Die Eifel und die blinde Wut. Angelika Koch
Читать онлайн книгу.das hier geht eindeutig zu weit, dachte Melanie. Sie war keine Helikoptermami, die ihre Brut einer Rund-um-die-Uhr-Überwachung aussetzte und mit dem Auto bis ins Klassenzimmer chauffierte. Ihre Kinder waren sicher nicht übermäßig zart besaitet, hatten keine Allergien und waren ordnungsgemäß gegen alles geimpft, was der Hausarzt empfohlen hatte. Aber die Vorstellung, dass sie beim Müllwegtragen auf einen Kadaver stießen, der mit den gefährlichsten Viren und Bakterien besiedelt sein mochte, ließ sie erschaudern. Sie holte ihr Handy aus der Hosentasche und wählte die Nummer von Theo, ihrem Nachbarn, der – welch ein Segen – zugleich der für ihr Dorf zuständige Beamte der Polizeiinspektion in Daun war. Sie hoffte, dem Schuldigen würde ein saftiges Bußgeld drohen. Es gab weit und breit nur einen Jäger, dem sie zutraute, Wildschweinköpfe zu horten. Er war für seine stattliche Trophäensammlung bekannt. So etwas Makabres wäre bei ihr niemals als Raumdekor im Wohnzimmer gelandet. Auch dann nicht, wenn Mircos vier Meter breiter Curved-Bildschirm Platz für so etwas gelassen hätte. Sie mochte den Jäger sowieso nicht, der am Stammtisch von Fortschritt redete und sich Forstgebiete unter den Nagel gerissen hatte, um sie an Windenergiekonzerne zu verpachten. Ein profitables Geschäft, angeblich. Sie hatte Mitleid mit den Tieren, zugleich jedoch schwang eine große Portion Resignation mit. Als kleines Rädchen im Getriebe konnte sie sowieso nichts ausrichten. Sollten die da oben machen, was sie wollten. Hauptsache, der Alltag war wie immer und so ein blutrünstiger Dreck wie dieser kam weg.
Aber der Wildschweinkopf stellte sich als Auftakt einer Serie bizarrer Funde dar. Tage später wurden in einem Container im Nachbardorf meterlange, wenig appetitlich riechende Gedärme entdeckt, diesmal vom Rehwild. Und auch dabei blieb es nicht.
*
Der Platz war mit rot-weißem Flatterband abgesperrt. Ein halbes Dutzend Menschen ging umher. Sie wirkten in ihren weißen Schutzanzügen und mit ihren Kapuzen wie geschlechtslose, misstrauisch den fremden Planeten Erde beäugende Besucher aus dem All. Sie gingen mit behutsamen Schritten umher, bückten sich, fotografierten, klaubten mit Pinzetten winzige Teilchen von was auch immer vom Asphalt, stellten kleine nummerierte Schilder auf und murmelten ab und zu kaum verständliche Sprachmemos in Diktiergeräte. In der Mitte des Platzes stand ein orangefarbener Müllwagen, beide Fahrertüren waren weit offen, nebendran befanden sich zwei Biomüllcontainer in trauter Eintracht, denn Netteseifen war ein großes Dorf – hier kam man mit einem nicht aus. Unschön war, dass der Inhalt eines Containers ausgekippt war, fein säuberlich drapiert und entzerrt auf einer großen Plastikplane.
Jenseits des Flatterbandes, schon halb auf dem Hof der ehemaligen Netteseifener Grundschule, parkten mehrere blau-weiße Polizeifahrzeuge, ein BMW mit Trierer Kennzeichen und zwei Krankenwagen. Doch niemand hatte es eilig. Die Anwesenheit des schwarzen Wagens eines Dauner Bestattungsunternehmens lieferte die Erklärung. Drinnen saßen zwei dunkel gekleidete Männer und rauchten. Auch sie hatten keinen Stress. Vermutlich würden sie unverrichteter Dinge zurückfahren müssen. Denn das, was die beiden Müllmänner gefunden hatten, die neben den Polizeiwagen standen und ins Gespräch mit zwei Beamten in Zivil vertieft waren, war für ein anständiges katholisches Begräbnis derweil ungeeignet.
»Wie oft leeren Sie hier?«, fragte Kriminalhauptkommissar Lutz Didier. Er hatte Hunger, hatte sich auf einen Döner nebenan am Trierer Bahnhof gefreut, als der Alarm von den Kollegen aus Daun gekommen war. Seine Stimme klang schärfer, als er wollte, auch sah er mit seiner randlosen Brille und der großen Nase humorloser aus, als er war. Aber gut gelaunt war er wirklich nicht. Ohne etwas zu essen, eine Dreiviertelstunde hoch in die Eifel brettern, ausgerechnet mit der neuen Kollegin Natalia Subotka, die er kaum kannte, die sich im K11 aber schon einen Ruf als Zicke erarbeitet hatte. Und sich dann um diesen Fund kümmern, inmitten von weggeworfenen Pommes mit Mayo, Apfelschalen, Lauchstrünken und Kotelettknochen, die bei den kühlen Frühherbsttemperaturen nicht faulig, sondern immer noch nach Essbarem rochen.
»Einmal die Woche«, entgegnete der ältere Müllmann, der in seinem orangeroten Arbeitsanzug und weißgrauem Dreitagebart aussah wie ein flambierter Bär. »Jeden Montag, gegen acht Uhr. Wenn wir das nicht tun, steigen die uns aufs Dach.«
»Wer steigt aufs Dach?«, fragte die Subotka und wedelte mit ihrem blonden Pferdeschwanz. Didier hatte bereits bemerkt, dass sie das immer tat, wenn sie keinen Plan hatte, aber irgendwie vorankommen wollte.
»Die Leute vom Dorf«, antwortete der jüngere Müllmann, ein hagerer Typ. »Wenn wir nicht pünktlich alles picobello hinterlassen, hagelt es wieder Beschwerden in der Zentrale, und wir kriegen Ärger von ganz oben.«
»Und Sie öffnen immer erst die Einfüllklappe, um zu schauen, was im Container ist?«, fragte Didier.
»Ja klar«, brummte der Ältere. »Was glauben Sie, was die Leute für Zeug untermischen! Die Plastiktüten, mit denen der Biomüll da reingeworfen wird, sind das kleinste Problem. Das kann rausgeharkt werden in unserer Anlage. Aber da waren mal zersägte Dachlatten drin, die haben sich verkantet. Damenbinden, Hundefutterdosen, giftige Gartenpflanzen … einfach alles. Unverantwortlich!«
»Was machen Sie, wenn Sie sehen, dass ein Container voller Fehlwürfe ist?«, hakte Natalia Subotka nach.
»Wir melden das ans Abfallwerk nach Trier. Die haben eine Statistik, in der fein säuberlich aufgelistet wird, wo es die meisten Sauereien gibt. Aber fragen Sie mich nicht, was dann damit geschieht. Alles Chefsache.«
Didier rieb sich die große Nase. Es juckte, vielleicht ein Schnupfen im Anmarsch. »Ist es denn in letzter Zeit schlimmer geworden?«
»Hier in der Gegend?«, fragte der Hagere und nickte. »Kann man so sagen. Das mit dem Schweinekopf und dem Darm voller Scheiße, das stand ja sogar in der Zeitung. Aber dass wir einen Fuß von einem Kerl drin haben …« Er schüttelte den Kopf, als sei er mehr empört als verstört über den Fund. »Mit Tennissocken und Badelatschen dran … Ich meine, wer macht so was?«
»Erst mal müssen wir rausfinden, wer so was ist«, entgegnete die Kommissarin spitz. »Und dann, wer so was macht. Alles der Reihe nach.«
Eine der Gestalten in Weiß näherte sich. »Der erste Container ist so weit durch, wir machen uns an den anderen.«
Didier und Subotka nickten. »Haben Sie da den Deckel auch geöffnet?«, wandte sich der Kommissar an den Bärenhaften.
»Noch nicht, wir haben ja sofort die 110 gewählt … Können wir jetzt weiter mit unserer Tour? Ich meine, wir sind jetzt heftig in Verzug.«
»In Ordnung«, meinte Didier. »Ihre Daten haben wir ja.« Aber die beiden Müllwerker würden noch Fingerabdrücke und DNA-Proben abgeben müssen, trotz Handschuhen und wetterfester Arbeitskluft. Es war ein Albtraum für die Spurensicherung. Die Container standen an einem öffentlichen Platz, sie müssten von ganz Netteseifen Vergleichsproben nehmen und könnten immer noch nicht sicher sein, dass nicht auch Leute von anderswo ihr gäriges Zeug hier abluden. Massenweise Spuren und kaum eine Chance, sie eindeutig zuzuordnen.
Didier hörte ein dumpfes Krachen und sah, dass die Weißgekleideten den zweiten Container auf eine weitere Plane ausgekippt hatten.
»Fund!«, rief einer sofort.
Die beiden Kommissare gingen hin. Und Didier war nun doch froh, nichts gegessen zu haben. Auch seine Kollegin kniff die Lippen zusammen. Dass es einen weiteren Fuß mit Tennissocke geben würde, das hatten die beiden schon vermutet. Ein einzelner Badeschuh lag etwas entfernt. Aber direkt neben ihn war ein Kopf gerollt. Aschige, verkrustete Haarbüschel, eine knollige, blaurot geäderte Nase, volle Lippen, nikotingelb verfärbte Zähne und zwei runde Vertiefungen unterhalb der Stirn. Die Lider waren über dunkelbraun verkrusteten Höhlen eingesackt. Didier atmete tief durch. Und zählte bis zehn. Dann ging es wieder. Er sah genauer hin. Etwas an dem Gesicht, das nicht wirklich mehr eines war, kam ihm bekannt vor.
»Sehen Sie das, Frau Subotka?« Er wies auf einen fast perfekten, kreisrunden Blutschwamm an der rechten Stirnseite zwischen Haaransatz und Augenbrauen, der ungefähr so groß wie ein Einkaufswagenchip war.
Sie beugte sich vor, atmete flach und nickte. Abrupt richtete sie sich wieder auf. »Klar. Ich bin ja noch nicht lange hier, aber die Wahlplakate von dem da, die hingen an jeder Laterne, als ich in die Eifel zog. Man konnte