Der Tanz des Mörders. Miriam Rademacher

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Der Tanz des Mörders - Miriam Rademacher


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ob mir an dem Regal etwas auffällt, aber nein, er hat Colin gefragt. Der hat aber nur einen scharfen Blick, wenn es um Menschen geht und nicht um Dinge.«

      Colin errötete unter Jaspers forschendem Blick, der jetzt auf ihm lag. Prompt verpatzte er den nächsten Wurf, womit Jasper wieder einmal als Sieger aus der Partie hervorging. Jasper grinste breit über sein rundes Gesicht und blinzelte zufrieden durch die Nickelbrille. Colin und Norma zuckten die Achseln, sie hatten nichts anderes erwartet. Sie nahmen an einem runden Kaffeetisch mit zerkratzter Marmorplatte Platz, der im Lost Anchor ein wenig deplatziert wirkte, aber dem Dartautomaten am nächsten stand. Jasper drehte einen der schäbigen Stühle herum und setzte sich breitbeinig, das Kinn auf die Lehne gestützt, darauf. Colins Stuhl knarrte bedrohlich, als er sich zurücklehnte, hielt aber durch.

      »Ist das wahr, Colin? Hast du einen Blick für Menschen?« Jaspers kleine Äuglein waren fest auf Colin gerichtet, der sich, um nicht antworten zu müssen, einen großen Schluck seines Bieres genehmigte. Hätte er bloß nie ein Wort darüber verloren. Er hielt es nicht für eine Gabe, sondern für eine nützliche kleine Spielerei, die ihm in seinem Berufsleben oft geholfen hatte.

      Menschen waren schwierig. Insbesondere, wenn sie ihre erste Tanzstunde bei einem fremden Tanzlehrer hatten. Für manche war das unangenehmer als ein neuer Arzt. Mit der Zeit wurden Colins Studien der Körpersprache ein wichtiges Hilfsmittel. Er sah, er spürte, wie er mit wem umgehen durfte, wen er berühren konnte, wer von sich selbst überzeugt war, wer seinen eigenen Körper kaum spürte und wann er jemanden überforderte, noch bevor dieser es richtig mitbekam. Das hatte einen wesentlichen Teil seines Erfolges in der Branche ausgemacht.

      »Und wie er das hat. Komm, Colin, zeig es Jasper mal. Sieh dir doch mal die Frau da hinten an. Die, die gerade zu den Toiletten geht. Was siehst du?«

      Colin drehte den Kopf in die von Norma angedeutete Richtung. Ein junges Mädchen ging mit beschwingten Schritten auf die Toilettentür für Damen zu. Ein ungewöhnliches Mädchen. Sie trug ein himmelblaues Kleid, wie es Mitte der Fünfzigerjahre in Mode gewesen sein dürfte, mit Blusenkragen, breitem Gürtel und Petticoat. Das blonde Haar war zu einem Pferdeschwanz gebunden, die weißen Lackschuhe waren zierlich, die Absatzhöhe war moderat. Als sie die Klinke der Tür hinunterdrückte, sah sie sich kurz im Schankraum um. Colin wandte sich hastig ab und traf auf die neugierigen Blicke seiner Gegenüber. Er hörte, wie sich die Toilettentür hinter dem Mädchen schloss. Colin seufzte.

      »Fein, wenn es euch so viel Spaß macht. Die Kleine bewegt sich sehr elegant und sehr grazil. Sie könnte Tänzerin sein, ist sie aber nicht, und das trifft eigentlich schon den Kern der Sache.« Er nahm einen Schluck aus seinem Glas und ließ seine Zuhörer einen Augenblick lang zappeln. Dann fuhr er fort: »Ihre Bewegungen sind einstudiert, sie kontrolliert sich selbst, als würde sie andauernd vor einem Spiegel stehen. Sie hat sich eine hübsche Fassade aufgebaut und unterstreicht sie gekonnt durch gefällige Kleidung, die aber nur ein Kostüm darstellt. Für manche ist ihre Kleidung ein Statement, doch nicht für sie. So will sie von ihrer Umwelt gesehen werden. Es gehört zur Show. Sie streckt nicht einmal die Hand zur Türklinke aus, ohne darüber nachzudenken. Sie ist eine Schauspielerin, die immer auf der Bühne steht. Gelegentlich vergewissert sie sich, ob sie Publikum hat. Findet sie einen Zuschauer in der Menge, bestätigt sie dies nur in ihrem Gefühl, dass sie ständig beobachtet wird und immer präsent und kontrolliert sein muss. Das arme Mädchen braucht meiner Meinung nach dringend etwas Selbstbewusstsein. Dann könnte sie sich ein wenig entspannen. Ein Verehrer wäre sinnvoll, aber ich kann leider keinen aus der Tasche zaubern. Ihr vielleicht?«

      Einen Augenblick lang herrschte Schweigen am Tisch der drei. Norma warf Jasper einen triumphierenden Blick zu, als habe sie soeben eine besondere Leistung vollbracht. Dann winkte sie die beiden Männer dichter zu sich heran. Die Köpfe der drei berührten sich fast über dem Tisch.

      Norma flüsterte mit Verschwörerstimme: »Ihr Name ist Vivian Small. Das Kind wird von seinen ehrgeizigen Eltern gnadenlos in allen Bereichen der Kunst gefördert, ob sie will oder nicht. Ihre Eltern hoffen, dass sich auf diese Weise irgendein besonderes Talent entdecken lässt, und Vivian fürchtet permanent, sie könnte ihre Eltern enttäuschen und sich als absolut durchschnittlich entpuppen. Das Mädchen ist chronisch überfordert und hat nur selten Zeit für sich. Alle im Dorf wissen, dass sie für den jungen Dan von der Tankstelle schwärmt, aber der wäre ihren Eltern niemals gut genug für ihr Goldkind. Also ist Vivian ein braves Mädchen und betet Dan nur aus der Ferne an.«

      Mit einem leichten Räuspern verschaffte sich jetzt auch Jasper Gehör. Auch er verfiel unbewusst in einen rauen Flüsterton. »Ihre große Schwester starb bei einem Badeunfall, als Vivian noch ganz klein war. Die Familie hat den Verlust nie verwunden und fokussiert sich auf Vivian. Ihre Mutter besucht jede Woche meine Kirche. Immer, wenn ich mich mit der armen Frau unterhalte, kreist ihr ganzes Denken um Vivian und ihre Ausbildung. Das Mädchen konnte in der Schule nie besonders glänzen, sie ist nicht von der hellsten Sorte. Also sucht man ihre Stärken woanders. Nach dem, was du gerade in ihren Bewegungen gelesen hast, tut man dem Kind damit keinen Gefallen. Der Druck unter dem sie lebt, muss enorm sein. So etwas ist auf Dauer nicht gesund.«

      »Ha!«, entfuhr es Norma, und sie warf sich mit triumphierendem Blick in ihrem Stuhl zurück. »Dafür hätte unser Detective Sergeant Dieber doch Wochen gebraucht!«

      Colin sank seinerseits auf dem Stuhl zurück und spürte schmerzhaft die harte Lehne in seinem leidenden Rücken. Er unterdrückte jegliche Reaktion darauf und hob stattdessen fragend die Brauen. »Warum sollte sich der Sergeant denn für Vivian interessieren?«

      Norma sah ihn mitleidig an. »Dieber interessiert sich natürlich nicht für Vivian. Er sucht einen Mörder. Oder eine Mörderin, wer weiß das schon. Wäre es da nicht sehr nützlich, wenn er nur einen Blick auf seine Mitmenschen werfen müsste, um dann in einer wahren Fülle von Informationen zu schwimmen? Stattdessen bringt er es nicht einmal fertig, die richtigen Leute nach den richtigen Dingen zu fragen.«

      Colin machte sich in Gedanken eine Notiz über Norma. Sie war nachtragend. Eine kleine Schwäche, die man im Umgang mit ihr berücksichtigen musste.

      Jasper ritzte mit den Fingernägeln im Holz der Stuhllehne vor sich herum und murmelte: »Diebers naheliegendstes Problem ist wohl eher sein Nichtwissen in Bezug auf das Fehlen eines gewissen Kartons. Wüsste er von dem Karton, könnte er etwas über seinen Inhalt in Erfahrung bringen, und erst das würde ihn zu verdächtigen Personen führen.«

      »Ha, aber wir kennen den Inhalt des Kartons«, rief Norma laut und schüttelte sich ein paar rosa Ponyfransen aus der Stirn.

      »Ach wirklich?« Colin war amüsiert. »Schließ doch bitte nicht von dir auf andere, Norma. Ich habe keine Ahnung, was Mrs Summers in besagtem Karton versteckte. Und nach allem, was sie selbst darüber sagte, weiß ich auch nicht, ob ich den Inhalt kennen möchte. Danach würde ich wahrscheinlich völlig geschockt das Dorf verlassen und nie mehr zurückkehren.«

      »Ja, das sähe dir ähnlich. Aber bevor du aus meiner Gemeinde tänzelst, klärst du mich bitte noch auf. Was hast du gegen den grünen Karton und seinen dir unbekannten Inhalt vorzubringen?« Jasper amüsierte sich augenscheinlich köstlich. Seine Augen funkelten und seine Nägel gruben sich mit einer wahren Besessenheit immer tiefer in die Stuhllehne. Colin klärte ihn auf. Warum auch nicht? Schließlich war Jasper sowieso an allem schuld.

      »Nachdem du mich zu dieser Gewitterziege auf ihren Berg gejagt hast und sie sich so schmeichelhaft über all ihre Nachbarn ausgelassen hat, habe ich mit einer leichten Missbilligung reagiert. Daraufhin meinte sie, dass der Inhalt des grünen Kartons für mich ungeeignet sei. Ich solle lieber einen anderen wählen. Ich wählte einen, den Norma mir empfahl, und so blieb mir vermutlich ein Karton voller dokumentierter Peinlichkeiten erspart.«

      Jasper pfiff durch die Zähne. »Heiße Ware, ja? Belastende Fotos, aufgenommen von einer bösartigen alten Dame? Das klingt wirklich nach einem Mordmotiv. Nach einem richtig guten, wenn ihr mich fragt.« Jasper hörte auf, den Stuhl zu malträtieren und erwählte an Stelle seiner einen weichen Bierdeckel als nächstes Opfer. »Was aber ist auf diesen Bildern zu sehen?«, sinnierte er, und erste Krümel gelber Pappe rieselten zu Boden.

      Norma hob die Hand wie ein Schulmädchen,


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