Endstation Nordstadt. Nicole Braun

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Endstation Nordstadt - Nicole Braun


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zu einer schaurigen Grimasse.

      Matt sah mich ernst an. »Ich bin nich Sharp, aber ich hab auch einflussreiche Freunde. Bevor du stecks tief in die Scheiße, komms zu mir. Capisce?«

      Ich war mir nicht sicher, wovor ich größeren Respekt hatte. Vor Sharp und Sergej oder der sizilianischen Mafia. Ich schüttete den Grappa herunter. Das Brennen lenkte mich einen Augenblick ab.

      Schließlich sagte ich: »Verstanden.«

      4 Azrael

      Beim Frühstück schlug ich die Zeitung auf. »Insolvenzverwalter erhängt sich in abgewickeltem Betrieb. Hielt er die Gewissensbisse nicht länger aus?«

      Beinahe hätte ich den Kaffee auf die Schlagzeilen geprustet. Jetzt hatte ausgerechnet ich diesem Abschaum posthum glatt ein Gewissen verschafft; nur die Ironie des Lebens konnte so eine schräge Geschichte schreiben.

      Die Zeilen verrieten mir nichts Neues. Der Mann hinterließ eine Frau und zwei Töchter. Sie fielen weich in ein dickes Vermögen, angehäuft auf dem Buckel Hunderter armer Wichte, die in der Schlange auf dem Arbeitsamt den Tag rumbrachten. Vielleicht hatte ich der Welt ein wenig Gerechtigkeit zuteilwerden lassen – Anstand konnte ich ihr selbst auf diese Weise nicht beibringen, sonst hätte die Zeitung titeln müssen: »Ausbeuter entzieht sich feige der Verantwortung«. Ich seufzte. An Wunder glaubte ich schon lange nicht mehr. Ich stellte mir vor, welche honorigen Mitglieder der Kasseler Gesellschaft bei der feierlichen Beerdigung salbungsvolle Worte für Schuhmann finden würde. Mir stieß der Kaffee sauer auf. Insgeheim hoffte ich, dass die alle allmählich anfingen, sich Sorgen zu machen. Wenn es einen nach dem anderen dahinraffte, konnte es ja möglicherweise auch die Übrigen mit Dreck an den Schuhsohlen treffen. Ich wusste, dass das Getuschel in den Reihen bereits begonnen hatte. Dort kursierten die wildesten Spekulationen, während die Polizei im Dunkeln tappte. Gut so.

      Im Anhang des Artikels fand ich den Hinweis, dass die Polizei von Suizid ausging, man aber entsprechende Ermittlungsergebnisse abwarten müsse. Ich musste lächeln. Die mysteriöse Selbstmordserie hatte Aufsehen erregt, dennoch erkannte bislang niemand die Verbindung. Die Abstände hielt ich bewusst variabel. Die ersten Todesfälle trennten viele Monate, obwohl es mir schwergefallen war, so viel Geduld aufzubringen. Auf den nächsten musste ich nicht so lange warten, dennoch war keine Eile geboten. Es gab nicht den geringsten Grund, um aus der Ruhe zu geraten.

      Ich schmierte mir ein Brötchen mit Marmelade und ließ es mir schmecken, während ich den Artikel ein zweites Mal las. In Gedanken sah ich Schuhmanns Tod vor mir ablaufen wie einen Film. Ich beobachtete, wie der Kerl auf den Hocker stieg, sich die Schlinge um den Hals legte, den Schemel mit den Fußspitzen wegkippte und baumelte und zappelte. Und bei all dem spielte ich in meiner Fantasie keine Rolle, und das sollte genau so sein. Die Schlagzeilen und die Aufmerksamkeit sollten die erhalten, die so geil darauf waren, dass sie beinahe alles dafür taten. Nur in dieser Geschichte mussten sie für den Ruhm eben sterben.

      Ich schaute mir noch einmal das Foto an, das beim Verladen des Sarges vor der Fabrikhalle entstanden war. Im Eingang zur Halle stand ein Mann im Halbprofil. Undeutlich verschwommen durch die grobe Pixelung des Zeitungsdrucks. Ich kniff die Augen zusammen, das Bild wurde ein wenig schärfer. Der Mann trug einen unmodernen Mantel, ausgetretene Schuhe, Haare und Bart wirkten ungepflegt. Die Kasseler Kriminaler, die ich kennengelernt hatte, legten mehr Wert auf ihr Äußeres. Wer auch immer er war, er kam in meiner Planung nicht vor, und das würde sich umgehend ändern.

      5

      Am Morgen plagte mich ein leichter Kater von Matts billigem Rotwein, begleitet von einem widerlichen Knoblauchgeschmack und einer ausgetrockneten Kehle. Ich kippte drei nach Chlor schmeckende Gläser Wasser herunter und putzte mir ausgiebig die Zähne. Das alles half nur mäßig, und ich verließ nach einem verzweifelten Griff in die bereits für die Wäsche aussortierte Kleidung die Wohnung.

      Jemand hatte eine Werbung für »70 Jahre Zissel« hinter den Scheibenwischer des Ford Taunus geklemmt. Volksfest mit Umzug und Tamtam, genau meine Veranstaltung. Ich schnappte den Flyer und warf ihn in den Fußraum zu einer Sammlung an Knöllchen und Kassenzetteln. Der Ford gurgelte kurz, bevor der Motor sich erbarmte anzuspringen. Die Tankanzeige war einen Strich über Reserve. Bis Wilhelmshöhe sollte das locker reichen.

      Das Grundstück am Mulang lag versteckt hinter einer soliden Backsteinmauer. Vor dem Tor beobachtete mich ein Kameraauge, während ich die Klingel betätigte. Den klapprigen Ford hatte ich eine Straße entfernt geparkt, denn die auffällige senfgelbe Kiste hatte mir schon so manchen Auftritt vermasselt, das konnte ich mir heute nicht erlauben.

      Ich zog den Knoten des Schlipses gerade, atmete tief ein und blickte möglichst selbstsicher in die Kamera.

      »Ja?«, fragte eine blecherne Stimme aus der Gegensprechanlage.

      »Mein Name ist Meinhard Petri. Ich bin Anwalt und vertrete einen Geschäftspartner von Herrn Levin. Es gäbe ein paar Fragen zu klären.«

      Am anderen Ende folgte Rauschen. Jemand schien zu überlegen. Lange zu überlegen. Als ich drauf und dran war, den Klingelknopf noch einmal zu drücken, ertönte ein Summen. Das Tor sprang automatisch auf und drehte sich wie von Geisterhand in den Angeln.

      Kaum war ich wenige Schritte auf das Grundstück getreten, schwenkte das Tor hinter mir zu und fiel mit einem Scheppern ins Schloss.

      Ich war angemessen beeindruckt. Der Garten und das Haus waren geradewegs einer Zeitschrift für modernes Wohnen entsprungen. Der Landschaftsgärtner hatte ganze Arbeit geleistet, jeder Grashalm sah aus wie nach Plan gesteckt und die Hecken waren mit einer Perfektion gestutzt, als hätte jemand eine Wasserwaage drangehalten. Während in sämtlichen Winkeln der Stadt Frühblüher anarchisch bunt aus dem Boden sprossen, wagte auf diesem Grundstück nichts, den Kopf aus der Erde zu stecken, was das perfekte Bild zerstört hätte. Auf Kassels Straßen stach einem an jeder Ecke der Geruch von diesen gelben Büschen, deren Name ich mir nicht merken konnte, in die Nase. Ich schnupperte. Hier roch es nach nichts.

      Ich näherte mich dem Haus, das durch überdimensionale verspiegelte Fenster wie ein Geist auf mich hinabstarrte. »Geh weg«, schien es zu sagen. Zwischen den Villen am Mulang wirkte es wie ein Schuhkarton auf Stelzen, dessen Auftraggeber ein großer Fan des Bauhauses gewesen sein musste. Wie der für das Ding eine Baugenehmigung erhalten hatte, wussten wohl nur der Bauherr und jemand auf dem Amt, der sich das Beamtengehalt ein wenig aufgebessert hatte.

      Ich drückte die Beklemmung weg und marschierte Richtung Eingang, begleitet von dem sicheren Gefühl, dass ich beobachtet wurde.

      Der Eingang lag zwischen zwei Säulen. Ein Kubus aus Sichtbeton mit einer glatten Haustür aus Stahl, die sich mit einem Summen öffnete, kaum dass ich einen halben Meter von ihr entfernt war.

      Ich trat ein und fand mich am unteren Ende einer Treppe wieder. Am oberen Absatz wartete eine Dame mittleren Alters in hellblauer Kittelschürze. Sie sah misstrauisch zu mir herunter und musterte mich auf die Art und Weise, auf die man auf keinen Fall gemustert werden möchte, wenn man geglaubt hatte, dem Anlass entsprechend korrekt gekleidet zu sein. Ihr Blick blieb an meiner Krawatte hängen. Vielleicht war Paisleymuster zum Jeanshemd doch die verkehrte Wahl gewesen, aber alle übrigen Krawatten hatten Flecken gehabt.

      »Kommen Sie hoch, Herr Petri.« Sie rollte das »R«. Ein Akzent aus dem Osten.

      Ich erklomm die Treppenstufen, bis ich neben der Frau stand. Jetzt wirkte sie winzig.

      »Dort lang bitte. Frau Levin wird gleich bei Ihnen sein.« Erwartungsvoll hielt sie die Hände ausgestreckt, bis ich verstand, dass sie mir den Mantel abnehmen wollte. Ich legte ihn über ihre Unterarme und ging in die Richtung, in die sie gezeigt hatte.

      Ich spürte ihre Anwesenheit im Rücken, bis ich das Wohnzimmer erreicht hatte. Als ich mich umdrehte, war sie verschwunden.

      Zum zweiten Mal innerhalb weniger Minuten war ich beeindruckt. Zwischen dem weitläufig im Raum verstreuten Mobiliar hätte ohne Platznot eine Formation Walzer tanzen können. Von den hochglänzenden beigefarbenen Fliesen stieg eine angenehme Wärme auf. Klar, Fußbodenheizung. Eine Front aus bodentiefen, beinahe rahmenlosen


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