Im Austausch mit der Welt. Andrea Franc

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Im Austausch mit der Welt - Andrea Franc


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gar Sezessionsbestrebungen, wie sie in manchen anderen europäischen Staaten an der Tagesordnung sind, verhindert.

      Im Übergang vom Staatenbund Schweiz nach dem Wiener Kongress 1815 bis zur Bildung und Gründung des Schweizer Bundesstaates 1848 und dessen Weiterentwicklung 1874 und 1891 wandelten sich die tonangebenden kantonalen kaufmännischen Direktorien von Zürich, St. Gallen, Basel oder Genf, Lausanne und Neuenburg von quasi-staatlichen Institutionen zu privaten Vereinen. Mit dem Rückgang der Zünfte und dem Vormarsch der Handels- und Gewerbefreiheit begann der Aufschwung der freiwilligen Verbände sowohl für Gewerbetreibende wie auch für Industrielle, Arbeiter oder Kaufleute. Während der Bundesstaat Form annahm und seine Kompetenzen und Leistungen ausbaute, wurde die Wirtschaft zunehmend zur Privatwirtschaft. Bereits in den Verfassungsänderungen der 1830er-Jahre hatten zwölf Kantone die Handels- und Gewerbefreiheit eingeführt. 1848 ging das Zollwesen an den Bund über. Mit der Revision von 1874 wurde schliesslich die Handels- und Gewerbefreiheit in der ganzen Schweiz eingeführt und damit die freie Marktwirtschaft in der Bundesverfassung verankert. Weiterhin stand damit die Schweiz als Verfechterin des Freihandels auf dem europäischen Kontinent allein da, und auch als Modell des modernen Verfassungsstaates, wie er heute üblich ist und von zahlreichen Entwicklungsländern während der Dekolonisierungsphase der Nachkriegszeit übernommen wurde, ging sie mit nachhaltigem Beispiel voran.

      Mit der Vereinheitlichung des Binnenmarktes und der Währung von 1848 ging eine Welle von Gründungen moderner Geschäftsbanken in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einher, darunter beispielsweise der Schweizerischen Kreditanstalt in Zürich 1856. Gleichzeitig brachte die Industrialisierung eine neue, moderne Schicht der Arbeiterklasse. Auch diese soziale Gruppe war international durch Ideen und Schriften vernetzt. 1832 revoltierten mit dem sogenannten Usterbrand zunächst Heimweber gegen die Einführung von Maschinen, in den folgenden Jahren kam es an verschiedenen Orten zu organisierten Streiks. Der Kanton Glarus, eine Hochburg der Textilindustrie, erliess bereits 1862 ein Fabrikgesetz, das den 12-Stunden-Tag vorschrieb. Eine wirtschaftspolitische Konstante bildete der Protektionismus in Europa. Auch nach dem Ende der Kontinentalsperre und dem Wiener Kongress blieben die Absatzmärkte Europas für die Schweiz trotz politischen Friedens schwer zugänglich. Nach der Julirevolution von 1830 kam eine leichte Besserung vonseiten Frankreichs, und zumindest die Durchgangszölle wurden aufgehoben. 1834 entstand unter der Führung Preussens der Deutsche Zollverein. Deutschland wurde damit nach Grossbritannien und Frankreich zum drittgrössten Wirtschaftsraum in Europa.

      Der Begriff «Freihandel» wird in der internationalen Fachliteratur zu Beginn des 19. Jahrhunderts mit Grossbritannien in Zusammenhang gebracht. Einerseits entwickelte dort der Geschäftsmann David Ricardo in einer Schrift von 1819 die Theorie des komparativen Vorteils. Diese besagt, dass jedes Land von Freihandel profitiere, auch das ärmere Land werde verhältnismässig reicher. Gleichzeitig fand in Grossbritannien die sogenannte Corn-Laws-Debatte über das Getreidegesetz statt. Es bildeten sich politische Gruppierungen, die sich für die Abschaffung von Importzöllen auf Getreide einsetzten. In diesem Rahmen reiste der britische Unterhausabgeordnete John Bowring im Auftrag der britischen Regierung in die Schweiz. Er sollte einen Bericht über die eidgenössischen Orte erstellen und aufzeigen, wie die Schweiz Freihandel praktizierte und davon profitierte. Der ausführliche «Report on the Commerce and Manufactures of Switzerland, presented to both houses of parliament by command of His Majesty» ist der erste und sehr wichtige wissenschaftliche Bericht über die schweizerische Volkswirtschaft in den 1830er-Jahren. Zu jedem besuchten Schweizer Ort verfasste Bowring einen Bericht, in dem er nicht nur die Wirtschaft, sondern auch die Politik, die Bildung, die Kultur und die soziale Sicherheit rapportierte. Er berichtete beispielsweise, dass in Bern Gefängnisinsassen das Schreiben erlernten. Der Bowring-Report ist aber nicht nur ein Bericht über die allgemeine Wirtschaftsgeschichte der Schweiz, er ist auch ein Lagebericht über die kantonalen kaufmännischen Direktorien. Er zeigt auf, wie die Kaufleute sich in Verbänden organisierten und ordnungspolitische Institutionen schufen. Insbesondere beschreibt Bowring, wie Schweizer Kaufleute für Freihandel plädierten und die Schweizer Wirtschaft gleichzeitig florierte. Bowring war selbst Tuchhändler und Politiker und traf in der Schweiz sozusagen auf Kollegen. In Genf gab ihm etwa Marc-Antoine Fazy Auskunft, der nach Lehrjahren in England eine Spinnerei im Genfer Vorort Carouge errichtet hatte, im französischen Annecy eine Indiennemanufaktur betrieb und in Genf der liberalen Opposition angehörte. In Appenzell unterhielt sich John Bowring ausführlich mit dem bereits betagten Johann Caspar Zellweger, der als Inhaber der Firma Zellweger & Co. nicht nur politisch, sondern auch philanthropisch, als Präsident der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft, tätig war. Nebst der prosperierenden Wirtschaft beeindruckten Bowring vor allem die hohe Bildung, der Wohlstand und die generelle Zufriedenheit der Arbeiter in den Kantonen.

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      Sir John Bowring (1792–1872), Tuchhändler, britischer Unterhausabgeordneter und späterer Gouverneur von Hongkong.

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      Titelblatt des Bowring-Reports, 1836.

      Aus der Einleitung des Bowring-Reports (1836)

      It could not, indeed, but excite the attention of any reflecting person, that the manufactures of Switzerland – almost unobserved, and altogether unprotected, had been gradually, but triumphantly, forcing their way into all the markets of the world, however remote, or seemingly inaccessible. That such a remarkable result was not the consequence of geographical position is obvious, for Switzerland neither produces the raw material which she manufactures, nor, when manufactured, has she any port of outlet, except on the conditions which her maritime neighbours impose upon her. No one of her fabrics owes its prosperity to a protecting or interposing legislation; yet it is not the less true that without custom-houses to exclude or laws to prohibit the full action of foreign competition on her various industries, her progress has been almost unexampled in manufacturing prosperity. I anticipated, certainly, that Switzerland would exhibit a living and instructive example of the truth and importance of the great principles of political economy when brought into practical operation; but I scarcely expected to find that they had been instrumental in producing such a vast mass of content and happiness as I found existing in the manufacturing cantons, or that they would have raised so large a proportion of the labouring class to independence and comfort.

      Für die Schweiz bestanden nebst Zollschranken vor allem Unsicherheiten beim Aufbau von Handel mit den Staaten des Deutschen Zollvereins. Würden auch diese zum Protektionismus tendieren? Das Überseegeschäft wurde für die schweizerische Industrie zum Rettungsanker. Schon im 18. Jahrhundert hatten Schweizer Unternehmer in die ganze Welt expandiert und diese Kontakte während der Kontinentalsperre weiter ausgebaut. In Genf und Neuenburg war die Indienne, die Baumwolldruckerei, während der Kontinentalsperre zugrunde gegangen, aber in der Ostschweiz und vor allem in Glarus florierte die Textilindustrie Mitte des 19. Jahrhunderts. Insbesondere war es die Nachahmung orientalischer, indischer und afrikanischer Kleiderstoffe, die der ostschweizerischen Textilindustrie einen neuen, grossartigen Aufschwung verlieh. Die farbenprächtigen Zeugdruckstoffe und die Mouchoirs der Toggenburger Handweberei sowie die berühmten Sarongs und Batikstoffe der Glarner Baumwolldruckerei fanden ihren Weg über die Türkei nach Persien (heute Iran) und Hinterindien, auf die Malaiischen Inseln, die Philippinen und nach Japan wie auch ins Innere Afrikas. Mit einer modernen Finanzierung der Industrieunternehmen ging auch die moderne Expansion in Handelsgeschäften einher. So finanzierte das kaufmännische Directorium St. Gallen-Appenzell eine Expedition nach Schanghai, um neue Absatzmärkte für die Ostschweizer Textilindustrie zu erschliessen. Andere Expeditionen führten Schweizer Kaufleute nach Ostafrika und auf die Insel Sansibar. Die Zusammenstellung von Wirtschaftsdelegationen für alle Regionen der Welt ist heute noch eine Domäne von Econonomiesuisse.

      In der frühkapitalistischen Epoche des 18. Jahrhunderts hielt sich die Schweiz als einziges europäisches Land von der merkantilistischen Handelspolitik fern, die unter der Führung Frankreichs zur langsamen Aufspaltung der ursprünglich europäischen Wirtschaftseinheit in eine Vielzahl von gegeneinander


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