Im Austausch mit der Welt. Andrea Franc

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Im Austausch mit der Welt - Andrea Franc


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      Marignano ist bekannt für die Schlacht im Jahr 1515, welche die Eidgenossen gegen den König von Frankreich verloren und in deren Nachgang sie auf Expansionskriege verzichteten. Die Niederlage führte zu einem bedeutenden «Freihandelsabkommen». In diesem Ewigen Frieden von 1516 sicherte Franz I. von Frankreich der Eidgenossenschaft freien Zugang zum französischen Absatzmarkt zu. Im Gegenzug durfte Frankreich in den eidgenössischen Orten Söldner ausheben. Die Schlacht von Marignano bildete den Auftakt zu einer mehrere Jahrhunderte dauernden Phase des Freihandels zwischen der Eidgenossenschaft und der damaligen Grossmacht in Europa: Frankreich. Dies war umso wichtiger, als auf den Ewigen Frieden folgend die Reformation nicht nur religiöse, soziale und politische Umwälzungen brachte, sondern auch für die wirtschaftliche Entwicklung der Schweiz bedeutende Folgen hatte. Wirtschaftliche Anliegen, insbesondere die Freiheit der eidgenössischen Kaufleute, waren sozusagen die Triebfeder der Anerkennung der Souveränität der eidgenössischen Orte durch die europäischen Grossmächte und letztlich der Bildung des Schweizer Staates. Die Tagsatzung schickte ad hoc Gesandte etwa an den französischen Königshof, die für die Schweizer Kaufleute intervenierten. Auch zum Westfälischen Frieden von 1648 war der Bürgermeister von Basel, Johann Rudolf Wettstein, ursprünglich nur angereist, um zu erreichen, dass die Basler Kaufleute nicht mehr vor das Gericht des Heiligen Römischen Reichs zitiert würden, sondern einzig der Basler Gerichtsbarkeit unterstünden. Erst ein französischer Gesandter brachte Wettstein auf die Idee, über die Souveränität der Schweiz zu verhandeln. Somit nahm mit dem Westfälischen Frieden von 1648 die Reichsunmittelbarkeit ein Ende und die Souveränität der Eidgenossenschaft, damals noch ein loser Verbund kleiner Orte, ihren Anfang. Nebenbei hob der Westfälische Frieden für die reformierten Gebiete das Zinsverbot der katholischen Kirche auf und legte damit einen frühen Grundstein für den Finanzplatz Schweiz. Die im Westfälischen Frieden garantierte Souveränität war politisch, die Eidgenossenschaft wurde somit erst recht zum Exilland Europas, doch gerade dadurch begann ein wirtschaftlicher Boom sondergleichen. Hugenottische Flüchtlinge aus ganz Europa brachten wirtschaftliche Innovation und Netzwerke in die Schweiz, sodass die Schweiz im 18. Jahrhundert und damit am Vorabend der Französischen Revolution das am stärksten industrialisierte Land Europas war. Aus einem Land der Kaufleute und Söldner war kurz vor der napoleonischen Ära ein Industrieland geworden.

      Kaum hatte also die Eidgenossenschaft ihre Ansprüche auf Expansion mit der Schlacht von Marignano im Jahr 1515 aufgegeben, so strömten aufgrund der Reformation umgekehrt gut ausgebildete und unternehmerische Protestanten aus Frankreich, Italien und den deutschen Landen, aber auch aus Ungarn, Spanien oder England in die Schweizer Orte. Diese Glaubensflüchtlinge brachten nicht nur ihr Kapital in Form von Vermögen mit, sondern auch Humankapital in Form von Wissen über Industrie und Finanzwesen sowie Erfahrung. Die innovativen Ideen wurden von den bürgerlichen Mittelschichten aufgenommen, vor allem in Genf, Neuenburg, der Waadt und im Aargau. Weshalb in teure Expansionskriege investieren, wenn Vermögen und Innovation von allein in die Schweiz kamen? Die kantonalen Handelskammern – und somit im weitesten Sinne Economiesuisse – gehen auf Kommissionen zurück, welche die eidgenössischen Orte bildeten, um die Refugianten zu betreuen. In vielen Fällen waren die ersten kantonalen Handelskammern also Wirtschaftskommissionen, die dafür zu sorgen hatten, dass die protestantischen Glaubensflüchtlinge ihr Vermögen und ihr Know-how in der Schweiz optimal zur Geltung bringen konnten. Während die Hugenotten Seidenbandmanufakturen, Bankhäuser und Uhrenwerkstätten eröffneten, blieben die Wirtschaftskommissionen bestehen und stellten die Institutionen bereit, die für eine reibungslose Wirtschaftstätigkeit vonnöten waren. So waren die kantonalen kaufmännischen Direktorien beispielsweise noch bis zum 18. Jahrhundert um den Postdienst besorgt, stellten Regelungen und Schiedsgerichte auf und dienten auch als Förderer von Forschung und Entwicklung, so etwa mit Preisausschreiben, Prämien und Beiträgen. Die kantonalen Handelskammern bildeten sich als Rahmeninstitutionen für die Industrialisierung der Schweiz aus. Das 17. Jahrhundert brachte eine zweite Welle von Flüchtlingen, diesmal hauptsächlich aus Frankreich, wo 1685 der Sonnenkönig Ludwig XIV. das Edikt von Nantes widerrief, das den Hugenotten Schutz garantiert hatte. In dieser zweiten Welle der Verfolgung von Protestanten in Europa kamen allein aus Frankreich innert weniger Jahre über 60 000 Flüchtlinge in die Schweiz, die damals etwa eine Million Einwohner aufwies. Mehrere weitere Tausend folgten aus Italien und Deutschland. Viele von ihnen reisten allerdings weiter in die Pfalz, nach Böhmen oder Preussen.

      Aus wirtschaftlicher Sicht waren die Aufnahme von Glaubensflüchtlingen sowie der Ewige Frieden mit Frankreich eine bedeutende Weichenstellung für den Aufstieg der Schweiz zur wohlhabendsten Nation Europas. Noch dominierte die Handels- und Wissenschaftsnation Niederlande, doch dank den hugenottischen Familien wurde die Schweiz zu einem Knotenpunkt in den europaweiten Bank- und Handelsnetzwerken, die sich von Genf über Basel nach Amsterdam und London erstreckten. Im 18. Jahrhundert entwickelten sich in der Ostschweiz und dem Jurabogen die Textil- und die Uhrenindustrie im Verlagswesen, dies teilweise basierend auf den seit dem Mittelalter bestehenden Textilindustrien. Unternehmer belieferten Bauernfamilien mit Rohstoffen wie Baumwolle, die sie aus England importierten, und exportierten die in Heimarbeit hergestellten Baumwollstoffe wiederum nach Europa und in die neue Welt, nach Amerika, Asien und Afrika. Der föderale, auf lokale, tiefstmögliche Entscheidungsgewalt ausgerichtete Staatenbund der Alten Eidgenossenschaft erwies sich als immun gegen die institutionellen Fallstricke, über welche die europäischen Grossmächte in der Frühen Neuzeit stolperten: den Absolutismus und den Merkantilismus. In Frankreich trug der Sonnenkönig Ludwig XIV., der von 1643 bis 1715 absolutistisch herrschte, mit der Vertreibung der Hugenotten und zahlreichen, wirtschaftlichen Verboten zum Niedergang Frankreichs als wirtschaftliche Grossmacht in Europa bei. Doch auch Grossbritannien verbot im 18. Jahrhundert die Verarbeitung von Baumwolle, um die einheimische Fabrikation von Wolle, Leinen und Flachs zu schützen. So wurde die Schweiz im 18. Jahrhundert aufgrund der wirtschaftlichen Fehlentscheide absolutistischer Herrscher und merkantilistischer Planer zeitwiese zum führenden Exportland für Baumwollprodukte. Auch auf intellektueller Ebene hatte sich die Theorie des Merkantilismus europaweit durchgesetzt. Tatsächlich glaubten viele europäische Denker, der Staat müsse die Wirtschaft lenken und Wirtschaftszweige schützen.

      Mangels eines obrigkeitlichen Zentralstaates blieb die Schweiz von dieser Plan- und Schutzpolitik verschont und bildete im 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts tatsächlich eine freihändlerische Insel in Europa. Einzig die Berner Handelskammer, der «ständige Kommerzienrat», versuchte sich kurzzeitig mit merkantilistischer Wirtschaftspolitik. Diese brachte jedoch der Berner Wirtschaft keinen Schaden, da sich Bern gleichzeitig als europaweit bedeutendster institutioneller Anleger positionierte und auf dem Londoner Finanzmarkt dermassen erfolgreich war, dass Bern im 18. Jahrhundert kaum Steuern erheben musste. 1798 beschlagnahmte allerdings die französische Armee den Berner Staatsschatz. Während der Berner Grosse Rat bis zur Französischen Revolution vor allem mit Geldgeschäften erfolgreich war, fand die Industrialisierung der Schweiz anderswo statt: in der Ostschweiz sowie im Jura. Bis Mitte des 18. Jahrhunderts erarbeiteten die kaufmännischen Direktorien und Obrigkeiten der verschiedenen eidgenössischen Orte Gewerbegesetze, um für die boomende Textil- und Uhrenindustrie Rahmenbedingungen zu schaffen. Zudem arbeiteten die eidgenössischen Orte zusammen, sodass etwa innereidgenössische Zölle tief gehalten wurden und die Schweizer Manufakturen nicht verteuerten. Die Eidgenossenschaft war im 18. Jahrhundert ein Tigerstaat Europas: Gut ausgebildete Handwerker produzierten zu tiefen Löhnen Konkurrenzprodukte für den Weltmarkt.

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      Plakat der Wirtschaftsförderung für die Abstimmung zum Uhrenstatut 1961.

      Die wirtschaftliche und politische Staatsbildung der Schweiz ging einher mit der Identitätskonstruktion auf ideeller Ebene: Die Schweizer sahen sich selbst als ein Volk einfacher Bauern, das arm war und hart arbeitete, aber «auserwählt» war. Bereits im 15. Jahrhundert, im «Weissen Buch von Sarnen», wird die Geschichte von Willhelm Tell und der Gründung der Eidgenossenschaft als Allegorie auf die biblische Geschichte von David und Goliath erzählt. Die armen, aber frommen, edlen Schweizer Bauern lehnten sich darin gegen die europäischen Feudalherren auf wie der Hirtenjunge David gegen den Riesen Goliath. Der bescheidene Bauer diente als Handlanger direkt dem Herrgott. Während in der Schweiz wie in keinem anderen Land Europas die Industrialisierung und das Finanzwesen


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