England's Dreaming [Deutschsprachige Ausgabe]. Jon Savage

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England's Dreaming [Deutschsprachige Ausgabe] - Jon  Savage


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Vorstadt« behaftet war, wurde ihr bereits im Sommer eine positive Wirkung auf die Bevölkerung bescheinigt. Als Ministerin war Thatcher weniger kritisch gegenüber der von Heath eingeschlagenen Linie, als man es im nachhinein erwartet hätte, von 1974 an aber begann sie ihre eigene Ideologie zu entwickeln. In einer Zeit, als sich die staatliche Kontrolle in Form verstaatlichter Industrien und eines riesigen bürokratischen Apparates in eine Richtung zu entwickeln schien, die Orwells Anti-Utopie ähnelte, trat Thatcher für den Vorrang des Individuums ein. Ihr Stil war wichtig: Sie war nicht nur kämpferisch, sie spielte auch auf die von der Boulevardpresse geschürten Ängste vor dem inneren Verfall an. Auf ihrer ersten Parteitagsrede als Vorsitzende startete sie einen großangelegten Angriff gegen jene, »die unsere Selbstachtung zermürben, indem sie die britische Geschichte zu einer Geschichte der jahrhundertelang währenden Hoffnungslosigkeit, Unterdrückung und des Versagens umschreiben.«

      Es gab einen weiteren Faktor, der Thatcher zu einem nationalen Symbol machte. Der lange Niedergang der 70er Jahre hatte nicht nur eine Stimmung der Angst, sondern auch Schuldgefühle hervorgerufen. In ihren Reden begann Mrs Thatcher, diese Schuld zu mildern, indem sie Selbstvertrauen aufbaute, aber es war ihre Präsenz, die die Wirkung dieser ehrgeizigen und klingenden Phrasen ausmachte. Mit ihrem einschüchternden Redestil, ihrem Ligusterhecken-Schick und dem robusten Haar, das sie zu einer stählernen Welle auftürmte, besaß sie die Ausstrahlung einer professionellen Domina.

      Dreizehn Jahre später spricht John Lydon ruhig über seine ersten Vorstellungen von den Sex Pistols: »Glen Matlock wollte eine Art aufgemotzte Ausgabe der Bay City Rollers. Tut mir leid, ich war völlig anders drauf. Ich sah die Sex Pistols als etwas total Schuldbeladenes.« Es sind Bildzeugnisse der Hauptstadt von 1975 überliefert. Roger Perrys Buch mit 110 Fotos konzentrierte sich auf jene heruntergekommenen Bereiche Londons, in denen eine bestimmte Form der freien Rede Zuflucht fand. Die Graffitis, die Perry ins Rampenlicht rückt, sind eine ganze Generation von den dreidimensionalen Entwürfen, die wir heute gewohnt sind, entfernt. Slogans wurden manchmal gesprüht, manchmal unbeholfen gemalt oder hingekritzelt, so als wäre die Kommunikation zu anstrengend.

      Die Botschaften sind weniger territoriale Markierungen oder verzweifelte Versuche der Selbstbehauptung, wie wir sie heute kennen, sondern anonym, anspielungsreich und kryptisch, eine Art Fenster zur Welt der kulturell oder sozial Enteigneten: »Dada ist überall«, »Worte haben heute keine Bedeutung«. Besonders auffällig war ein Graffiti, das sich zwischen den U-Bahnstationen Ladbroke Grove und Westbourne Park entlangzog: »Tag für Tag das gleiche U-Bahn Arbeit Essen Arbeit U-Bahn Sessel U-Bahn Arbeit was kann man aushalten einer von fünfen dreht durch.«

      Perry nahm die meisten seiner Fotografien in Notting Hill Gate auf. Dessen Bedeutung als großer, randständiger, innerstädtischer Bezirk mit ungewöhnlicher Klassenstruktur und multi-ethnischer Bevölkerung wurde in Romanen wie Absolute Beginners von Colin MacInnes und Rotting Hill von Wyndham Lewis, wie auch in Exposés der Post-Profumo-Zeit wie »Jungle West 11« verhandelt. Filme, die sich der verblichenen Atmosphäre des Viertels bedienten, waren »Perfomance« (1969) und »The Blue Lamp« (1949), ein zukunftsweisender britischer Gangsterfilm, in dem Dirk Bogarde durch eine vollkommen verschwundene Stadtlandschaft aus zerfallenen Bauten irrt.

      »Notting Hill wurde als ungewöhnliches Viertel innerhalb Londons und des Vereinigten Königreichs betrachtet«, behaupten die Brüder Wise in ihrer Geschichte des Viertels. »Es war ein Ort, an den man vor den unerträglichen Zwängen von Familie, festgefahrenen Vorurteilen der Arbeiterklasse und einer insgesamt zu prüden Welt fliehen konnte. Mehr als jeder andere Ort förderten die unteren Hänge von Notting Hill nach dem Krieg die Verbreitung des ›Anarchismus‹ oder genauer einer anarchischen Gefühlsregung in der politischen Arena und des Parteiensystems.«

      Es war die Rückkehr der Unterdrückten. Die radikalen Ambitionen und Wirklichkeiten in Notting Hill beleuchteten und verdeckten zugleich das echte Elend, das an seinen äußeren Rändern existierte. 1975 boten die Gegenden um die Chippenham Road und die Elgin Avenue, Freston Road und Lancaster Road die Aussicht auf einen Schrottplatz. Wo kein Schutt herumlag, standen die Reste des viktorianischen Wohnungsbaus. So wie einige Teile von Camden Town, der Großteil der Docklands und Soho, bevor sie von den Medien entdeckt wurden, schienen diese leeren Räume eine emotionale Wahrheit zu versinnbildlichen: So sah Englands Wirklichkeit aus.

      Freston Road und Elgin Avenue/Chippenham Road waren die Straßen, in denen es massenhaft Hausbesetzungen gab. »Da waren Straßen über Straßen; eine echte Gemeinde«, sagt Joe Strummer, der Sohn eines Diplomaten, der die Kunstschule verlassen hatte, um als Straßenmusiker und Aushilfsarbeiter das Leben eines Bohemiens zu führen. »In der Elgin Avenue hatte der GLC (Greater London Council) entschieden, dass ungefähr hundert viktorianische Reihenhäuser abgerissen werden sollten: Zwischen dem Beschluss und dem tatsächlichen Abriss blühte dort die Besetzerkultur. Wir hatten sogar eine Besetzer-Gewerkschaft. Man ging hin, tauschte – zack – die Schlösser aus. Besitz macht neun Zehntel des Gesetzes aus. Wir waren sehr gut organisiert.«

      Einer Schätzung zufolge lebten 60 Prozent aller Hausbesetzer (ca. 50.000) in London. Hausbesetzungen waren damals sowohl eine ideologische Entscheidung »gegründet auf der Erkenntnis der Sinnlosigkeit und Dummheit von Arbeit« –, als auch eine praktische Lösung für ein grundlegendes Bedürfnis. Dies war die härtere, rauhere Version des Hippietraums, mit einem Soundtrack der Gruppe Hawkwind, und er setzte sich nicht schlechter durch. Zusammen mit dem Arbeitslosengeld machten Hausbesetzungen das Leben in Central London möglich und finanzierbar. Die schnelle Zuwanderung in die Stadt während der Punk-Zeit wurde so ermöglicht.

       24.9.75: Junge Männer lungern an Straßenecken herum, mit hungrigen Augen; wie Hyänen warten sie darauf zu töten.

      Englands »Armut des Begehrens« wurde nirgendwo so sichtbar wie in der Jugendkultur. Jeder Ausflug raus aus den elitären Londoner Nischen führte zu kitschigem Schund, der den Bodensatz von Hippie und Glam darstellte. Dünnes, glattes, ungepflegtes Haar, ausgebeulte Hosen, billig, hell- oder dunkelbraun, mit Bügelfalten und hohem Bund. Die Jugendlichen sahen aus, als hätten sich Erwachsene in Kinderkleidung gezwängt, aber es blieb ihnen nichts anderes übrig, als diese Kleidung zu tragen, weil sie kein Geld hatten. Andererseits hatten sie sich daran gewöhnt.

      »The image and the empire may be falling apart«, sang Murray Head in jenem Herbst; »The Money is getting scarce / one man’s word’d hold the country together / But the truth is getting fierce.« Das einzige, was die Jugendlichen im Land scheinbar bewegte, war ein Bedürfnis nach Ordnung und Macht. Im Oktober 1975 porträtierte die Zeitschrift Let It Rock einige Roxy- und Bowie-Fans: »Wir sollten die Welt regieren, wie wir es früher getan haben«, sagten sie, »ich glaube an alles, was die Rasse reinigt.«

      Dreißig Jahre nach dem verlorenen Sieg, mussten die Schulden mitsamt Zinsen bezahlt werden. Endlich, als die steigende Spannung die dunklen Schatten offenbarte, die auf der englischen Psyche lagen, war die Bühne bereit für ein in die Länge gezogenes Schauspiel über Konflikt, Schuld und Sühne. Als Mrs Thatcher sich daran machte, die Peitsche zu schwingen, begannen die Galionsfiguren in SEX instinktiv das Chaos zu inszenieren, für das Thatcher eine Lösung anzubieten schien. Während Malcolm in New York war, kam eine Gruppe Jugendlicher, die allesamt John hießen, öfter in Nummer 430 vorbei. Obwohl sie unter sich blieben, waren sie anders als die anderen Teenager. Sie kamen aus Arbeiterfamilien in Nord- und Ost-London, waren kampfbereit, eloquent und legten eine gewisse Arroganz an den Tag.

      Der auf den ersten Blick charismatischste John war groß und trottelig und hatte immer das meiste Geld. Manchmal hörte er auf den Namen Sid. Der stillste John der vier, mit grünen Haaren, gekrümmter Körperhaltung und abgerissenem Look, sah aus wie eine Kreuzung aus Richard Hell und Uriah Heep. Bernard Rhodes, dem das selbst umgestaltete »Pink Floyd« T-Shirt aufgefallen war, kam zuerst auf ihn zu: die Augen waren herausgerissen und über dem Logo der Gruppe standen mit Kugelschreiber die Worte »I hate ...«

      »Die von SEX machten etwas anderes als alle anderen«, sagt John Lydon, »und niemand mochte sie, was absolut


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