Im Austausch mit der Welt. Andrea Franc
Читать онлайн книгу.des 19. Jahrhunderts setzte die Schweiz als erstes und lange Zeit einziges Land ihre aus der Frühen Neuzeit übernommene, freihändlerische Praxis entgegen. Der vorübergehende Durchbruch freihändlerischer Gesichtspunkte in der Mitte des 19. Jahrhunderts unter der Führung Grossbritanniens bedeutete aus schweizerischer Perspektive eine Annäherung der protektionistischen Umwelt an die freihändlerische Tradition der Eidgenossenschaft, nicht umgekehrt.
Etikette für den osmanischen Markt der Firma Tschudi in Schwanden, undatiert, vermutlich Ende 19. Jahrhundert.
Peter Jenny (1824–1879)
Der Glarner Textilkaufmann Peter Jenny trieb die Gründung eines nationalen Handels- und Industrievereins voran. Auf Jennys Initiative hin schrieb die Glarner Handels-Commission im Frühjahr 1869 die verschiedenen kantonalen Handelskammern an. Nach der Gründung des Schweizerischen Handels- und Industrievereins (SHIV) amtete er bis 1877 als Ausschussmitglied des Verbands. Jenny war Bauernsohn, absolvierte aber eine kaufmännische Ausbildung in Wattwil und Ancona sowie Lehrjahre bei einer deutschen Handelsgesellschaft in Singapur. Mit seiner Schwiegerfamilie führte er die Textildruckerei und die global tätige Handelsgesellschaft Blumer & Jenny mit Sitz im glarnerischen Schwanden. Im heute denkmalgeschützten Hänggiturm der Textildruckerei, wo die farbigen Stoffe in langen Bahnen zum Trocknen aufgehängt wurden, befindet sich heute das Glarner Wirtschaftsarchiv.
Peter Jenny eröffnete eine Firma in Manila auf den Philippinen. Diese importierte Textilien des Stammhauses in Schwanden sowie Uhren und Musikdosen und exportierte philippinischen Tabak, Zigarren und Zucker. Wie im schweizerischen Bundesstaat üblich, war Jenny Unternehmer, Politiker und Diplomat zugleich. In Manila war er zwangsläufig auch Konsul. Er amtete von 1863 bis 1879 als Glarner Ratsherr und war Mitglied der Glarner Standeskommission, sass zwischen 1866 und 1872 im Nationalrat und zwischen 1875 und 1877 im Ständerat. Peter Jenny gehörte zu jenen Fabrikanten, die eine gesetzliche Regelung der Industriearbeit guthiessen. Glarus gab sich als erster Schweizer Kanton ein Fabrikgesetz; Jenny gehörte der entsprechenden Kommission an. Nachdem mit der neuen Bundesverfassung von 1874 der Bund für das Arbeitsrecht zuständig geworden war, arbeitete Jenny 1877 in der Expertenkommission für das eidgenössische Fabrikgesetz mit. Er war zudem von 1864 bis 1878 Verwaltungsrat der Vereinigten Schweizerbahnen und initiierte die 1879 eröffneten Bahnlinie ins Glarner Hinterland.
Hänggiturm der Firma Blumer & Jenny in Schwanden. Hier wurden die farbig bedruckten Tücher für die überseeischen Märkte zum Trocknen aufgehängt.
Vom christlichen Unternehmer zur Corporate Social Responsibility and Sustainability
Die Industrialisierung in Europa sowie die Expansion nach Asien, Afrika und Lateinamerika zogen auch die Frage nach dem ethischen Verhalten der modernen Unternehmen nach sich. Inwieweit waren Fabrikbesitzer verantwortlich für das Wohlergehen ihrer Arbeiter? Welche moralischen Verpflichtungen erforderte der Handel mit Nichtchristen? Während fast zwei Jahrhunderten war die Frage nach der Unternehmerverantwortung eine religiöse Frage. Die ersten, wohl bedeutendsten Schritte waren die sogenannte Abolition, das Verbot des transatlantischen Handels mit Sklaven durch das britische Parlament 1807, und das Verbot der Sklaverei durch den Wiener Kongress 1815. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts gab es in der Schweiz zahlreiche Publikationen, Gesellschaften oder Aktionen zur Befreiung von Sklaven in den USA oder in Afrika. Die «äussere» Mission, das heisst die christliche Mission in den nicht christlichen Gebieten der Welt, fokussierte insbesondere darauf, Landwirtschaft und Handwerk zu fördern. Ziel war, den Handel mit Sklaven durch den Handel mit Baumwolle, Palmöl oder anderen Gütern zu ersetzen. Die Basler Mission, eine der weltweit bedeutendsten protestantischen Missionen im 19. Jahrhundert, gründete dafür 1859 die Basler Missionshandelsgesellschaft AG, die im heutigen Ghana mit Kakaopflanzen experimentierte und 1892 den ersten Sack afrikanischen Kakao nach Hamburg exportierte. Die Tatsache, dass Basler Unternehmer zu dieser Zeit ausgerechnet eine Aktiengesellschaft gründeten, weist auf die karitative Absicht hin. Bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden Aktiengesellschaften in der Schweiz für kulturelle und karitative Zwecke benutzt. Protestantische Unternehmer leiteten und finanzierten die Basler, Lausanner und Neuenburger Missionen. Die gleichen Unternehmer engagierten sich auch in der «inneren» Mission, also in der Besserstellung der Arbeiterschaft in den Industriebetrieben. Sehr typisch für das christliche Unternehmertum war etwa der Bau von Arbeitersiedlungen, wie sie ab den 1850er-Jahren um Industriebetriebe in der Schweiz entstanden. Ab 1860 wurden die ersten kantonalen und dann nationalen Gesetze zum Arbeitsrecht erlassen, die freiwillige Standards ersetzten.
Christliche Unternehmer des 19.Jahrhunderts vernetzten sich auch international. So trafen sich etwa 1871 an einer Konferenz in Bonn protestantische Unternehmer aus dem deutschen Sprachraum, um christliche Unternehmensverantwortung zu diskutieren. Unternehmer wie der Neuenburger Uhrenfabrikant und Grossrat Henri DuPasquier oder der Basler Seidenbandfabrikant und Ratsherr Karl Sarasin schlossen sich daraufhin im Schweizerischen Ausschuss zur Förderung der Bestrebungen der Bonner Konferenz zusammen, um gemeinsam christliches Unternehmertum zu gestalten. Mitglied des Ausschusses war auch der deutsche Professor und Experte für Arbeiterfragen Victor Böhmert, der 1872 auch in den Vorortsausschuss gewählt wurde.
Eine neue Herausforderung kam auf die Schweizer Unternehmer im Zweiten Weltkrieg zu, als sie sich entscheiden mussten zwischen der Aufrechterhaltung des «Courant normal», das heisst einer Aufrechterhaltung der wirtschaftlichen Beziehungen mit dem nationalsozialistischen Deutschland, oder einem Abbruch derselben aus ethischen Gründen und dem sicheren Zusammenbruch der Versorgung der Schweiz. Die politische Neutralität gestaltete sich faktisch einfacher als die wirtschaftliche Neutralität. Die Aufrechterhaltung des «Courant normal» wurde von den Alliierten später auch abgestraft, indem sie Schweizer Unternehmen aufgrund ihres Handels mit Deutschland ab Oktober 1943 auf eine schwarze Liste setzten.
Die erste Arbeitersiedlung der Schweiz, erbaut durch die Spinnerei Rieter in Winterthur, 1852.
In der Nachkriegszeit und nach dem globalen Umbruchjahr 1968 erfolgte eine rasante und einschneidende Änderung der Wahrnehmung von Grosskonzernen, deren Auslandsinvestitionen und von Grossbanken. Praktisch über Nacht bot die Privatwirtschaft nicht nur in der Schweiz, sondern in der gesamten westlichen Welt plötzlich viel Angriffsfläche. Aktivisten setzten sich gegen industrielle Grossprojekte in der Dritten Welt ein, und die Gewerkschaften waren auf der Höhe ihres Einflusses, während Industriebetriebe in der Schweiz unter dem gleichzeitigen Druck der internationalen Konkurrenz einen tiefgreifenden Strukturwandel durchliefen. Mit der sogenannten Bankeninitiative der Sozialdemokratischen Partei, die sich gegen die Aufnahme von Diktatorenfluchtgeldern in der Schweiz wandte, geriet die Schweizer Wirtschaft innenpolitisch unter Druck und wurde gezwungen, Korrekturen vorzunehmen, auch wenn die Initiative 1984 abgelehnt wurde. Der Druck hielt weiter an, als einige Schweizer Unternehmer die Neutralität der Schweiz anführten, um trotz internationaler Sanktionen gegenüber dem Apartheid-Regime weiterhin in Südafrika tätig zu bleiben. Diesmal konnten die in Südafrika tätigen Unternehmer jedoch nicht wie früher im Zweiten Weltkrieg das Überleben der Schweizer Bevölkerung als Argument vorbringen. Im Gegenteil, der Wohlstand in der Nachkriegszeit und der Frieden in Westeuropa brachten es mit sich, dass die Bevölkerung von der international tätigen Unternehmerschaft ein verantwortungsvolles Verhalten in der Dritten Welt und gegenüber der Umwelt einforderte. Doch was verstanden die Kritiker genau unter «Konzernverantwortung»? Die Forderungen der NGOs und Hilfswerke an die Schweizer Unternehmen hatten sich seit 1968 geändert und waren nicht immer klar und kohärent gewesen. Zunächst forderten die Initianten der «Erklärung von Bern» von den Schweizer Unternehmen Investitionen in die Industrie von Entwicklungsländern, um Arbeitsplätze zu schaffen, Wirtschaftswachstum zu generieren und eine Modernisierung herbeizuführen. Ab den 1970er-Jahren sahen sich Unternehmer jedoch zunehmend damit konfrontiert, dass sie die Schaffung von Arbeitsplätzen