Endstation Nordstadt. Nicole Braun
Читать онлайн книгу.Kirchturmspitzen; sie ragten aus der Dunstglocke, die über der Stadt hing. Ich stellte mir vor, wie die Aussicht erst im Dunkeln sein musste, wenn sich die Wilhelmshöher Allee wie ein leuchtender Wurm durch die Stadt wand. Beinahe schade, dass der Ausblick bald eingeschränkt sein würde, sobald die Bäume austrieben.
Schritte näherten sich. Die Frau schob beim Schreiten die Schultern trotzig nach vorne, wobei die Schulterpolster unter ihrer Bluse vor- und zurückwippten. Ihre langen Beine steckten in schwarzem Samt, und während die meisten im Haus vermutlich etwas Bequemes bevorzugt hätten, trug sie Schuhe mit mörderischen Absätzen, in denen sie lief wie in Turnschuhen. Sie musste das stundenlang geübt haben, ihre hohen Hacken machten kaum ein Geräusch auf dem Fliesenboden. Für einen Körper wie ihren hätte manche Frau ein Vermögen hingeblättert, ich entdeckte jedoch an ihr nichts, was auf etwas anderes als die Gnade guter Gene schließen ließ. Mit einiger Erleichterung fand ich schließlich an ihren goldblonden Locken doch etwas, wo der Natur nachgeholfen worden war: An der Kopfhaut verriet sie ein glatter brünetter Ansatz.
Ich hatte eine Witwe in Sack und Asche erwartet, stattdessen stand mir eine Frau gegenüber, die weder gebeugt noch gebeutelt wirkte. Sie schien es zu genießen, dass ich sie anstarrte, verharrte demonstrativ und hielt den Rücken gerade. Es hätte mich nicht gewundert, wenn sie trotzig die Fäuste in die Hüften gestemmt hätte, stattdessen streckte sie mir die rechte Hand entgegen.
»Salvina hat gesagt, Sie seien ein Geschäftspartner meines Mannes gewesen.«
Ich war versucht zuzustimmen, die Steilvorlage war zu verführerisch. Doch ich war immer noch Anwalt, ganz gleich, wie tief ich bereits im Schlamm versunken war. »Da muss sie etwas falsch verstanden haben, wir waren keine Geschäftspartner. Mein Name ist Meinhard Petri. Ich bin Anwalt für Strafrecht.« Ich fummelte eine zerknautschte Visitenkarte aus der Jacketttasche und hielt sie ihr hin.
Sie nahm sie, aber würdigte sie keines Blickes. »Ich habe einen Anwalt«, sagte sie trocken.
»Ich vertrete die Interessen eines Mannes, der mit Ihrem Gatten Geschäfte gemacht hat.« So formuliert klang die Sachlage verdammt harmlos, allerdings nur, wenn einem das Knacken brechender Finger nicht ständig im Ohr lag. Unbewusst rieb ich mir die Hände.
»Und was kann ich für Sie tun? Sie haben sicher Verständnis, dass ich bisher nicht alle Angelegenheiten von Roman ordnen konnte.«
Sie wirkte extrem gefasst, beinahe bemüht, so als trüge sie unter der Bluse ein Korsett, das ihr das Rückgrat stützte.
»Mein Mandant hatte geschäftlich mit den Männern zu tun, deren Selbstmorde in den vergangenen Jahren hier in Kassel in den Medien Wellen geschlagen haben, und er fragt sich, ob es einen Zusammenhang zwischen ihnen gibt.«
Sie seufzte, und beim Ausatmen wich die Spannkraft aus ihrem Rücken. Sie ließ sich in einen schwarzen Lederkubus mit Chromgestell fallen. Eines dieser Möbelstücke, bei denen ich mich immer gefragt hatte, ob die Würfelform bequem sein konnte. Einen Augenblick später wusste ich, dass sie es nicht war.
Sie hatte mir einen Platz gegenüber angeboten, und ich rutschte auf dem kalten, harten Leder herum auf der verzweifelten Suche nach einer lässigen Haltung.
»Das hat mich die Polizei auch schon gefragt, und ich kann Ihnen nur sagen, dass ich die Herren nicht persönlich kannte.«
»Die Polizei hat Sie befragt?«
»Sicher. Ist es nicht üblich, bei Selbstmord nachzuforschen, wenn kein Abschiedsbrief vorliegt?«
»Sie haben recht, das ist üblich. Und Sie haben die anderen Männer nie getroffen?«
»Vielleicht ist man sich mal auf einer Abendveranstaltung begegnet.«
»Haben Sie eine Ahnung, für welchen Zweck Ihr Mann sich 300.000 Mark geliehen hat?« Die Taktik, mit der Tür ins Haus zu fallen, hatte der Wahrheit schon häufig auf die Sprünge geholfen.
Sie sah mich an, als sei ich verrückt geworden. Ich meinte, sogar ein leises Lächeln zu erkennen.
»Roman hatte es nicht nötig, sich Geld zu leihen. Wir haben nie über Finanzielles gesprochen und auch nie über den Verlag, aber glauben Sie mir, Geld war ganz bestimmt das geringste Problem.«
»Wer führt die Geschäfte, jetzt, wo Ihr Mann …?« Ich biss mir auf die Unterlippe.
Ihre Augen verengten sich und sie schob das Kinn nach vorne. Verwirrt stellte ich fest, dass sie die Frage weniger betroffen machte als ärgerlich. »Sein Sohn aus erster Ehe ist schon vor Jahren in die Geschäftsführung eingestiegen. Roman wollte ihm ohnehin in Kürze den Verlag übergeben und sich zurückziehen. Er hat sein ganzes Leben davon geträumt, selber mal etwas zu schreiben. Daraus wird nun nichts mehr.«
Ich fragte mich, welcher Teil ihrer Antwort Grund für den Ärger in ihrer Stimme war. »Hat er sich gut mit seinem Sohn verstanden?«
»So gut, wie zwei Leitwölfe sich eben verstehen können. Es gab immer wieder mal Unstimmigkeiten, aber am Ende wurden sie sich irgendwie einig.«
Dieses Thema machte sie eifersüchtig, das spürte ich. »Und Sie sind finanziell versorgt?«
Sie setzte sich sehr gerade hin. »Ich denke nicht, dass Sie das etwas angeht, oder?«
Ich hatte mich schon gefragt, wann sie dichtmachte. »Da haben Sie recht. Das geht mich nichts an.« Freundlich den Schwanz einzuziehen war der zweite Teil der Taktik. Tatsächlich wurde ihr Rücken wieder rund. Zeit für die ultimative Frage. »Hat Ihr Mann jemals Selbstmordabsichten geäußert?«
Sie zuckte zusammen, überlegte kurz, schien mich dann einer Antwort für würdig zu erachten. »Er hatte manchmal Phasen, in denen ihm alles über den Kopf zu wachsen schien. Wissen Sie, er war einer dieser Männer, denen der Erfolg in den Schoß fiel. Was er anpackte, gelang. Aber das war nur beruflich. Privat sah es anders aus.«
Sie blickte mich an, und je länger sie das tat, desto mehr Unbehagen stieg in mir hoch. Unvermittelt stand sie auf und sagte: »Kommen Sie mit. Ich will Ihnen etwas zeigen.«
6
Man hätte mich mit verbundenen Augen in Kassel aussetzen können und ich hätte trotzdem nach Hause gefunden. Nach dem Treffen mit Riva Levin war ich jedoch derart in Gedanken versunken, dass ich beinahe in eine Versammlung dieser rot-weiß geringelten Lollies gerauscht wäre, die das Verkehrsamt gefühlt an jeder Straßenecke hatte aufstellen lassen. Ich hegte den Verdacht, dass sie diese Dinger in großen Mengen günstig erstanden hatten, und nun nicht wussten, wohin damit. Überall lungerten kleine Grüppchen dieser Blechkameraden und behinderten das Abbiegen. Um ihnen auszuweichen, war ich auf die falsche Spur gewechselt und fuhr auf dem Weg in die Innenstadt einen riesigen Umweg. Es war, als ob mein Hirn Zeit schinden wollte, um nachzudenken.
Während ich den Ford durch die Straßen lenkte, musste ich an das denken, was Riva Levin mir gezeigt hatte.
Sie hatte mich in das Arbeitszimmer ihres Mannes Roman geführt. Zunächst verstand ich nicht, worauf sie hinauswollte. Der Raum wurde dominiert von vollgestopften deckenhohen Regalen, deren Bretter sich unter schweren Buchrücken bogen. Dann fielen mir eine alte Schreibmaschine und ein von zerknüllten Seiten überquellender Papierkorb auf. Auf Levins Schreibtisch stand eine Flasche mit dem Rest einer dunkelbraunen Flüssigkeit, daneben ein Glas mit einem eingetrockneten Rand. Auf ihren Wink hin näherte ich mich dem Tisch. Ein Montblanc-Füller auf einer Kladde fiel mir ins Auge, die Zeilen darin dicht beschrieben, ohne Punkt und Komma; manisches Gekritzel. Ich bemerkte eine durchgesessene Stelle auf dem Schreibtischstuhl und einen speckig glattgewetzten Fleck am Schreibtisch, wo Stunde um Stunde der rechte Unterarm über das Holz gewischt hatte. Ich schaute nicht auf den Arbeitsplatz eines erfolgreichen Verlagsmanagers, ich starrte direkt in den Abgrund eines Getriebenen, der verzweifelt versucht haben musste, einen Dämon auf Abstand zu halten.
»Roman war oft allein in dem Ferienhaus am Edersee«, hatte sie gesagt. »Als ich von seinem Tod erfuhr, habe ich keine Sekunde an einem Selbstmord gezweifelt. Sie haben den gleichen Ausdruck in den Augen wie er. Sie erscheinen mir wie jemand, der vor sich selbst davonläuft.«