Endstation Nordstadt. Nicole Braun

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Endstation Nordstadt - Nicole Braun


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ihm so hoch geworden war, dass ich ihn in zehn Leben nicht würde abtragen können, gehörte ich nicht mehr zu denen, die es sich aussuchen konnten. Ich hatte jede Chance auf Würde verspielt.

      Irgendjemand musste dieser unangenehmen Situation ein Ende bereiten, und da Scharpinsky sie offensichtlich genoss, musste ich wohl derjenige sein.

      »Was kann ich für Sie tun, Herr Scharpinsky?«, fragte ich.

      »Sharp, bitte. Meine Freunde nennen mich Sharp. Sie sind doch mein Freund oder, Petri?«

      Ich war todsicher, dass Horst Scharpinsky nicht einen einzigen Menschen kannte, der sich freiwillig als seinen »Freund« bezeichnete.

      »Was also kann ich für Sie tun, Sharp?«

      Das Glasauge stoppte für einen Moment zwischen Scharpinskys Fingern. »Meine Klienten sterben mir weg wie die Fliegen.«

      Ohne es zu wollen, musste ich zu Sergej gucken. Der starrte in den Raum und pumpte demonstrativ die Brust durch Einatmen auf.

      »Nein, nein«, wiegelte Scharpinsky ab. »Sergej hat damit nichts zu tun. Angeblich handelt es sich um Selbstmorde. So steht es in den Polizeiakten.«

      Ich fragte mich, woher er wusste, was dort stand, dann fiel mir ein, dass ich nicht der Einzige war, der Scharpinsky mehr als nur einen Gefallen schuldete.

      »Und was kann ich diesbezüglich für Sie tun?«

      »Die Polizei hat in sämtlichen Fällen die Ermittlungen eingestellt. Über eine halbe Million Mark ist mir auf diese Weise schon durch die Lappen gegangen.«

      Die Toten hatten also offensichtlich Schulden bei Scharpinsky und sein Geld mit ins Grab genommen. Ich wartete die Fortsetzung seiner Geschichte ab.

      »Da stinkt was. Wenn sich die Mitglieder der besseren Gesellschaft nacheinander umbringen, ist allein das seltsam genug, aber dass es ausschließlich meine Kunden trifft, kann kein Zufall sein.«

      »Die bessere Gesellschaft hat bei Ihnen Schulden?«

      Scharpinsky grinste schief und lehnte sich zurück. Das Glasauge rotierte wieder zwischen seinen Fingern. »An Ihrem Türschild steht doch auch ›Anwalt für Strafrecht‹, und trotzdem zählen Sie zu meinen Kunden.«

      Das entsprach leider der Wahrheit. »Um wen handelt es sich denn?«

      »Mann, lesen Sie keine Zeitung? Halbseitige Kondolenzanzeigen – das fällt doch auf.«

      »Tut mir leid.«

      »Haben Sie das mit dem Verleger nicht mitbekommen? Roman Levin? Hinterlässt seiner Gattin einen erfolgreichen Verlag plus eine Villa im Mulang und mir 300.000 Mark, die ich nie wiedersehen werde.«

      »Können Sie nicht bei seiner Frau …?« Ich schaute zu Sergej, der unbeweglich an mir vorbeistarrte.

      »Sie wissen so gut wie ich, dass ich das nicht kann. Meine Schuldner haften nicht mit Gegenwerten, sie verkaufen mir ihre Seele. Nicht wahr, Petri?«

      Klar, dass er mich daran erinnern musste. »Wofür brauchte ein Mann wie dieser Levin Geld von Ihnen? Man sollte annehmen, er habe selber genug besessen.«

      »Das sollte man von Ihnen auch annehmen, oder?«

      Scharpinskys Logik war bestechend, und sie traf direkt in meine Eingeweide. Ich versuchte, es mir nicht anmerken zu lassen. »Wissen Sie, wofür Levin sich das Geld geliehen hat?«

      »Ich bitte Sie. Verschwiegenheit ist unser oberstes Prinzip. Ich stelle keine Fragen. Ich verleihe Geld, und Sergej sorgt dafür, dass doppelt so viel zu mir zurückkehrt.«

      In Gedanken verdoppelte ich die Summe, wegen der Sergej mich heute Nachmittag am Schlips aus der Kanzlei geschleift hatte. Mir wurde schlecht. »Sie haben erwähnt, dass es mehrere Fälle sind.«

      »Ja. Die Reichen und Schönen von Kassel. Ein Wunder, dass die Sache noch nicht von der Presse breitgetreten wird.«

      »Und alle hatten sich ähnlich viel Geld von Ihnen geliehen?«

      »Jeder Einzelne weit über 100.000 Mark.«

      »Und wie viele Schuldner sind Ihnen bereits …?«

      Scharpinsky hatte weniger Probleme mit der Wortwahl als ich. »… abhandengekommen?« Er drehte sich zu Sergej um.

      Der zuckte die Schultern.

      Ich war mir sicher, dass Sergej maximal bis zehn zählen konnte; mehr Finger gab es in der Regel nicht zu brechen.

      Scharpinsky drückte das Glasauge in die Höhle und zwinkerte einige Male, dann zog er einen Zettel vom Tisch und glitt mit dem Zeigefinger die Zeilen entlang. »Mit dem Verleger sind es drei«, sagte er schließlich.

      »Erst drei?« Im selben Augenblick bereute ich meinen Einwurf.

      »Erst? Wissen Sie, Anwalt, das waren nicht so kleine Fische wie Sie. Drei fette Karpfen im Teich sind tot. Über eine halbe Million hat sich in Luft aufgelöst – da muss was passieren.«

      »Ich habe immer noch keine Ahnung, was ich damit zu tun habe.«

      »Es gibt ein paar weitere potenzielle Kandidaten. Von denen soll mir keiner mehr flöten gehen.«

      »Ich kann schlecht jemanden daran hindern, Selbstmord zu begehen.«

      Scharpinsky lehnte sich über den Tisch nach vorn. »Witzig, der Herr Anwalt. Das weiß ich selbst. Aber es muss aufhören. Da hat es ein Hecht auf meine Karpfen abgesehen, und ich will ihn zur Strecke bringen. Und Sie werden mir die notwendigen Informationen besorgen.«

      »Wie war das mit der Verschwiegenheit gegenüber Ihren Kunden?«

      »Deswegen kann ich es ja nicht selbst machen.«

      »Wie stellen Sie sich das vor? Ich kann mich schlecht in die Arbeit der Polizei einmischen, und außerdem habe ich genug zu tun.«

      »Das kann wohl kaum mein Problem sein«, sagte Scharpinsky. »Das verstehen Sie doch?«

      Sergej hatte die Arme runtergenommen, verschränkte die Finger und ließ die Gelenke knacken.

      Ich verstand.

      3

      Ich nahm den offiziellen Ausgang aus dem Fleur durch den Sexshop im Erdgeschoss. Scharpinskys Puff lag im Keller und war über zwei Wege zu verlassen: Wenn die Luft rein war, ging man durch den Sexshop hinaus auf die Holländische Straße, wenn die Polizei vor der Tür stand, gelangte man über eine Treppe in den Hinterhof und konnte Richtung Bunsenstraße verduften.

      Während unserer Unterredung hatte es geregnet, und die Lichter der Leuchtreklamen waberten auf dem nassen Asphalt. Der letzte Schnee im Rinnstein war geschmolzen und hatte Unrat freigelegt, für den sich niemand verantwortlich fühlte: Unmengen an Kippen, verblassende Fetzen der Silvesterböller, die die Häuserschluchten der Nordstadt zum Beben gebracht hatten, Kondomverpackungen und Kronkorken. In den obersten Stockwerken der gegenüberliegenden Häuser blinkten rote Herzen in den Fenstern. Darunter lungerten Kerle mit tief ins Gesicht gezogenen Kapuzen vor den Eingängen herum. Sie pressten sich, so weit es ging, unter die schützenden Vordächer und warteten auf Kundschaft, die Stoff brauchte oder Sex.

      Ich verdrückte mich mit Sharps Liste in einen windgeschützten Winkel zwischen zwei Wohnblocks und studierte sie. Auf Anhieb erkannte ich zwei der Männer darauf. Richter Drömer war mir selbstverständlich ein Begriff, außerdem Franz Schuhmann – ein Insolvenzverwalter, der skrupellos zerschlug, was ihm in die Finger geriet. Diese beiden waren noch am Leben, genauso wie ein Mann namens Hans Vaas. Die Einträge der Herren Ratstetter, Zanetti und Levin kennzeichnete ein kleines schwarzes Kreuz. Von Letzterem hatte ich in der Zeitung gelesen, dass er mit einer Überdosis Schlaftabletten in seinem Ferienhaus in der Badewanne ertrunken war.

      Obwohl ich weit davon entfernt war, mich widerstandslos in Sharps Erpressung zu fügen, trieb mich doch die Neugier. Die Adresse von Schuhmanns Büro kannte ich von etlichen Schreiben, mit denen man Mandanten von mir mitgeteilt hatte, dass man ihre Lohnforderungen


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