Eine verborgene Welt. Alina Tamasan

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Eine verborgene Welt - Alina Tamasan


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nach frischem Gras und fruchtbarer Erde. Es war zweifelsohne ein Segen, dass ihr Haus so nah am Wald lag. Noromadi blickte sehnsuchtsvoll zur kleinen Allee, die in das grüne Reich führte. Schon als Kind hatte es sie in den Wald gezogen. Er gab ihr ein Gefühl der Sicherheit, das sie sonst vermisste.

      „Nein, jetzt nicht!“, ermahnte sie sich. Sie drehte dem Wald den Rücken zu und stapfte entschlossenen Schrittes zu der einzigen Haltestelle des kleinen Ortes. Der Bus kam pünktlich und sie stieg ein. Im Inneren war es heiß und stickig, zum Glück fuhren nur wenige Fahrgäste mit, dicht gedrängte Menschenmassen machten ihr Angst. Nach einigen Minuten stieg sie erleichtert aus und sog tief die frische Luft ein.

      ‚Nicht so rein wie bei uns draußen, aber für eine Stadt ganz in Ordnung‘, dachte sie, während sie dem Café entgegenhastete. Sie fühlte sich schon viel ruhiger, doch sobald sie an das Ereignis dachte, das sie seit Tagen beschäftigte, überfielen sie sofort heftige Emotionen und Zweifel nagten in ihr. Sie spürte mehr denn je den Druck, diese Gefühle mit jemandem zu teilen. Von Weitem schon sah sie Martin an einem Tisch vor dem Café sitzen und Cappuccino schlürfen. Als sie auf ihn zukam, erhob er sich von seinem Stuhl, umarmte sie herzlich und gab ihr einen kurzen Kuss auf den Mund.

      „Da bist du ja!“, sagte er erfreut. „Ich dachte schon, du bist unterwegs verschollen!“ Dann sah er ihr in die Augen und stutzte. „Was ist? Hast du geweint?“ Noromadi betrachtete gedankenverloren das bunte Wechselspiel seiner Aura – Farben, die nur sie sah. „Noromadi, ich rede mit dir, was ist los?“ Martin rüttelte sie leicht, sie schrak aus ihren Gedanken und sah ihn mit großen Augen an. „Ich hab doch schon am Telefon gemerkt, dass etwas nicht mit dir stimmt. Was ist passiert?“

      „Ich … ich …“, stammelte sie und schon rannen ihr wieder Tränen über die Wangen, „ich muss dir was erzählen.“ Sie bestellte sich einen Kaffee und trank in kleinen hastigen Schlucken, derweil Martin gespannt wartete. Sie war hin und her gerissen, sollte sie es ihm sagen oder nicht? Doch nun konnte sie nicht mehr zurück. Sie atmete tief ein und begann:

      „Ehrlich gesagt, habe ich ein wenig Angst, es dir zu erzählen.“

      „Aber warum?“, fragte der junge Mann perplex.

      „Weil du mich dann sicher für verrückt hältst.“ Martins Augen verengten sich, ein unbehagliches Gefühl beschlich ihn. Irgendetwas war an dieser Frau, das er nicht verstand. Etwas Unheimliches ging von ihr aus. Trotzdem, es konnte doch unmöglich etwas geben, was sie ihm aus Angst verheimlichte. War es ein anderer Mann?

      „Nein, nein, kein anderer Mann“, sagte sie und rieb sich zerstreut die Schläfen. Martin erschrak. Hatte sie etwa seine Gedanken gelesen?

      „Was ist es dann?“, fragte er unsicher. Noromadi seufzte.

      „Bitte, halte mich nicht für verrückt, und … erzähl es niemandem, ja?“ Sie sah ihn eindringlich an. „Versprich es mir!“

      „Ja, ja, okay, ich verspreche es“, antwortete Martin unsicher und neugierig zugleich.

      „Wahrscheinlich hast du in deinen Naturwissenschaften schon herausgefunden, dass es Dinge gibt, die man nicht erklären kann, zumindest nicht mit dem logischen Verstand.“ Martin fürchtete, dass dieses Gespräch wieder auf ihre Halluzinationen abzielte und wollte schon aufspringen, aber er hielt sich zurück, er wollte ihre Geschichte hören.

      „Ich“, sie schluckte, „ich kann deine Aura sehen. Ich weiß, dass du im Moment sehr aufgewühlt bist und andere Energiefelder sehe ich auch. Das ist keine Einbildung, so wahr ich hier vor dir sitze! – Daran habe ich mich mittlerweile gewöhnt. Oder besser: Ich habe mich damit abgefunden. Aber das, was ich im Wald erlebt habe, das sprengt alles!“ Ihre Stimme zitterte und in ihren Augen funkelte die Angst.

      „Was hast du im Wald erlebt?“, fragte Martin mit einer Mischung aus Neugier und Mitleid. Noromadi sah auf, sie gewahrte seine Skepsis.

      „Bitte, Martin, so glaube mir doch!“, flehte sie. „Ich habe Kontakt zu sehr hellen Lichtwesen. Sie bestehen aus buntem Licht und ich … ich nenne sie Engel, weil sie sehr freundlich sind und mir wertvolle Ratschläge erteilen.“ Ihr Freund runzelte die Stirn. „Normalerweise höre ich ihre Stimmen in meinem Kopf und nehme sie als innere Bilder wahr. Aber als ich neulich im Wald war, da ist mir ein solches Wesen erschienen. Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich es leibhaftig vor mir gesehen und nicht nur im Kopf. Du hättest das sehen sollen: diese Farben, dieses Licht und diese unglaublich warme und volltönende Stimme. In dem Moment fühlte ich mich wie im Himmel – sicher und geborgen. Das Wesen stellte sich vor und erzählte mir die unglaublichste Geschichte meines Lebens!“

      „Wie lange geht das schon, dass du so was siehst?“ Martin vermied es geflissentlich, das Wort wieder zu benutzen.

      „Ah, schon lange“, Noromadi machte eine wegwerfende Handbewegung, „ich wollte es eigentlich niemandem erzählen, aber es war so schön, zu schön, um es für mich zu behalten. Und außerdem … na ja, es ist ja nicht nur das, vor allem ist es die Geschichte, die mir der Engel erzählte. Seitdem ich die kenne, war ich nicht mehr im Wald!“

      „Was für eine Geschichte war das denn?“

      „Er erzählte mir vom Weltenbruch. Er sagte, früher hätte es eine Welt gegeben, in der jeder Jeden sehen konnte. Da sahen wir Menschen die Lichtwesen und Wesen der Natur. Und dann, sagte er, wäre die Welt wie ein Kuchen in drei Teile zerborsten, und deshalb gäbe es nun drei voneinander getrennte Welten: die der Menschen, die der Naturwesen und die geistige Welt der Lichtwesen. Wir Menschen hätten mit der Zeit vergessen, dass es die Welten der anderen gibt, deswegen sähen wir sie nicht mehr. Damit gehe es uns nicht gut, und auch die Naturwesen litten darunter, dass sie den Kontakt zu den Lichtwesen und uns verloren haben. Das alles bekommt natürlich auch der Erde nicht, denn alles, was eigentlich zusammengehört, ist entzweigebrochen. Dann erzählte mir der Engel von einer Prophezeiung. Nämlich, dass eines Tages ein Mischwesen erscheine, das zum Einen aus dem Naturvolk und zum Anderen aus dem Volk der Menschen stamme, und das diese Welten vereine. Dabei sah er mich ganz eindringlich an, weißt du? Ganz so, als sollte ich das sein! Ich zitterte am ganzen Körper. Aber er strich mir durchs Haar und sagte: ‚Es ist ganz wichtig, dass du dich nicht fürchtest, mein Kind.‘“ Noromadi wollte fortfahren und erklären, was der Engel ihr von diesem fremden Volk geweissagt hatte, aber sie schluckte die Worte hinunter, Martins Aura gefiel ihr gar nicht.

      „Du glaubst also, du bist diese Auserwählte?“, er sah sie skeptisch an.

      „Ich … ich“, stammelte sie, „ich weiß es nicht. Ich meine, es ist etwas Spezielles, solche Dinge zu sehen, und es ist umso unheimlicher, auf einmal da mit hineingezogen zu werden. Ich weiß es nicht … Sieh mich doch mal an, Martin, und dann sieh dich an. Ich bin dir nicht geheuer, zu Recht, denn ich bin nicht von dieser Welt.“ Sie schluchzte und vergrub ihr Gesicht in den Händen. Die Leute an den Nachbartischen starrten herüber, das war dem jungen Mann sichtlich unangenehm.

      „Na, komm schon“, flüsterte er, „hör auf zu weinen.“

      „Ach“, schluchzte sie, „vielleicht hast du recht, vielleicht ist dieser ganze Kram der reinste Psycho-Unsinn. Am liebsten würde ich alles stehen und liegen lassen und mich verkrümeln. Irgendetwas fände sich schon …“

      „Für was?“, bohrte Martin nach. „Sag nicht, du möchtest dich mal wieder umbringen!“, setzte er mit einem leisen Anflug von Panik hinzu. „Hat dir das eine Mal nicht gereicht? Musst du wieder damit anfangen? Warum, in Herrgottsnamen, beschäftigst du dich nicht wie andere Frauen mit normalen Dingen, Partys, Kino und was weiß ich alles?!“

      „Ich kann doch nichts dafür!“, schluchzte Noromadi hilflos. „Ich will das doch gar nicht. Ich will normal sein, so wie du und die anderen Frauen, wie meine Eltern und wie alle Menschen.“

      „Gut!“ Martin beruhigte sich und legte seinen Arm um sie. „Versprich mir, dass du nie wieder an solchen Unsinn denkst, hast du verstanden?“ Er sah sie eindringlich an. „Ich liebe dich, hörst du? Und ich will dich nicht an irgendwelche Psychoklempner verlieren, die dich wegsperren und mit Medikamenten vollpumpen, bis du nur noch ein Schatten deiner Selbst bist!“

      „Du


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