Der große Aschinger. Heinz-Joachim Simon

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Der große Aschinger - Heinz-Joachim Simon


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Berlin haben konnte und dennoch auf ihre Avancen bisher nie reagierte, ließ sich in einer einzigen Nacht becircen und umkrempeln. Ein notorischer Junggeselle spielte plötzlich den Lebemann.

      »Ich habe meinen Schneider ins Kontor bestellt. Er wird mit dir nachher Frack und Anzüge anprobieren. Bei deiner Figur brauchst du ja keine Maßanzüge. Schließlich wollen wir uns unter tout Paris nicht blamieren. Die Franzosen blicken ohnehin auf uns Deutsche ein wenig hochnäsig herab.«

      »Ich soll mit nach Paris?«, staunte Sebastian.

      »Natürlich, was dachtest du denn? Kannst du ein bisschen Französisch?«

      »Nein«, gab Sebastian zu.

      »Na, das macht nichts. Wir steigen im Ritz ab, da kommt man auch mit Deutsch und Englisch zurecht.«

      Dann wurde es turbulent. Die Post wurde diesmal im Eiltempo durchgegangen, und eine Sitzung jagte die andere. Der übliche Mittagstisch wurde durch ein mit Buletten belegtes Brötchen ersetzt. Am Nachmittag kam Harry Damrow zu ihm.

      »Ich habe ein Anliegen«, begann er vorsichtig.

      »Es tut mir leid, wir haben heute wenig Zeit.«

      »Bitte, wirf nur einen Blick darauf! Ich halte die Idee für knorke, aber Herr Aschinger hat sie im Frühjahr verworfen. Er hielt sie für zu unseriös und albern. Aber sie ist emotional, lustig und kann zu einem Begriff werden.«

      Nun war Sebastian doch neugierig geworden. Außerdem mochte er Harry Damrow, der ganz in seinem Beruf aufging und oft gute Einfälle hatte. »Na, dann zeig mal her!«, forderte er ihn auf.

      Harry Damrow öffnete die Mappe und legte die Entwürfe auf den Tisch. Sie zeigten eine Straßenbahn ohne Fahrer, ein Fußballtor ohne Torwart, ein Taxi ohne Chauffeur, eine Braut ohne Bräutigam, immer mit der Unterschrift: Wo ist Otto? Unter der mit ein paar Strichen hingeworfenen Zeichnung stand: Er isst bei Aschinger.

      Sebastian dachte an das, was er gelernt hatte, an die Maxime der unablässigen Wiederkehr des Gleichen, an das Gesetz der Vertrautheit durch ständige und doch nuancierte Wiederholung, und nickte. »Das ist eine gute Idee«, lobte er. »Die Zeichnungen müssen sich immer ähnlich sehen, und die Leute müssen süchtig darauf warten, wo Otto nun wieder nicht am Platz ist. Ich werde mit Herrn Aschinger reden. Bereite eine große Kampagne vor, und beleg in den nächsten Tagen alle Berliner Zeitungen! Wir trommeln jeden Tag und in der ersten Woche dreimal täglich in jeder Zeitung. Wenn wir die Botschaft in der Bevölkerung durchhaben, reicht eine Anzeige pro Tag. Mach Sie zweispaltig, fünf Zentimeter hoch mit etwas Freiraum drumherum.«

      »Knorke, ich wusste doch, dass es dir gefallen wird!«, freute sich Damrow. Besorgt setzte er hinzu: »Aber es wird viel Geld kosten.«

      »Das weiß ich doch. Ich berede das mit Herrn Aschinger. Wir fahren heute Abend nach Paris. Lass mir die Entwürfe hier, dann nehme ich sie mit und rufe dich aus Paris an. Ich werde ihm schon klarmachen, dass dies eine großartige Idee ist.«

      »Aber er hat es damals kategorisch abgelehnt.«

      »Wir kriegen das schon hin. Wie bist du nur darauf gekommen?«

      »Ich war im Kranzler, als neben mir ein Mädchen ihre Begleiterin fragte: Wo ist Otto?, worauf diese sagte, der sei sicher noch beim Aschinger und frühstücke. Da habe ich gedacht, das ist es: Wo ist Otto? Er isst bei Aschinger.«

      »Die besten Sachen sind immer ganz einfach.« Sebastian schickte einen glücklichen Menschen hinaus. Er musste sich noch einen neuen Koffer besorgen, denn sein alter war gar zu schäbig, und die neuen Anzüge passten nun wirklich nicht zu dem Pappkoffer aus Schönberg. Da er das Kontor nicht verlassen konnte, schilderte er Elly Proske sein Problem. Diese, eine mütterlich aussehende Mittvierzigerin, die ihn wegen seines Eifers, seiner Höflichkeit und zurückhaltenden Art ins Herz geschlossen hatte, nickte nur.

      »Da machen Sie sich keine Sorgen! Ich rufe bei Wertheim an. Man wird Ihnen unverzüglich einen guten Koffer bringen. Wenn Sie mit Herrn Aschinger verreisen, sollte es schon ein Lederkoffer sein.«

      »Wie dem auch sei, Sie werden schon das Richtige besorgen.«

      »Mach ich, Johnny! Übrigens, bei der Gelegenheit, Sie sollten zu meinen Mädchen im Sekretariat strenger sein.«

      »Warum?«, fragte er verblüfft.

      »Haben Sie nicht bemerkt, dass alle meine Stenotypistinnen bis über beide Ohren in Sie verknallt sind?«

      »Nein«, staunte Sebastian, »ich bin doch nur höflich zu ihnen. Ich bin ja auch nur ein Angestellter.«

      »Das sind Sie eben nicht nur. Zudem sind Sie jung und sehen gut aus, da fiebern die doch regelrecht nach einem Wort und einem Lächeln von Ihnen. Sie müssen Abstand wahren, das sind Sie Ihrer Position schuldig. Sie sind für die Mädchen ein Chef, und das müssen die spüren, sonst machen sie sich nur Gedanken, wie es ihnen gelingen könnte, einen solchen Goldfisch einzufangen. Das bringt mir die ganze Abteilung durcheinander.«

      »Ich werde mich bemühen, etwas griesgrämiger zu sein und nicht mehr mit ihnen zu lachen«, erwiderte Sebastian und lachte doch, und die Proske stimmte mit ein.

      »Es ist sicher alles sehr neu für Sie, nicht wahr?«, fragte sie mitfühlend.

      »Ja, manchmal ist es sehr verwirrend. Und jetzt fahre ich ins Ausland, dabei kannte ich vor kurzem nicht einmal Berlin.«

      »Sie haben einen guten Einfluss auf den Chef. Er ist nicht mehr so nervös, seit Sie hier sind. Machen Sie weiter so!«, sagte die Proske, zwinkerte ihm zu und ging hinaus.

      Am Abend stand er mit dem neuen Koffer wie verabredet am Anhalter Bahnhof. Er hatte sich einen der neuen Anzüge angezogen und fühlte sich so vornehm wie die Reisenden, die mit ihm auf dem Bahnsteig standen, und er merkte, dass ihn manch nachdenklicher Blick traf. Fritz Aschinger war noch nicht da, also ging er zum Bahnhofskiosk und kaufte sich eine Zeitung. In großen Lettern verkündete sie die gewaltigen Zugewinne der Nationalsozialisten bei den Herbstwahlen. Wann wird Hitler Reichskanzler?, fragte die Schlagzeile. Es geht nicht mehr ums Ob, sondern nur noch um das Wann, dachte Sebastian entsetzt. Wenn er weiterhin so Stimmen dazugewinnt, wird dieser unselige Mensch tatsächlich noch Reichskanzler. Er sah nun Fritz Aschinger mit einem Gepäckträger und Toni, dem Chauffeur, herankommen. Neben ihnen trippelte Sieglinde von Weinberg und schwenkte ihre Handtasche.

      »Gut siehst du aus, Johnny! Was dir fehlt, ist ein Mantel. Man geht nicht ohne Mantel auf Reisen. Wir werden dir in Paris einen kaufen«, rief Aschinger mit unternehmungslustig blitzenden Augen.

      »Ich werde ihm ein paar Krawatten aussuchen. Die mit den Blumen sieht gar zu scheußlich aus. Aber sonst sieht er aus wie ein richtiger Herr«, fügte die Baroness hinzu und warf ihm einen koketten Blick zu.

      Nun fuhr der Zug ein, und der Geräuschpegel verstärkte sich. Es kam Bewegung in die wartende Menge. Rauchwolken hüllten sie ein. Der Lautsprecher schepperte. Erregt drängte alles zu den Abteilen. Züge hatten Sebastian schon immer fasziniert, und auch er ließ sich von der Aufregung anstecken. Schon bald würde er in Paris sein, das er nur aus den Büchern von Balzac und Zola kannte. Der Gepäckträger und Toni gingen ihnen mit den Koffern voran. Die Proske hatte Schlafwagenabteile für sie gebucht. Aschinger winkte dem Schaffner, gab diesem ein großzügiges Trinkgeld und bat darum, dass sie nicht gestört wurden und ein Tisch im Speisewagen für sie bereitstand. Das Trinkgeld musste sehr reichlich ausgefallen sein, nach den Verbeugungen des Schaffners zu urteilen. Nachdem der Gepäckträger und der Chauffeur die Koffer verstaut hatten, machten sie es sich im Abteil gemütlich.

      Aschinger zog sein Jackett aus, was ihn alles andere als attraktiv aussehen ließ, denn mit den Hosenträgern und dem nun sichtbaren Hängebauch wirkte er nicht gerade wie ein Adonis. Sebastian bemerkte den leicht pikierten Blick der Baroness.

      »Nun, Sieglindchen, noch eine Nacht, und morgen früh sind wir in Paris. Du hattest ja recht, man muss auch einmal ausspannen. Dafür, dass du mich aus dem Trott gerissen hast, bin ich dir dankbar. Ich werde mich mit einer tollen Idee revanchieren.«

      »Was für eine Idee?«, fragte Sieglinde


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