Eine verborgene Welt. Alina Tamasan

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Eine verborgene Welt - Alina Tamasan


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aus, gehst nach Hause und legst dich etwas schlafen. Hast du verstanden?“ Noromadi nickte ergeben. Insgeheim fühlte sie sich jedoch wie ein kleines Kind zurechtgewiesen und verraten. Nicht nur, dass er sie nicht ernst nahm, er hielt sie wirklich für verrückt. – War sie es? Wut keimte in ihr auf, aber sie sagte nichts, sondern tat, wie ihr geheißen. Bei der Verabschiedung umarmte sie ihn matt, sein Kuss fühlte sich kalt und herzlos an.

      Auf dem Weg zur Haltestelle fragte sie sich, ob Martin wirklich der Richtige für sie war. Bisher hatte sie ihn immer als eine Art „Realitätsanker“ gesehen, der sie am Boden der Tatsachen hielt und ihr aufzeigte, wie „Normal-Sein“ funktionierte. Natürlich wollte sie normal sein, aber es ließ sich immer weniger leugnen, dass sie es nun einmal nicht war.

      ‚Er braucht eine Frau, die so ist wie er. Eine, für die nur der Verstand zählt, eine strebsame junge Naturwissenschaftlerin aus gutem Hause, die Manieren hat und weiß, was sich gehört. Mit ihr kann er sich dann über die logischen Zusammenhänge der Welt unterhalten und eineinhalb Kinder zeugen.‘ Noromadi schüttelte den Kopf. ‚Sei nicht so gehässig‘, fuhr sie sich an. ‚Hättest du dir einen Typen geangelt, der so ist wie du, meine Güte, dann wärt ihr beide irgendwo im rosafarbenen Nirwana verschwunden. Also sei froh, dass du Martin hast!‘ – Sie seufzte und stieg in den Bus. Als sie zu Hause ankam, war sie froh darüber, dass ihre Eltern noch nicht da waren. Sie ging auf ihr Zimmer und legte sich ins Bett. ‚Ich muss aufhören zu denken‘, dachte sie, ehe sie in einen unruhigen Schlaf fiel.

      Doktor August betreute Noromadi seit sie vor gut drei Jahren aus der geschlossenen Anstalt entlassen worden war und sie besuchte seine Sprechstunde wöchentlich. Die vielen Sitzungen hatten zu dem gewünschten Ergebnis geführt. Mit Stolz blickte der Psychiater auf seine Patientin, die nach dem gelungenen Schulabschluss nun aufs Studium wartete. Sie mochte zwar nicht überragend gescheit sein, aber sie hatte sich durchgebissen und war zu einer durch und durch integrierten jungen Frau geworden. Was ihm ihre Eltern kürzlich über sie berichtet hatten, konnte daher kaum möglich sein. Als Freund der Familie lag ihm das Schicksal des Mädchens sehr am Herzen.

      Als Noromadi den Raum betrat, bemühte er sich, seine innere Erregung nicht anmerken zu lassen. Er erwiderte ihren Gruß und bat sie, Platz zu nehmen.

      ‚Irgendetwas ist heute anders‘, schoss es Noromadi durch den Kopf. ‚Seine Aura flackert so merkwürdig und ist von tiefem Blau.‘

      „Womit wollen wir beginnen?“, eröffnete sie die Sitzung. Dr. August rieb sich nervös die dünnen Hände und räusperte sich umständlich.

      „Was für eine Farbe hat meine Aura?“ Die junge Frau zuckte überrascht zusammen, ihr Kinn klappte auf und wieder zu.

      „Wie bitte?“, fragte sie unsicher.

      „Meine Aura, Noromadi, welche Farbe hat sie?“ Einen Augenblick lag Totenstille im Raum. Sie wusste nicht, was sie antworten sollte. Glaubte dieser Mann jetzt wirklich an übernatürliche Erscheinungen oder stellte er diese Frage, weil er ihr eine Aussage entlocken wollte, die ihr womöglich zum Verhängnis werden könnte?

      „Was ist eine Aura?“, fragte sie vorsichtig und blickte ihn wie ein scheues Reh an.

      „In einem Wissenschaftsmagazin habe ich darüber gelesen“, antwortete Dr. August knapp. „Es heißt, es sei ein messbares farbiges Energiefeld, das jeder Mensch ausstrahlt, das aber mit bloßem Auge nicht erkennbar ist. Aus deiner Akte weiß ich, dass du sie früher sehen konntest, kannst du es wieder?“ Noromadi murmelte:

      „Blau.“

      „Seit wann bist du wieder in der Lage sie zu sehen?“

      „Och“, wisperte die kleine Frau, „seit anderthalb Jahren.“

      „Ah so! Was siehst du noch? Es gibt sicher eine Menge Dinge hier, ja, zum Beispiel in diesem Zimmer. Dinge, die ich nicht sehen kann.“

      „Da ist nichts …“

      „Nichts? Wirklich rein gar nichts?“ Der Doktor beugte sich vor und sah sie mit seinen blauen Augen forsch an. Dabei rang er sich ein wissendes Lächeln ab.

      „Was wollen Sie hören?“

      „Was hier in diesem Raum noch ist.“ Noromadi rieb sich nervös die spitzen Finger und rutschte auf ihrer Liege hin und her. Derweil wanderten ihre Augen durch den Raum und blieben plötzlich an einem Punkt rechts hinter dem Psychiater stehen. „Was ist da?“, fragte Dr. August und wandte sich um. Die junge Frau hatte hinter seinem eigenen ein weiteres Energiefeld entdeckt. Es war bunt und formte undeutlich eine Gestalt, deren Umrisse sie jedoch nicht erkennen konnte. Aber sie fühlte deutlich die Liebe und Geborgenheit, die von ihm ausgingen. Über ihrem eigenen Kopf schwebte eine Wolke, die violett leuchtete.

      ‚Bitte helft mir! Was soll ich sagen?‘, schrie sie ihre Bitte an die geistige Welt, aber sie erhielt keine Antwort.

      „Noromadi?“, hakte der Psychiater nach.

      „Rechts hinter Ihnen steht jemand“, antwortete sie bebend.

      „Wer?“

      „Es ist Ihr Schutzgeist – manche nennen es Schutzengel.“

      „Was ist noch im Raum?“

      „Mein Schutzengel.“

      „Wo steht der?“

      „Er schwebt über meinem Kopf.“

      „Noromadi, machen dir diese Erscheinungen Angst? Wie fühlst du dich dabei?“

      „Meistens gut.“

      „Aber nicht immer?“

      „Nein, manchmal machen sie mir Angst.“

      „In welchen Fällen?“ Die kleine Frau schluckte. Wieder blickte sie auf seine Aura, und auf seinen Schutzgeist. Auf einmal formte sich aus der bunten wabernden Energie eine Hand, die eine Geste machte: Nein!

      „Ach, manchmal ist es einfach nur ungewohnt, dass ich Dinge sehe, die sonst keiner sieht, mehr nicht“, antwortete sie so selbstbewusst wie möglich.

      „Da haben mir deine Eltern aber etwas anderes berichtet!“ Dr. August lehnte sich zurück und schrieb etwas in sein Notizbuch.

      „Meine Eltern?!“ Aus Noromadis Gesicht wich alle Farbe.

      „Ja, deine Eltern. Vorgestern riefen sie mich ganz aufgelöst an, weil sie erfahren hatten, dass du mit dem Gedanken an Selbstmord spielst?“

      „Von wem haben sie das erfahren?“ Noromadi biss sich dafür sogleich auf die Lippe.

      „Als Freund der Familie weiß ich, dass sich sowohl dein Partner Martin als auch deine Eltern Sorgen um dich machen. Und wenn ich mich an ihre Aussage erinnere und höre, was du mir da erzählst, geht es mir ähnlich!“

      „Aber ich habe nie gesagt, dass ich mich umbringen will“, protestierte die kleine Frau aufgebracht.

      „Auren und Engelserscheinungen, das alles mögen Dinge sein, die in einigen Sitzungen therapierbar sind, aber die Geschichte mit den getrennten Welten, irgendwelchen Prophezeiungen oder auserwählten Mischwesen, das ist definitiv etwas, was mir Sorgen bereitet! Diese Sache ist es nämlich, die dir Angst macht, und womöglich für dich ein Grund mehr, Dinge zu tun, die nicht gut für dich sind!“

      „Aber verstehen Sie denn nicht?!“, rief Noromadi aufgelöst. „Ich habe das nie gesagt … und wenn, würde es Sie am allerwenigsten angehen!“

      „Hör mal, mein liebes Kind“, die Stimme des Psychiaters wurde samtig. „Ich verstehe, wie du dich fühlst. Solche Angelegenheiten sind nicht einfach zu verarbeiten. Dass du in diesem Fall Panikattacken hast, ist völlig normal. Was ich dir sagen möchte, ist: Du bist damit nicht allein!“

      „Wie meinen Sie das?“

      „Es gibt Menschen, die ebensolche Dinge erleben, Dinge, die sie nicht erklären können und an denen sie verzweifeln.“

      „Und, was möchten Sie mir vorschlagen?“, fragte Noromadi kühl.


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