Der neue Landdoktor Paket 1 – Arztroman. Tessa Hofreiter
Читать онлайн книгу.Knöchel schien nicht gebrochen zu sein, sondern nur verstaucht. Das würde man in der Klinik abklären. Jetzt konnten sie den Fuß nur hochlegen und kühlen; es war das geringste Problem, vor dem sie standen.
Anna untersuchte Marie. »Es sieht gut aus!«, sagte sie zuversichtlich. »Die Herztöne der Kinder sind kräftig und gleichmäßig, ihnen geht es gut. Dein Muttermund ist schon sieben Zentimeter weit geöffnet. Du machst das sehr gut, Marie. Es wird nicht mehr lange dauern, und du kannst dein erstes Baby im Arm halten.«
Marie stöhnte unter der Wehe und warf den Kopf von einer Seite zur anderen. »Ben!«, schluchzte sie. »Ben ist nicht hier. Ich muss ihm sagen …, muss ihm sagen …, liebe ihn so sehr!«
»Das weiß er!« Sebastians ruhige Stimme durchdrang die Schmerzen der jungen Frau. »Er weiß es, Marie.«
»Darf nicht … mit Lisa … gehen!«, keuchte Marie.
»Lisa hat hier nichts zu suchen!«, erklärte Sebastian energisch. »Wir sind hier ganz unter uns, hörst du, Marie? Nur du und die Kinder und wir drei Geburtshelfer. Hier haben falsche Blondinen nichts verloren!«
Trotz ihrer Verzweiflung und Schmerzen musste Marie beinahe lachen. »Ihr seid … so lieb«, murmelte sie.
»Na, wir müssen dich doch bei Laune halten«, meinte Sebastian. Mit einem Ohr hatte er die Türklingel und Stimmen draußen im Vorraum wahrgenommen. »Du willst doch nicht völlig verweint aussehen, wenn Ben hier hereinkommt, oder?«
»Er kommt doch nicht«, flüsterte Marie, und dann riss die nächste Wehe sie mit sich.
»Marie? Du musst die Augen aufmachen. Guck doch mal, wer hier ist!«, sagte auf einmal Annas sanfte Stimme direkt neben ihrem Ohr.
Marie wollte nicht. Die heftige Wehe war abgeklungen, und sie schwebte in einem herrlichen, unwirklichen Zustand der Schmerzlosigkeit, an dem sie nicht die kleinste Kleinigkeit verändern wollte, nicht einmal die Augen öffnen. Aber …
»Marie! Liebste! Bitte, bitte schau mich doch an!« Annas Stimme war verschwunden und durch eine tiefe, schmerzlich vertraute Männerstimme ausgetauscht. Das konnte nicht sein, das träumte sie. So ein schöner Traum, wenn er doch nie enden würde! »Marie, bitte, mach die Augen auf, bitte!«, flehte die Stimme weiter.
Hände legten sich um ihr Gesicht, warme Lippen streiften über ihren Mund, sie spürte vertraute, weiche Barthaare über ihre Wange streichen. Dieser Traum wurde immer schöner. Warum sollte sie aufwachen?
Marie spürte, wie sich die nächste gewaltige Schmerzwelle in ihr aufbaute. Sie tastete blindlings nach einem Halt, riss panisch die Augen auf – und schaute genau in Bens Gesicht, das ganz dicht über ihrem schwebte.
»Ben?« Ihr fassungsloses Staunen war so groß, dass der Schmerzensschrei auf ihren Lippen zu einem überraschten Schluchzen erstarb. »Ben? Du bist … zu mir gekommen? Du bist hier?«
»Natürlich! Wo sollte ich denn sonst sein!«, flüsterte Ben heiser. Tränen liefen über seine Wangen. Er sah schrecklich erschöpft und angstvoll und so wundervoll vertraut aus, dass Marie seine Gegenwart bis ins Innerste ihres Seins spürte. Er war an ihrer Seite, und er war ihr Mann! Erstarrung und Eiseskälte lösten sich von ihrem Herzen, und alles war plötzlich so leicht. »Ich liebe dich, nur dich! Es hat nie eine andre gegeben, egal, wer das behauptet! Das sind Lügen, nichts als Lügen, hörst du?«, schluchzte Ben.
Marie legte ihre Arme um seinen Nacken. »Ja!«, flüsterte sie. »Ja!« Und ihre Augen, die sie eben noch gegen den Schmerz der Welt geschlossen hatte, leuchteten wie ein ganzer Sternenhimmel.
Dann ging plötzlich alles ganz schnell.
Die Ärzte forderten Ben auf, sich mit gespreizten Beinen so hinter Marie auf das Bett zu setzen, dass sie sich mit ihrem Rücken fest gegen ihn lehnen konnte. Er legte seine Arme um sie, ihre Finger verschränkten sich, und Marie fand den unerschütterlichen Halt, den sie jetzt brauchte. Sie verschmolzen zu einer kraftvollen Einheit, und ihr erstes Kind wurde geboren.
Ein kleines Mädchen. Ganz winzig und zart und mit einem Schopf dunkler Haare. Atemlos sahen sie, wie die Ärzte mit geübten Bewegungen die Nabelschnur durchschnitten, das winzige Geschöpf sofort in vorgewärmte Tücher wickelten und die Atemwege absaugten. Eine Sekunde herrschte angespannte Stille, dann folgte ein leises Niesen, ein Maunzen wie von einem neugeborenen Kätzchen, und dann kam der erste, mit Bangen erwartete Schrei. Die Lungen der Kleinen füllten sich mit Luft, und sie atmete aus eigener Kraft!
Sebastian Seefeld lachte vor Glück und Erleichterung. »Siehst du, Marie? Siehst du sie, deine Kleine? Es geht ihr gut!« Er schob das winzige Bündel in das vorbereitete Kissen und legte Marie ihr Kind in die Arme. »Wie soll die junge Dame denn heißen?«
»Elise«, antwortete die junge Mutter zwischen Lachen und Weinen. »Sie heißt nach meiner Mutter.«
Dann spürte sie die nächste Wehe kommen. Elise fand Geborgenheit in den Armen Benedikt Seefelds, während Marie mit einer allerletzten Kraftanstrengung, unterstützt von ihrem Mann, der Hebamme und dem jungen Arzt, ihr zweites Kind zur Welt brachte. Es war wieder ein kleines Mädchen, ebenso zart wie ihre Schwester und ebenso dunkelhaarig. Und genau wie das erste Baby konnte auch dieses aus eigener Kraft atmen und sich zum Leben entfalten!
Freude und Glück waren kaum mit Worten zu beschreiben, als beide Kinder gesund in den Armen ihrer Eltern lagen! Das zweite kleine Mädchen hieß Helene, nach Benjamins Mutter. Sebastian lächelte leise, als er den Namen hörte, so hatte auch seine Frau geheißen.
Als wenig später die Krankenwagen von der Uniklinik eintrafen, fanden sie statt einer dramatischen Notsituation eine glückliche Familie und ein nicht weniger glückliches Ärzteteam vor. »Na, Kollegen, da habt ihr aber ganze Arbeit geleistet!«, meinte der eine der beiden Kinderärzte, die mit den Inkubatoren gekommen waren, zufrieden. Sie führten die ersten Untersuchungen durch. Es gab keine Auffälligkeiten, aber vorsichtshalber wurden die Kleinen in die Brutkästen gelegt, um sie sicher überwacht ins Klinikum zu fahren. Im nächsten Krankenwagen fanden eine strahlende Marie und ihr Ehemann Platz. Es gab einen kurzen, aber herzlichen Abschied von den Seefelds und von Anna, und dann wurde die junge Familie zur Nachsorge ins Uniklinikum gefahren.
*
»Jesses! Was ist denn drüben bei Doktors los? Da sind zwei Krankenwagen und jede Menge anderer Ärzte gekommen!« Afra, die gegenüber der Praxis wohnte, klebte am Fenster. »Und was für Dinger schieben die in die Praxis? Ich kann’s grad nicht genau erkennen, aber es schaut wie zwei Brutkästen aus. Ob die Marie ihre Kinder kriegt? Aber das ist doch viel zu früh! Die armen Würmer, wenn das nur gut geht!«
»Was soll denn schon nicht gut gehen?«, maulte Lisa, die von Afra per Telefon mit diesen Neuigkeiten versorgt wurde. »Was ist das immer für eine blöde Aufregung um diese Marie und ihre Bälger.«
»Na, na! Jetzt red mal nicht so hässlich daher!«, mahnte Afra. »Du weißt schon, dass die Babys sterben können, wenn sie zu früh geboren werden?«
»Schmarrn!«, knurrte Lisa und beendete das Gespräch.
*
Daheim im Doktorhaus hatten Sebastian und Anna inzwischen das Geburtszimmer aufgeräumt und wieder in ein normales Behandlungszimmer umgewandelt. Die notwendigen Berichte waren geschrieben worden, und nun gingen die beiden Kollegen hinüber in die Küche, wo eine sehr glückliche und erleichterte Emilia das Abendessen vorbereitet hatte. Um den Anlass gebührend zu feiern, hatte das Mädchen den Tisch besonders schön mit Hagebutten, letzten Rosen und leuchtenden Kerzen gedeckt.
Sie und ihr Vater, Anna, ihr Großvater und Traudel saßen noch bis in die Nacht hinein zusammen und feierten den glücklichen Ausgang des dramatischen Geschehens. Es wäre so anders ausgegangen, hätten sie Marie nicht rechtzeitig gefunden!
»Auf eine starke, tapfere Mutter und auf Helene und Elise!«, lächelte Benedikt und hob sein Glas.
»Auf drei tolle Geburtshelfer, ohne die es nicht gegangen wäre!«, rief Emilia stolz.
»Auf das Leben!«, schloss Sebastian, und ihre Gläser