzelne Faser seines Wesens trieb ihn heimwärts.

      *

      Marie starrte auf das stumme Handy. Was geschah mit ihr? Sie fühlte sich, als ob zwei gegensätzliche Kräfte an ihr zerrten. Da war einerseits die völlige Erschöpfung, die Seele und Körper lähmte und jede Bewegung unmöglich erscheinen ließ. Und andererseits eine nie gekannte Unruhe und Rastlosigkeit, die ihren Körper in Bewegung setzte, obwohl sie keinen einzigen Schritt tun mochte.

      Fühlt es sich so an, wenn man verrückt wird?, dachte Marie verschwommen. Schwerfällig stand sie auf und wandte sich der Wiese zu, die an ihren Garten grenzte. Vielleicht half es, die Unruhe abzubauen, wenn sie ein paar Schritte ging? Nur einmal über die Wiese und wieder zurück, danach würde sie ins Haus gehen und sich an den warmen Ofen setzen.

      Im Dämmerlicht machte Marie sich auf den Weg. Viel sehen konnte sie nicht mehr, aber das war auch nicht nötig, hier auf der dunklen Wiese gab es keine Hindernisse. Nur welke Grasbüschel – und Maulwurfshügel.

      Und genau das wurde Marie zum Verhängnis.

      Sie war bereits auf dem Rückweg, als sie über einen dunklen Erdhaufen stolperte, umknickte und zu Boden fiel! Den Sturz konnte sie mit den Händen einigermaßen auffangen, dennoch ging ein harter Stoß durch ihren Körper, und ein dumpfer, heißer Schmerz durchzuckte ihren rechten Knöchel. Mit einem verzweifelten Aufschrei tastete Marie nach dem schmerzenden Gelenk. Wenn sie sich nur nichts gebrochen hatte! Keuchend versuchte sie, in den Vierfüßlerstand zu kommen und dann langsam aufzustehen. Es ging nicht, sie konnte den Fuß einfach nicht belasten.

      Panisch schaute die junge Frau um sich: Weit und breit gab es nichts, keinen Strauch, keinen Ast, keinen Zaun, an dem sie sich hätte festhalten und in die Höhe ziehen können. Aber sie musste hoch, sie musste weg hier, konnte doch nicht auf der kalten Erde liegen bleiben! Mit beiden Armen umspannte sie ihren Bauch, versuchte instinktiv, die Babys zu schützen. Niemand würde ihr Rufen hören, niemand sie in der Dunkelheit sehen, sie musste unbedingt ins Haus kommen!

      Marie zwang sich zur Ruhe, so gut es ihr möglich war. Sie versuchte, den Schmerz in ihrem anschwellenden Knöchel auszublenden, und bemühte sich, ihren schweren Körper in die Höhe zu stemmen. So weit war sie doch gar nicht von der Laube entfernt, und da lag das Handy, mit dem sie Hilfe rufen konnte. Es musste ihr gelingen, dort hinzukommen!

      Sie stöhnte vor Schmerz, als sie den verletzten Fuß bewegte. Und dann spürte sie noch etwas, was den ganzen Tag über schon dagewesen war, sie hatte es nur verzweifelt zu ignorieren versucht. Ein dumpfer Schmerz breitete sich in ihrem Kreuz aus, strahlte hinunter ins Becken und schloss einen eisernen Ring um ihren Leib. Marie schnappte nach Luft, und sie konnte nichts gegen die Tränen tun, welche ihr dieser Schmerz in die Augen trieb.

      Sie wusste, dass die Geburt begonnen hatte. Vier Wochen zu früh machten ihre Babys sich auf den Weg ins Leben, und sie lag hilflos und unbeweglich auf einer dunklen Wiese und war ganz allein.

      »Ben! Verlass mich nicht!«, wimmerte sie, und dann kam schon die nächste Wehe, und die Welt bestand nur noch aus Angst und Schmerz.

      *

      Im Doktorhaus verbreitete warmer Lichterschein eine gemütliche Atmosphäre. Sebastian war gerade von der Praxis hinüber in die Stube gekommen, in der sein Vater und Traudel über einem Schachspiel saßen. Emilia kam aus ihrem Zimmer und blätterte flüchtig durch eine Zeitschrift. Bald würden sie alle hinübergehen in die Küche und das Abendbrot vorbereiten.

      Das Telefon klingelte. Emilia nahm ab und gab den Hörer an ihren Vater weiter. »Papa, für dich, es ist Ben«, sagte sie stirnrunzelnd. Bens Stimme hatte gehetzt geklungen, nicht so wie sonst. Das hatte Emilia trotz der schlechten Verbindung sofort herausgehört.

      Sebastian übernahm und hörte konzentriert zu. Offensichtlich ging es um Marie, denn der Arzt sagte gerade: »Ja, das ist merkwürdig. Deine Frau hatte heute einen Termin bei mir und Anna, und sie ist nicht gekommen, hat auch nicht abgesagt. Das ist untypisch für sie.«

      Emilia spitzte die Ohren.

      »Wie unangenehm!«, sagte ihr Vater gerade. »Und ihr habt keine Ahnung, von wem die Briefe kommen?«

      Sein besorgter Tonfall ließ jetzt alle Familienmitglieder aufhorchen. Was war bei Ben und Marie passiert?

      »Natürlich, wir kümmern uns«, sagte Sebastian mit fester Stimme. »Ich fahre raus zu ihr und schaue nach dem Rechten. Wenn ich Näheres weiß, rufe ich dich sofort an. Bleib ruhig, Ben! Bisher war alles mit Marie in Ordnung. Ich melde mich!«

      Er legte auf und sagte entschuldigend zu Traudel: »Können wir bitte das Essen verschieben? Ich muss zum Eber­eschenhof raus und ein Gefühl sagt mir, es wäre gut, wenn Vater auch mitkommt.«

      »Papa, was ist passiert?«, fragte Emilia angstvoll. Plötzlich stand ihr der Auftritt im Café wieder vor Augen. Wie entsetzlich Marie ausgesehen hatte!

      »Ich weiß es noch nicht, Emmchen. Bitte, mach dir keine Sorgen. Ben ist durch den Wind, weil er Marie seit zwei Tagen nicht erreichen kann, und heute ist sie nicht zur Untersuchung gekommen und hat sich auch nicht gemeldet. Wir fahren jetzt raus zu ihr«, sagte ihr Vater.

      Emilia sprang auf. »Ich fahre mit!«, erklärte sie entschlossen und ließ keinen Protest der anderen gelten. »Wenn wirklich etwas mit ihr passiert ist, dann bin ich schuld, dass sie erst jetzt Hilfe bekommt! Ich hätte viel früher etwas sagen müssen.« Das Mädchen war den Tränen nahe.

      »Moment mal! Was meinst du denn damit?«, hakte ihr Großvater besorgt nach.

      »Heute Mittag waren wir im Bernauer, und Marie und Lisa waren auch da. Ich habe nicht verstanden, was sie geredet haben, aber es muss ziemlich schlimm gewesen sein. Marie hat furchtbar elend ausgesehen. Dann hat Lisa ihr etwas auf ihrem Handy und auf einem Papier gezeigt. Danach hat Marie geweint und sie ist aus der Konditorei gegangen, als ob sie eine


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