England's Dreaming [Deutschsprachige Ausgabe]. Jon Savage

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England's Dreaming [Deutschsprachige Ausgabe] - Jon  Savage


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Still, freundlich, oft gedankenverloren, war er nicht die richtige Besetzung für McLarens Sammlung aus Abtrünnigen und Delinquenten. »Als ich McLaren das erste Mal traf, wirkte er ein bisschen unvorbereitet auf mich, weil ich so normal war«, sagt Matlock. »Ich hab mich eigentlich nie mit Glen verstanden«, sagt Steve Jones. »Ich fand ihn ein bisschen schwuchtelig, er war keiner von uns.«

      Jones nutzte den Klassenunterschied aus, indem er auf Matlocks Unschuld herumritt, was kriminelle Aktivitäten anging. Gerade nachdem sie zusammen zu üben begannen, hatte sich Jones mit einem Bass aus einem Laden in der Shaftesbury Avenue davongemacht, um seine damalige Freundin zu beeindrucken. Später schenkte er Matlock den Bass. Er sollte ihn verkaufen. Glen trug ihn runter zur Charing Cross Road, und als er gerade anfing, sich zu wundern, warum es so lange dauerte, wurde er am Kragen gepackt und in einen Polizeiwagen gesteckt.

      Im Sommer 1974 fand die Gruppe eine ideale Situation vor. »Wallys Vater war Elektriker«, sagt Matlock, »und bekam einen Vertrag bei den jetzigen Riverside Studios in Hammersmith, ein altes BBC-Studio, und er musste rausreißen, was nicht mehr gebraucht wurde. Er bekam Zweitschlüssel. Es gab dort einen Akkustikraum, damals der beste in Europa, also begannen wir dort zu proben. Paul arbeitete bei Watney’s in Mortlake, also bauten wir eine Bar auf. Es war wie in Aladins Höhle. Überall lag gestohlene Ausrüstung herum.«

      The Strand eigneten sich die ersten Grundkenntnisse an. »Glen konnte gut spielen«, sagt Warwick Nightingale, »ungefähr so gut wie ich. Steve kriegte kaum einen Ton hin, und Paul hinkte am Schlagzeug meilenweit hinterher.« Sie probten ein Repertoire, das von Matlocks Begeisterung für rauhen Mod-Pop beeinflusst war: harte explosive Songs von den Kinks und den Rolling Stones, fußballhymnenartige Gesänge wie »Build Me Up Buttercup« von den Foundations und »The Baker« von den Small Faces. Damit fanden sie den Rhythmus.

      Es war das Jahr, in dem sich die Leute wieder die Haare schnitten. Pop sollte zugänglicher werden. Pub Rock war Mitte 1974 ein heißes Ding in London. Man konnte den Aufstieg von Gruppen beobachten, die Protziges verachteten und einfachen R&B in einer rasch anwachsenden Zahl von Pubs spielten – vor allem dem Hope&Anchor in Islington. Die Musik war echter Spelunkenrock: funky, eingängig, auftrittsbezogen, eine bewusste Rückkehr zu den Grundlagen, »zurück zu Mono«.

      Der Großteil der frühen Pub Rock-Gruppen gab sich mit aufgewärmtem R&B und Country zufrieden. Das einzige Anzeichen, dass sich etwas Neues anbahnte, hieß Kilburn and the High Roads, dessen Hauptattraktion die bedrohlich verdrehten Auftritte des Poliokranken Ian Dury waren, der mit Rasierklingen im Ohr und Gehässigkeit im Herzen herumlief. Der Durchbruch von Dr Feelgood, der die Metropole elektrisierte, sorgte dafür, dass sich R&B zu einem dichten Geflecht zusammenzog. Das war nicht einfach nur irgendetwas, wozu man Bier trinken konnte, sondern durch und durch bedrohlich: Lee Brilleaux und Wilko Johnson, die beiden Frontleute, sahen aus wie Verbrecher.

      Mit der Erinnerung der Fans an den ursprünglichen Begeisterungstaumel, den der britische Pop ausgelöst hatte, lebte die Musik der 60er Jahre wieder auf. »Nach der Eröffnung des Stands in der Golborne Road«, sagt Ted Carroll, »wurde mir rasch klar, dass es einen Markt für 60er Jahre-Zeug gab, besonders für unbekannte britische Beatbands.« Noch während der Hippie-Ausschweifungen begannen Autoren wie Lester Bangs und Dave Marsh, den unbewußten, krachigen Pop Mitte der 60er Jahre zu feiern. In Amerika hatte der beispiellose Erfolg der Beatles eine Überproduktion ausgelöst, die auch typisch für die Doo-Wop-Manie Mitte der 50er Jahre gewesen war, als die regionalen und überregionalen Charts voll mit Gruppen waren, die wegen der harten Konkurrenz und der Unbeholfenheit der Industrie nur in den Genuss eines einzigen Hits kamen.

      In Unkenntnis der Musik, die vor ihrer Nase lag, kopierten die meisten Gruppen britische Popbands – wie die Rolling Stones oder die Yardbirds –, die ihrerseits versuchten, den Geist des schwarzen amerikanischen R&B einzufangen. Das Ergebnis dieser zweifachen Brechung war ein weißer, fabrikarbeitermäßiger Stil, bei dem jeder schwarze rhythmische Einfluss ausgeblendet wurde und einfach nur Krach zum Vorschein kam.

      Die Idee von Punk, wie Marsh und Bangs sie geprägt haben, kennzeichnete einen Prozess des absichtlichen Verlernens: eine neue Pop-Ästhetik, die Vergnügen fand »am grundlegenden Barbarentum des Rock (und am Wert seiner Vulgarität)«. Auf der Suche nach einem Schlüssel gingen diese Punk-Kultisten – genau wie McLaren und Westwood – zurück in die Geschichte: So wie das Unbewußte angezapft werden sollte, so sollte auch die Zukunft durch die Vergangenheit herbeigeführt werden. Die Wiederverwertung von Abfallprodukten, heute ein Gemeinplatz im Pop, hatte begonnen.

      Im Sommer 1974 betrieb Ted Carrroll ein weiteren kleinen Stand auf dem Soho Markt. Ein alter Freund aus Belfast, Roger Armstrong, stellte sich hinter den Tresen, zunächst für drei Tage, dann die ganze Woche. »Wir verkauften die Sachen direkt und sofort über den Tisch«, sagt Armstrong, ein Musikbegeisterter mit unglaublicher Energie.

      »Ein Haufen Rockabilly, Blues natürlich, auch ein bisschen Sixties Soul, denn es liefen immer noch eine Menge Mods herum. Am besten gingen die New York Dolls, die Flamin’ Groovies, Iggy and the Stooges. Wir verkauften sie kiloweise. Auch Sixties Garagen Musik und Small Faces Platten. Niemand sonst war auf die Idee gekommen, bei Decca anzurufen und herauszufinden, was die noch im Katalog hatten. Sie hatten Small Faces und Them-Alben, und Hunderte von Singles. Es war immer noch das alte System: Sobald eine Platte unter ein bestimmtes Verkaufsniveau fiel, wurde sie automatisch gestrichen, wenn nicht, blieb sie im Katalog.«

      Carrolls Stand belieferte McLaren eher mit den Yardbirds als mit Jerry Lee Lewis. Zusammen mit Cook und Jones zog McLaren durch die Londoner Pubs und Clubs wie das Speakeasy. In einer unschuldigeren Pop-Ära hatte Parnes seinen Schützlingen »Showbiz-Werte« eingeimpft. McLaren schärfte ihnen Ideen ein. »Malcolm begann aufzutauen«, sagt Matlock, »aber was mir echt Spaß gemacht hat, waren die Diskussionen, die ich mit Bernie Rhodes hatte. Er stellte sich vor, ein Mann von Welt zu sein: er interessierte sich für Minimalismus und Dadaismus. Ich wurde offener, weil sie die sechziger Jahre mitgemacht hatten und über die Szene in der King’s Road Bescheid wussten.«

      Als McLarens und Westwoods Ideen für den neuen Laden ehrgeiziger wurden, versammelten sie um sich herum Freunde mit besonderen Begabungen. Vivienne wollte die Linie mit den ärmellosen T-Shirts ausbauen und kompliziertere Ideen aufgreifen, sexuelle Tabus mit situationistischen Slogans verbinden. Bernard Rhodes war ein idealer Kollege: Er hatte nicht nur praktische Erfahrung im Drucken, sondern sein komplexer, abschweifender Unterhaltungsstil warf viele neue Ideen auf. »Die Idee der Sex Pistols war damals nicht wichtig«, sagt Rhodes. »Die Beziehung zwischen Malcolm, mir und anderen Typen um uns herum war wichtig; plötzlich waren da ein halbes Dutzend Leute, die mitmachten. Wir waren noch nicht sehr an Steve und seiner Band interessiert: uns interessierten die T-Shirts und das ganze Konzept des Ladens viel mehr.«

      Im Herbst jedoch hatte McLaren genug. Seine Beziehung zu Vivienne steckte gerade wieder in einer schlimmen Phase. Im November 1974 fuhr McLaren nach New York. »Er sagte zu mir, ›Kümmer dich um Steve‹«, erinnert sich Rhodes, »was hieß: ›Er hat da so eine Art Band, vielleicht können wir da was machen.‹« Bevor McLaren abreiste, entwarfen die drei zusammen ein neues T-Shirt mit ihrem ersten Manifest: »You’re gonna wake up one morning and know what side of the bed you’ve been lying on!« Das T-Shirt stand für einen neuen, polarisierenden Stil, bei dem die hitzige Rhetorik der 68er nachhallte. Hier wurden Väter getötet, Zeitgenossen erledigt, einsame Helden belohnt und in einer über Nostalgie hinausgehenden Beschwörung das neue Zeitalter durch einen Willensakt in die Wirklichkeit überführt.

      Eine damals angefertigte Hassliste umfasste vor allem die tote Kultur der Zeit: Pomp Rocker, verblasste Rebellen, repressive Institutionen, »ein passives Publikum«. Die »Lieblingsliste« beeinhaltete professionelle Sexarbeiter, abtrünnige Künstler, Hard Rocker, IRA-Terroristen, Helden der Arbeiterklasse und, gut versteckt, die erste gedruckte Erwähnung von »Kutie Jones and his SEX PISTOLS«.

Foto

      Von links nach rechts: Arthur Kane, Sylvain Sylvain, David JoHansewn, Jerry Nolan, Johnny Thunders: The New York Dolls, 1974 (© Bob Gruen)

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