Im Austausch mit der Welt. Andrea Franc
Читать онлайн книгу.«Freihandelsabkommen» von Marignano
Aussenwirtschaft, Unternehmertum und Bürgerkorporationen
Als die Genfer Wirtschaftsprofessorin und Präsidentin der neoliberalen Mont Pèlerin Society, Victoria Curzon-Price, zu Beginn des 21. Jahrhunderts gefragt wurde, was denn die Vorteile der Schweiz in der Globalisierung seien, holte sie weit aus: bis zur Reichsunmittelbarkeit der Urkantone Uri, Schwyz und Unterwalden. Die Schweiz sei wohlhabend geworden aufgrund ihrer traditionellen Offenheit gegenüber der Welt und der Wahrung der Handelsfreiheit, so Curzon-Price. Genau diese Freiheit hätten sich die drei Schweizer Urkantone bereits im 13. Jahrhundert erstritten, als sie vom Heiligen Römischen Reich die Reichsunmittelbarkeit erhielten: das Recht, vor keinem fremden Vogt, sondern direkt vor dem Kaiser vor Gericht zu stehen. Wie kommt eine Ökonomin im 21. Jahrhundert dazu, mit der Reichsunmittelbarkeit im Mittelalter die Rolle der Schweiz in der Globalisierung zu erklären? Nun, Ökonomen wissen, dass ein Land «gute» Institutionen braucht, um wohlhabend zu werden und diesen Wohlstand zu bewahren. Im Bestseller «Why Nations Fail» (2012) zeigen Daron Acemoğlu und James A. Robinson anhand zahlreicher Beispiele aus der ganzen Welt und über verschiedene Jahrhunderte hinweg, wie «gute» Institutionen Ländern Frieden und Wohlstand brachten und «schlechte» Institutionen Länder in den Ruin führten. Gemäss Curzon-Price verfügt die Schweiz über vortreffliche Institutionen, um in der Globalisierung zu bestehen, und diese Institutionen hätten sich seit dem Mittelalter herausgebildet. Die traditionell gewachsenen Schweizer Institutionen basierten auf dem ursprünglichen Verständnis von Freiheit als Selbstverwaltung auf möglichst lokaler, tiefster Ebene.
Es ist kein Zufall, dass der Mythos Rütli – so sehr sich Schweizer Historiker schon früh bemühten, Mythos und historische Mittelalterforschung auseinanderzuhalten – in Schriften des Liberalismus und Neoliberalismus zur Referenz wurde. Dies weniger vonseiten liberaler Schweizer Denker, als insbesondere durch Intellektuelle im Exil, die sich in der Schweiz nicht nur mit Reisen und Ferienaufenthalten eine neue Heimat schufen, sondern sich mit der Schweizer Geschichte auch eine neue Vergangenheit aneigneten. Bekannt sind etwa die Treffen der neoliberalen Mont Pèlerin Society in der Nachkriegszeit in Seelisberg, von wo aus die aus den USA angereisten Exilökonomen einen Spaziergang zur Rütliwiese unternahmen. Dieser mythische Ort und die Legende des Rütlischwurs eignen sich einfach zu gut zur Symbolisierung der Freiheitsidee: Kein Königspalast oder Regierungsgebäude symbolisiert das liberale Staatsverständnis, sondern die leere Rütliwiese. Sie darf von allen Menschen jederzeit betreten werden und erwacht auch erst so zum Leben. Die liberalen Kritiker der Zentralstaatsidee stilisierten das Rütli zum Gegenstück des Palastes von Versailles, des Reichstags, des Kremls oder der Verbotenen Stadt in Peking. Zudem war die Rütliwiese nur ein gelegentlicher Ort der Versammlung – und symbolisierte für Liberale nicht nur das Konzept der direkten Demokratie, sondern auch des Föderalismus.
Gegen Ende des 18. Jahrhunderts entdeckten europäische Denker die Schweizer Geschichte mit ihren Mythen und stilisierten die Schweiz zur Wiege der Freiheit. Spannenderweise stimmte auch der Kommunist Karl Marx in die Lobgesänge über die Schweizer ein: «seit fast sechs Jahrhunderten Wächter der Freiheit» seien sie. Die Rütliwiese wurde – in einer eigentlich nicht haltbaren Verknüpfung – zum mythischen Ort des Liberalismus und im 20. Jahrhundert des Neoliberalismus. Dichterinnen und Denker reisten zum Vierwaldstättersee, darunter Germaine de Staël oder Lord Byron. In Deutschland schrieb derweil Friedrich Schiller das Theaterstück «Wilhelm Tell» (1804) und lieferte damit sozusagen das Drehbuch für die republikanischen Revolutionen im Europa des 19. Jahrhunderts. Schillers «Tell» wurde während des Zweiten Weltkriegs am Zürcher Schauspielhaus ununterbrochen aufgeführt. In Deutschland verbot hingegen Hitler das Stück im Jahr 1941. Schiller hat den Eidgenossen auf dem Rütli denn auch die viel zitierten Worte in den Mund gelegt:
Wir wollen sein ein einzig Volk von Brüdern,
in keiner Not uns trennen und Gefahr.
Wir wollen frei sein, wie die Väter waren,
eher den Tod, als in der Knechtschaft leben.
Was bei Schiller unter dem Eindruck der Französischen Revolution und der Napoleonischen Kriege dramatisch als ein Kampf der Eidgenossen gegen die Knechtschaft der Habsburger beschrieben wurde, war jedoch eine für die Verhältnisse der Zeit friedliche und langsame Herausbildung von Institutionen. Vom 13. bis ins 19. Jahrhundert entwickelten sich in den einzelnen eidgenössischen Orten und Städten eine Vielzahl von Selbstverwaltungsformen. Insbesondere in den Urkantonen verwalteten Korporationen Wälder, Weiden, Gewässer oder Wege gemeinsam, daher auch der Begriff «Allmend» für öffentlichen Boden, der allen gemeinsam gehört. Aus diesen Korporationen entstanden politisch autonome Gemeinden, deren alteingesessene Familien die Nutzungsrechte besassen. Zuzüger, Hintersassen genannt, hatten oft keine Bürgerrechte. Erst nach der Gründung des Bundestaates 1848 erhielten alle Einwohner der Schweiz nach mehreren Anläufen das Bürgerrecht einer Gemeinde. In vielen Schweizer Gemeinden bestehen jedoch bis heute Bürgerkorporationen mit ansehnlichem Wald- oder Feldbesitz, der an sogenannten Banntagen abgeschritten wird. Manche Bürgergemeinden betreiben soziale Einrichtungen wie etwa Pflege- und Altersheime. Gleichzeitig ist in der Schweiz aufgrund der korporativen Tradition die politische Gemeinde als kleinste Selbstverwaltungseinheit nicht nur für Land und Infrastruktur, sondern auch für ihre Einwohnerinnen und Einwohner und damit für das Sozialwesen zuständig.
Die Rütliwiese. Fotografie von Werner Friedli, 1948.
Diese Selbstverwaltung auf kleinstmöglicher Ebene entdeckten liberale Denker erst spät, im 20. Jahrhundert, als einen weiteren zentralen Aspekt der «guten» Schweizer Institutionen. Ökonomen im 20. Jahrhundert sprachen von Föderalismus, Dezentralismus oder auch von «small is beautiful». Anstatt gegen die Knechtschaft durch eine Obrigkeit zu kämpfen, wurden in den Schweizer Kantonen Institutionen gegründet, welche die Entscheidungsmacht an der tiefstmöglichen Stelle hielten. Das Beispiel der Gemeindeautonomie hob SHIV-Direktor Gerhard Winterberger in der Nachkriegszeit gerne als Paradebeispiel des Schweizer Staatswesens hervor: Solange eine kleine Gemeinde selbst über ihr Schicksal entschied, konnte keine Obrigkeit Macht über die Gemeinde missbrauchen und umgekehrt konnten selbstverwaltete Gemeinden für ihre Missstände keine Obrigkeit verantwortlich machen. Damit entstand eine spontane Ordnung, in der die jeweils kleinstmögliche Institution oder sogar eine Einzelperson Verantwortung übernehmen musste, was nicht nur zu Frieden, sondern auch zu Wohlstand führte.
In den ersten Jahrhunderten der Eidgenossenschaft bildeten die einzelnen Orte, das heisst Uri, Schwyz und Unterwalden sowie danach Luzern, Zürich, Glarus, Zug und Bern, Bündnisse. Bis 1513 kamen Freiburg, Solothurn, Basel, Schaffhausen und Appenzell dazu. Gesandte dieser souveränen Orte trafen sich bei Bedarf, um Geschäfte zu erledigen. Ab dem 17. Jahrhundert wurde die Versammlung der Gesandten der eidgenössischen Orte «Tag» genannt, woraus sich der Begriff «Tagsatzung» ableitete. Bis zur Gründung des Bundesstaates 1848 war die Schweiz – abgesehen vom Unterbruch durch Helvetik und Mediation zwischen 1798 und 1813 – ein Staatenbund und die eidgenössische Tagsatzung die Versammlung der Staaten, damals Orte genannt. Einer der eidgenössischen Orte hielt jeweils den Vorsitz und lud zur Tagsatzung ein («setzte den Tag»), dieser Ort wurde der «Vorort» genannt. Die Tagsatzung beschäftigte sich unter anderem mit der Absicherung der Handelsrechte der eidgenössischen Orte. Dies vor allem gegenüber Frankreich, der wirtschaftlichen Grossmacht Europas im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit. Die Willkür Frankreichs konnte die spätmittelalterlichen Orte auf dem Gebiet der heutigen Schweiz teuer zu stehen kommen. Genf, das sich im 15. Jahrhundert Ludwig XI. nicht unterordnen wollte, musste erleben, dass der König den französischen Kaufleuten den Besuch der internationalen Messe in Genf verbot und stattdessen Lyon offiziell als Messestadt einsetzte. Damit verlor unter anderem die freiburgische Tuchmanufaktur ihren Umschlagplatz an der Genfer Messe, was das Ende dieses Industriezweigs in der Saanestadt bedeutete – dies auch, weil England hohe Zölle auf die Wollausfuhr einführte und die englische Wolle zu teuer für den Import nach Freiburg wurde. Der europaweite Freihandel war somit für gewisse Schweizer Regionen bereits im Spätmittelalter bedeutsam. Freihandelsabkommen wurden dann auch zu einem Kerngeschäft der Tagsatzung,