Die Eifel und die blinde Wut. Angelika Koch
Читать онлайн книгу.würde sich damit abmühen müssen zu klären, wie Teile von Timotheus Nippes im Netteseifener Müll gelandet waren. Nicht er würde den Trierer Polizeipräsidenten und den Innenminister mit voraussichtlich spärlichen, verwirrenden Informationen für Pressekonferenzen füttern und dafür Kritik von allen Seiten kassieren müssen. Allenfalls ein kleines Rädchen in einem großen Getriebe würde er sein, einer von vielen für die Routinerecherchen. Er seufzte. »Gut, dann rufen wir jetzt in Trier an und warten, bis die Kollegen aus Mainz dazukommen.« Er drehte sich um und machte hinter dem Flatterband rund ein Dutzend Leute aus, einige von ihnen umklammerten neongrüne Eimerchen. Ob sie wirklich Biomüll hatten entsorgen wollen oder das Plastikutensil nur als Vorwand nutzten, um möglichst nah an den Ort des Geschehens zu gelangen, das war Didier gleichgültig. Hauptsache, es war kein neugieriger Journalist da. Aber er sah niemanden mit gezückter Kamera oder Handy im Anschlag, alle begnügten sich mit stillem Zuschauen. Hier auf dem Land ist die Welt noch in Ordnung, dachte er und begriff dann erst, dass er in entsetzensstarre Gesichter blickte.
3
Werner Baltes kannte seine Kollegen Lutz Didier und Natalia Subotka, obwohl er noch nie persönlich mit ihnen an einem Fall zusammengearbeitet hatte. Er hielt sie für akribisch arbeitende Kommissare, die mit den wenigen blutigen Verbrechen in der Region nicht überfordert waren. Ein paar spektakuläre Fälle gab es durchaus: Ein Mann hatte seine Geliebte im Drogenwahn erwürgt, sie ins gemeinsame Bett gelegt, das geheizte Schlafzimmer mit Silikon abgedichtet und so noch etliche Tage lang mit der Leiche in einer Wohnung gelebt. Baltes konnte sich vorstellen, was es für die Spurensicherung bedeutet haben mochte, den Tatort zu untersuchen … rein vom Optischen und Olfaktorischen her. Ein Hochbetagter hatte in geistiger Verwirrung seine Ehefrau erstochen, mit der er bald Diamantene Hochzeit gefeiert hätte. Er selbst hatte die Polizei alarmiert und sich bei ihrem Eintreffen entschuldigt, dass er nicht wisse, warum seine Frau keinen Kaffee gekocht habe, das tue sie sonst immer für Besuch. Ein jahrelang schwelender Nachbarschaftsstreit war eskaliert. Es ging um einen ausgeliehenen, aber nicht zurückgegebenen Wagenheber, der im Getümmel zweckentfremdet wurde. Aber eine derart planvolle Raserei, wie sie vor Jahren Timotheus Nippes widerfahren war, hatte es in der Eifel weder vorher noch nachher gegeben.
Auf dem Schreibtisch von Lutz Didier stapelten sich Akten, die schon von außen verrieten, dass sie oft gewälzt worden waren. »Immerhin kein Serientäter, kein Raubmörder und kein Terrorist, so viel ist klar. Sonst aber nichts. Schau noch mal ganz von vorn über alles drüber«, meinte Didier, als er Baltes die Dokumente zum längst erkalteten Fall gab. »Ein Haufen Verdächtiger, ein Haufen Motive, doch wirklich überzeugen konnte den Staatsanwalt nichts. Nicht einmal die Spezialisten vom LKA haben irgendetwas herausgefiltert, von dem man hätte sagen können: Das ist es! Es ist blamabel. Und bald sind es fünf Jahre her. Der Chef glaubt, dass sich die Presse auf das Jubiläum stürzt und uns mal wieder vorführt.« Presse war etwas hochgegriffen für das, was in den letzten Jahren davon übrig geblieben war: ein kunterbuntes kostenloses Anzeigenblatt und der altehrwürdige Mosella-Courier. Es war kein Geheimnis, dass es ein gespanntes Verhältnis gab zwischen dem Chefredakteur des Mosella-Couriers und dem Polizeipräsidenten. Es war nur ein Geheimnis, warum das so war. Und keine der Konfliktparteien machte Anstalten, es zu lüften.
Baltes musste nicht erst nachlesen, um wen es sich bei dem Opfer handelte, das ziemlich gerecht portioniert auf verschiedene Biomüllcontainer rund um Netteseifen gefunden worden war. Physisch vollständig zusammengeklaubt bis auf die Augäpfel, die blieben verschwunden. Er vermutete, dass die sich irgendwo zwischen Tonnen von kalten Nudeln, welkem Salat, Teefiltern, Kohlstrünken, Apfelkerngehäusen, Kartoffelschalen, Pizzabrotkanten oder Katzenfutterresten entmaterialisiert hatten. Sicher waren sie längst als Kompost auf einem Eifeler Acker gelandet, Staub zu Staub. Braun sind sie gewesen, das wusste Baltes. Wer findet schon braune Augen in einem Meer von Kaffeesatz. Ob sie überhaupt wichtig sind, die Augen? Warum hatte sich jemand die Mühe gemacht, sie auszustechen? Dass die geleerten Höhlen im Schädel nicht das Werk hungriger Nager oder Wespen waren, hatte die Obduktion ergeben. Irgendetwas sollten die Augen, die es nicht mehr gab, über das Opfer erzählen, davon war er überzeugt.
Er hatte Timotheus Nippes live erlebt, als offizieller Gast auf einem Neujahrsempfang in einem Dorfgasthof. Es gehörte sich, Vertreter der Polizei einzuladen. In dem Jahr hatte Baltes das Los erwischt und von allen Kollegen das kürzeste Streichholz gezogen. Er musste ins Willibrordsbräu. Das Wirtshaus war nach dem Missionar benannt, welcher angeblich die Eifel christianisiert und so lange auf einen mächtigen keltischen Hinkelstein eingedroschen hatte, bis daraus ein Kreuz geworden war. Der einst rustikale Tanzsaal war umfunktioniert in eine stylische Event-Location mit bunter LED-Beleuchtung. Mundarttheater fand hier statt, ab und zu ein Konzert oder Kabarett oder eine Traumhochzeit, nebenan in der Burgruine konnte man sich trauen lassen. Und es gab politische Veranstaltungen. Hier wurde geklatscht und gejohlt oder brav genickt, je nachdem. Nippes war Gründer der Wählergemeinschaft »Für Recht und Staat«, die zwischen Mosel und Ahr etliche Mandate in kommunalen Parlamenten eingefahren und dafür gesorgt hatte, dass er mit den Etablierten kungeln konnte. Obwohl er immer betonte, wie wenig er mit einer der Volksparteien zu tun habe – »Die passen einfach nicht zu uns hier« –, wurde er stets zitiert: »Die sollen alle in Berlin machen, was sie wollen, mit uns hat das nichts zu tun.« Eine Legislaturperiode lang war es ihm sogar gelungen, in den Mainzer Landtag einzuziehen – fraktionslos zwar und wie ein vor der Metzgerei allein gelassenes Hündchen verbannt auf einen der hintersten Sitze. Aber von dort aus bellte das Hündchen recht wirkungsvoll. Nippes war, gerade als Querdenker und Exot inmitten gesitteter Anzugträger, ein Medienliebling. Seine Markenzeichen waren Flanellhemden und eine Lederweste mit vielen Taschen. Reporter in Krisengebieten oder Tierfilmer in der kanadischen Wildnis trugen so etwas. Und eben Nippes, ein Kerl wie von einer Dampfwalze gezeugt, der nie müde wurde zu sagen, dass er sage, was ist. Ganz einfach. »Jeder versteht mich«, rief er Bass tönend in die Kameras und gezückten Notizblöcke, »ich labere nicht lang drum herum, ich bring’s auf den Punkt.« Und dann pflegte er verschmitzt zu lächeln, sodass sich die Anmutung, da rase ein Vierzigtonner ungebremst auf einen zu, in Erleichterung auflöste. Seinen Beritt, so nannte Nippes die Handvoll Landkreise, in denen er Oberwasser gewonnen hatte und in denen niemand an ihm vorbeikam.
Kritiker kürzten seine Gruppierung »Für Recht und Staat« vorzugsweise mit »FRuSt« ab und lächelten dabei süffisant, als ob sie einen besonders smarten Witz gemacht hätten. Man munkelte auch, der Stern der Wählergemeinschaft sei am Sinken, allzu durchschaubar die Inhaltsleere, allzu wankelmütig das Personal. Eifeler fallen nur einmal auf so etwas herein, hieß es. Timotheus Nippes selbst sah das anders, keine Spur von Unlust, im Gegenteil. Wenn er auf der Bühne eines Dorfsaales stand, dann rief er in ein Meer zu ihm emporgereckter Gesichter, nannte sich und seine Anhänger »Wir Rechtsstaatlichen«.
»Du hast es versprochen«, sagte Werner Baltes und nestelte vor dem Kleiderschrank an seiner Krawatte herum, »in guten wie in schlechten Zeiten.« Er legte derlei männliches Accessoire nur zu besonderen Anlässen an, und diese besonderen Anlässe pflegte er zu hassen, wie zum Beispiel Neujahrsempfänge. Ihn erwartete nur Blabla und Selbstbeweihräucherung abgehalfterter Politgrößen, davon war er überzeugt. Ausgerechnet Timotheus Nippes auf der Rednerliste zu finden hob seine Laune nicht. Umso wichtiger war es, dass Vera ihn begleitete. Nur mit ihr an der Seite würde er die drei Stunden Alkohol und Plattitüden überstehen, zusammengepfercht mit an die zweihundert anderen zum Zuhören verdonnerten Opfern.
Aber seine Gattin zierte sich. »Ich würde nur gehässige Kommentare abgeben«, rief sie ihm aus dem Wohnzimmer zu.
»Die sind mein Lebenselixier, das weißt du doch.«
»Du würdest dich für mich schämen. Stell dir vor, neben uns säße einer dieser Frusttypen und ich würde Witze machen über rechtsstaatliche Trolle.«
»Ich würde dich dafür lieben.«
»Tust du das denn nicht auch, ohne dass ich mitkomme?«
»Das müsste ich mir noch überlegen.« Er gab es auf, einen ordnungsgemäßen Knoten anstatt einer Geschenkschleife binden zu wollen, und riss sich die Krawatte vom Hals. Betont legere Kleidung wäre seine Art, den Protest gegen diesen verlorenen Abend auszudrücken. Er tauschte die Hose mit Bügelfalten gegen eine Jeans. Gerade in unliebsamer