Endstation Nordstadt. Nicole Braun

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Endstation Nordstadt - Nicole Braun


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      Luca Ferrugio – Matteos alter Herr – saß in einer Ecke und war eingeschlafen. Sein Körper war zu einem atmenden Buckel zusammengefallen, das Kinn hing ihm auf der Brust. Das Gebiss war halb aus dem geöffneten Mund gerutscht, aber den zwischen die Beine geklemmten Spazierstock hielten seine Hände fest umklammert.

      Ich deutete auf den alten Kerl. »Auch gut für ihn. Das mit der Verlängerung, meine ich. Der käme ja gar nicht damit klar, wenn er woanders sein Nickerchen halten müsste.«

      Matt grinste. »Gestern ich hab gedacht, er wär tot. Ich hab ihm eine Grappa unter die Nase gehalten und schwupps – er war wieder da. Hat die Grappa runtergeschuttet und auf die Cosa Nostra geflucht. In Italiano versteht sich.«

      »Versteht sich.«

      »Was darf’s sein, meine Freund?«, fragte Matt.

      Ein randvolles Glas Rotwein stand bereits vor mir auf dem Tresen. »Nur eine Kleinigkeit.«

      Matt legte den Kopf schief. »Kanns anschreibe«, flüsterte er.

      »Dann nehme ich eine Vierjahreszeiten ohne Peperoni.«

      »Studierte Weichei«, meinte er lächelnd und brüllte anschließend die Bestellung in die Küche.

      In der Durchreiche tauchte das runde Gesicht von Rosetta auf. Sie strahlte von einem Ohr zum anderen. »Wo is meine Lieblingsanwalt?«, rief sie.

      Ich bückte mich über den Tresen und winkte ihr zu.

      »Wann wirst du endlich eine richtige Kerl? Pizza ohne Peperoni isse wie Liebe ohne …« Sie klatschte die flache Hand auf die Faust.

      Matt grinste und nickte wissend, und ich hatte Bilder vor Augen, auf die ich gerne verzichtet hätte.

      »Los, Freund, wir setzen uns.« Matt war hinter dem Zapfhahn hervorgekommen und plötzlich um einiges kleiner geworden. Um den Größenunterschied zwischen sich und Rosetta auszugleichen, hatte er sich eine Stufe hinter dem Tresen installieren lassen. Ich hatte ihr Hochzeitsfoto gesehen: Man hatte Matt auf eine Kiste gestellt und die Schleppe von Rosetta darum drapiert, um sie zu kaschieren. Trotzdem guckte Matt selbstbewusst wie ein König in die Kamera. Sizilianische Männer waren vielleicht klein, aber stolz auf jeden Zentimeter.

      Wir setzten uns an einen Tisch. Ich hatte den freien Blick in den Raum gewählt. Seit einiger Zeit ertrug ich es nicht mehr, Eingangstüren den Rücken zuzudrehen.

      »Auf die deutsche Behorden!« Matt erhob das Glas.

      Wir stießen an.

      Er musterte mich durchdringend. »Meinardo, du siehse unglucklich aus.«

      Matt war der einzige Mensch, dem ich nichts vormachen musste. In Wahrheit kam mir in letzter Zeit immer öfter der Verdacht, dass ich eigentlich niemandem mehr etwas vormachen konnte, egal, wie viel Mühe ich mir gab. Wenn man erst mal am Bodensatz kratzte, half weder Anzug noch Krawatte.

      »Sharp hat mich an den Eiern.«

      Scharf sog Matt die Luft ein. »Merda, das isse schlimm.«

      Ich nickte und nahm einen Schluck Wein. Nicht die Sorte, die ich gerne getrunken hätte, dafür umsonst und mit Liebe eingeschenkt.

      »Ziemlich schlimm sogar«, sagte ich. Ich brauchte nichts zu erklären. Kiezgröße Scharpinsky war jedem ein Begriff, der sich zwischen Wiener und Wolfhager Straße aufhielt und den Kopf senkte, sobald ein Polizeiauto vorbeifuhr.

      »Geld oder Drogen?«

      »Himmel, Matt! Keine Drogen.«

      Er guckte kurz erleichtert, doch schnell verdüsterte sich seine Miene wieder. »Wobei … Geld isse nich unbedingt eine kleinere Problem.«

      »Nicht im Mindesten. Er will, dass ich meine Schulden bei ihm abarbeite.«

      »Klingt fair.«

      »Ja, falls ich erfolgreich bin. Ansonsten kannst du mich mit Betonschuhen aus der Fulda fischen.«

      »Nein, so was mache nur die Mafia«, Matt grinste. »Sharp wurde dich vielleicht …« Das Grinsen verschwand.

      »Genau. Ich hab überhaupt keine Chance. Was er da von mir verlangt, ist eine Nummer zu groß für einen kleinen Anwalt wie mich. Und außerdem hab ich ja noch meine Klienten. Wenn ich kein Geld verdiene, kann ich mich auch ohne Sharps Hilfe aufhängen.«

      »Da has du dich ganz ordentlich in der Scheiße geritten, meine Freund. Was solls du denn tun fur ihn?«

      »Ihm ist eine Reihe gut situierter Schuldner durch Selbstmord abhandengekommen. Das Geld kann er abschreiben. Und ich soll rausfinden, warum, und verhindern, dass es so weitergeht.« Als mir klar wurde, dass es bereits weitergegangen war, wurde mir schummrig. Es war keine gute Idee gewesen, den Wein auf leeren Magen in mich reinzuschütten. Bevor ich Matt von Schuhmanns Selbstmord erzählen konnte, trat seine Frau Rosetta an den Tisch. Sie balancierte einen Teller und stellte ihn vor mir ab, dann nahm sie meinen Kopf, presste ihn zwischen ihre Brüste und rubbelte mir den Schopf. Ich befreite mich aus ihrer Umklammerung, sie kniff mir in die Wange. »Meine Lieblingsanwalt, du. Und jetzt iss, siehse schlecht aus.«

      Matteo hatte die Szene grinsend verfolgt. Rosetta holte die Weinflasche vom Tresen, goss die Gläser voll und setzte sich neben ihren Mann. Nun verschwand Matteos Gesicht zwischen ihren Brüsten. Sie gurrte, während sie seine Locken kraulte.

      Währenddessen widmete ich mich der Pizza. Die erste warme Mahlzeit seit Tagen. Rosetta hatte mich mit einer extra dicken Schicht Käse und Schinken bedacht. Ich hatte solchen Hunger, dass ich zu schnell aß. Der heiße Käse brannte mir augenblicklich eine Blase in den Gaumen, und ich spülte mit einem Schluck Wein nach.

      Matteos Gesicht tauchte puterrot aus Rosettas Dekolleté auf. »Passe bloß auf. Mit Sharp isse nich zu spaße.«

      »Ich weiß«, hauchte ich. Das Stück Pizza in meinem Mund war noch immer zu heiß, um es zu schlucken.

      »Sharp?« Rosetta angelte nach einem kleinen Kruzifix, das an einer Kette zwischen ihren Brüsten baumelte, und küsste es. Dann verschwand der Gekreuzigte wieder in der üppigen Hautfalte. Ich konnte mir schlechtere Orte vorstellen, um an ein Kreuz genagelt rumzuhängen.

      Matt legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Lass uns mal kurz allein, ja?«

      Sie warf mir einen mütterlich besorgten Blick zu und stand auf. »Aber alles aufesse«, sagte sie im Weggehen.

      »Und was willse jetzt mache?«, wollte Matt wissen.

      »Was kann ich schon tun? Mich als freundlicher Anwalt den Witwen der Selbstmordkandidaten vorstellen und herausfinden, was da los war.«

      »Nich dass du am Ende Ärger mit die Anwaltskammer bekomms.«

      »Ach, Matt. Wenn das meine einzige Sorge wäre.«

      Er nickte wissend. »Wenn du brauchs Hilfe oder musse einfach nur reden – unsere Tur isse immer offen.«

      Vom Nachbartisch klapperte es laut. Matteos altem Herrn war tatsächlich das Gebiss aus dem Mund gefallen. Verschlafen guckte er in die Runde, dann sah er mich und seine grauen Augen blitzten. »Meinardo«, nuschelte er. »Come schtai?«

      »Va bene, Luca«, antwortete ich.

      Matt krabbelte unter dem Tisch herum. Endlich hatte er das Gebiss gefunden. Vorwurfsvoll zeigte er es dem alten Mann. Der hatte das Fehlen noch gar nicht bemerkt.

      Ich schaufelte schnell den Rest Pizza in mich rein, bevor mein Appetit vollends zum Teufel war.

      Matt hatte das Gebiss unter dem Wasserstrahl am Zapfhahn gesäubert und gab es seinem Vater zurück. Der ließ es in den Mund gleiten und klapperte ein paarmal damit wie ein Storch.

      »Nachtisch?«, fragte Matt.

      »Heut nicht, danke.«

      »Eine Grappa?«

      »Da sag ich nicht nein.«

      Matt goss drei Gläser voll, stellte zwei


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