Endstation Nordstadt. Nicole Braun

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Endstation Nordstadt - Nicole Braun


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vor sich her wehte, bis zu meiner Wohnung wenige Straßen von Scharpinskys Puff entfernt treiben. Dort parkte mein senfgelber Ford Taunus. Aufgrund chronischen Spritmangels hatte ich ihn in der letzten Zeit so selten wie möglich bewegt. Nach einigen Versuchen startete der Motor. Gemeinsam mit dem Feierabendverkehr verließ ich die Stadt Richtung Waldau.

      Das Grau des regnerischen Tages und die Dämmerung verschwammen ineinander, die tristen Bauten des Industriegebiets waren zu Schatten geworden.

      Zu Schuhmanns Büro hätte ich in eine Seitenstraße abbiegen müssen, aber ich wurde abgelenkt. In einiger Entfernung rotierte der blaue Schein von mindestens drei Einsatzfahrzeugen über die Fassade einer Fabrikhalle. Getrieben von einer Vorahnung lenkte ich den Ford in Richtung der Lichter.

      Vor der Halle parkten wie erwartet zwei Polizeifahrzeuge, außerdem ein Krankenwagen und ein Leichenwagen. Ich stellte den Ford in einiger Entfernung am Rand des Geländes ab und näherte mich dem Halleneingang, aus dem gerade zwei Männer einen Sarg auf einem Rollwagen schoben.

      Bevor ich einen Blick in das Innere der Halle erhaschen konnte, stellte sich mir ein Mann in den Weg.

      »Können Sie mir verraten, was Sie hier suchen?« Kommissar Richard Sachs hatte extra tief eingeatmet und sich aufgepustet. Völlig unnötig, denn muskelbepackt, wie er war, könnte er sich ohne Probleme zwei Hänflingen meiner Sorte in den Weg stellen. Zu seinem Pech war ich mindestens einen Kopf größer als er und sah ohne Probleme über seinen kurz rasierten Schädel hinweg. Mein alter Freund Kommissar Matthias Frank hatte mir einmal anvertraut, dass Sachs gerade eben so die Mindestgröße für den Polizeidienst erreicht hatte. Dass Sachs karrieremäßig im Schatten des altgedienten Kommissars Frank vor sich hin dümpelte, machte es nicht besser. Sachs nutzte jede Gelegenheit, um sich in den Vordergrund zu spielen, und allzu oft gab er dabei im Gegensatz zu Matthias Frank eine unglückliche Figur ab.

      Ich konnte es mir nicht verkneifen, aus dem aufgeplusterten Kerl die Luft rauszulassen. »Wo ist denn Kommissar Frank?«

      Sachs knirschte mit den Zähnen. »Hat sich in den Innendienst versetzen lassen.«

      »Niemals!«, entfuhr es mir. Das konnte nur ein Scherz von Sachs sein, wahrscheinlich steckte Frank mitten in einem anderen Einsatz. »Frank geht doch niemals in den Innendienst.«

      »Das besprechen Sie dann wohl besser mit ihm selber, und jetzt würde ich Sie bitten, das Gelände zu verlassen.«

      Ich linste über Sachs hinweg und erhaschte einen kurzen Blick in das Innere der Halle. Man hatte Scheinwerfer aufgestellt, die die Szene wie eine Filmkulisse wirken ließen. Exakt in der Mitte lag ein umgekippter Stuhl, darüber baumelte eine Schlinge aus grobem Seil. Ich hatte eine ungefähre Vorstellung davon, was hier geschehen war.

      »Suizid?«, fragte ich dennoch.

      »Ich wüsste nicht, was Sie das angeht.« Sachs’ Aufmerksamkeit wurde von einem Wagen abgelenkt, der mit quietschenden Reifen auf das Gelände gerast kam. Eine Frau und ein Mann mit Kameras im Anschlag sprangen heraus und fotografierten wild drauflos. Schnell drehte ich mich weg, aber die Aufmerksamkeit der Journalisten wurde ohnehin von den Männern angezogen, die gerade den Sarg verluden. Offensichtlich war ich nun Sachs’ geringeres Problem. Er stürzte auf die beiden zu und gab damit den Weg für mich frei. Während ich ein paar Schritte in die Halle tat, vernahm ich von draußen lautes Gezeter.

      Im Innern gab es nicht mehr zu entdecken als das, was ich vorhin bereits erkannt hatte. Ein Stuhl, ein Seil. Das Ganze ergänzt durch Absperrband und Menschen in Schutzanzügen, die fotografierten und den Boden nach Beweismitteln absuchten. Die weitläufige Halle ähnelte tausend anderen leerstehenden Fabrikhallen – bröckelnder Beton, rostiger Stahl, zerborstene Oberlichter –, wenn nicht mittendrin diese Schlinge von der Decke gebaumelt hätte. Hier gab es nichts weiter zu sehen.

      Draußen war Sachs immer noch in eine Diskussion mit den Presseleuten verwickelt. Die Frau deutete auf einen Mercedes, der neben dem Eingang zur Halle parkte und den ich hinter den Einsatzfahrzeugen zuvor gar nicht bemerkt hatte. »Können Sie uns bestätigen, dass es sich um Franz Schuhmann handelt?«

      Mir genügte als Antwort das Kennzeichen »KS-FS«.

      Sachs gestikulierte wild herum. »Das ist ein Tatort und Sie verziehen sich jetzt. Alles Weitere erfahren Sie später von der Presseabteilung.«

      Die zwei Journalisten verrenkten sich die Hälse, um einen Blick in die Halle zu werfen, doch ein Beamter schob gerade das Tor zu.

      Ich tippte mir an die Stirn, um Sachs beiläufig zu signalisieren, dass ich auf dem Sprung war, und schlich zu meinem Auto, bevor die Journalisten womöglich auf die Idee kamen, mich abzulichten. In diesem Zusammenhang in der Presse aufzutauchen, würde den letzten Rest Wohlwollens, den ich bei Scharpinsky genoss, vollends zerstören.

      Sachs lief hinter mir her und holte mich ein, kurz bevor ich am Wagen ankam. »Was hatten Sie hier eigentlich zu suchen?«

      »Ich bin ganz zufällig vorbeigefahren.«

      Klar, dass er mir kein Wort glaubte. »Darüber reden wir noch.«

      »Gibt es Hinweise darauf, dass es keine Selbsttötung war?«

      Sachs’ Miene durchzog ein feistes Grinsen. »Einen Unfall können wir ziemlich sicher ausschließen.« Dann zog er ab.

      Zurück in der Nordstadt hinderte mich ein hartnäckiges Magenknurren daran, auf direktem Weg nach Hause zu gehen, da in meinem Kühlschrank mal wieder gähnende Leere herrschte. Mit der Hand rührte ich in der Manteltasche. Ein paar Markstücke klimperten um die gefaltete Liste herum, die Sharp mir überlassen hatte.

      Ich könnte beim Türken ein Fladenbrot kaufen, es mit nach Hause nehmen und die Glotze dudeln lassen, während ich es allein in mich hineinstopfte. Oder ich könnte die restlichen Stunden des Tages bei Matt im Vesuvio absitzen, wie die meisten Abende im letzten Jahr, und anschreiben lassen. Ich entschied mich für Pizza und eine Unterhaltung mit Matt und seiner Frau Rosetta.

      Kaum hatte ich die Tür zum Vesuvio geöffnet, fühlte ich mich augenblicklich zu Hause. Matt – Matteo Ferrugio – stand hinter dem Tresen und grölte einen italienischen Gassenhauer. Irgendwas von Tozzi oder Ramazzotti, für mich klangen die alle gleich. Das schwarze Haar klebte ihm in öligen Wellen an der Stirn und durch das verschwitzte weiße Hemd schien seine üppige Brustbehaarung durch.

      Als er mich bemerkte, brüllte er durch den Raum: »Meinardo, meine Freund, entra! Setz dich und trink eine Rote mit mir. Heut isse ein Tag zum Feiern!«

      Die Gäste hoben kurz die Köpfe, registrierten, dass ich zur Tür hineingekommen war, und senkten sie wieder über ihre Teller. Die lautstarken Ausbrüche von Matt hielten hier niemanden vom Essen ab.

      Ich arbeitete mich bis zum Tresen vor. So dicht an der Küche biss der Knoblauchgeruch mehr, als dass er duftete.

      »Was gibt es denn zu feiern?«, fragte ich.

      Er zog einen Wisch hinter sich aus dem Regal und wedelte damit durch die Luft. »Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis! Da futterst du seit Jahren die Nutten von Kassel fett und trotzdem musse du denen bei die Behorde jedes Jahr die Arsch kussen.«

      »Herzlichen Glückwunsch«, sagte ich.

      »Das hat mit die Gluck nichts zu tun«, raunte Matt über die Theke gelehnt. »Sondern mit ein paar braune Scheinchen. Oder glaubst du, das funktioniert in Kassel anders als in Sicilia?« Er zog mit dem Zeigefinger das Unterlid herunter.

      »Trotzdem Glückwunsch.« In Wahrheit gratulierte ich mir selbst, denn wenn Matt sein Lokal dichtmachen müsste, würde ich den einzigen Ort verlieren, der als Ersatz für ein Zuhause taugte.

      Ich sah mich um. Die meisten Gäste mummelten schweigend das Essen in sich hinein. Ein Pärchen saß sich gegenüber. Ob das Glänzen in ihren Augen an ihrer Stimmung, am Wein oder etwas ganz anderem lag, ließ sich nicht ausmachen; selbst wenn die beiden total zugedröhnt gewesen wären, hätte man ihnen schon Blut abnehmen müssen, um es mit Sicherheit sagen zu können. An einem anderen Tisch entdeckte ich drei aufgetakelte Mädchen stumm nebeneinander. Ihre Röcke waren für


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