Die Eifel und die blinde Wut. Angelika Koch
Читать онлайн книгу.blätterte im Modekatalog. Ökoklamotten, fair produziert, bunter gemustert als das, was die üblichen Labels in ihren Shops hatten. Für Menschen, die Gutes tun wollten. Auf dem Kaminsims standen zwei gerahmte Fotos, eines zeigte eine noch korpulente Lisamarie eingehakt bei einer grauhaarigen Frau. Beide lächelten mit inszenierter Heiterkeit, wie man es beim Posieren für ein Foto tut, rechts von ihnen Palmen, im Hintergrund das Blau eines Sees und in der Ferne eine dunkel gezackte Gebirgskette. Das andere war älter, die Farben schon leicht gelbstichig, ein etwa vierjähriges pausbäckiges Mädchen im Dirndlkleid auf einem Stück Rasen, es hielt eine Puppe im Arm oder ein Baby, Baltes konnte es nicht erkennen. Es war kein Schnappschuss beim Spielen, die Kleine stand stramm und hatte die Augenbrauen zusammengezogen, blinzelte widerwillig ins Gegenlicht.
»Milch? Zucker?«, klang es aus der Küche.
»Beides, bitte.«
Baltes ließ das Gespräch mit Lisamarie Bentheim Revue passieren. Er hatte es mitgeschnitten. Ihre Stimme war manchmal etwas rau, manchmal ganz zart, in ihr schwang der Singsang des Eifeler Dialektes mit, der alle Härten abschleift. Je öfter er ihr zuhörte, desto mehr fühlte sich Baltes angezogen und verwirrt von dieser Frau … Verletzlich und robust zugleich, so erschien sie ihm. Noch einmal startete er die Aufnahme.
Nein, ich habe nichts dagegen, wenn Sie auf Band aufnehmen, was ich sage. Ich will es Ihnen nicht unnötig schwer machen. Ja, Sie haben richtig geraten, Herr Kommissar. Ich habe kein Foto von meinem Vater. Ich habe nur noch diese beiden da, alle anderen sind im Müll und ab in die Verbrennungsanlage. Nicht mal das übliche Ritual, die Bilder selbst zu verbrennen, wollte ich mir antun. Das eine zeigt mich mit meiner Mutter, ein halbes Jahr bevor sie starb. Wir waren in Ascona, nur sie und ich. Irgendein anderer Tourist hat uns fotografiert. Mein Vater war nicht dabei. Und das andere Foto, das hat er gemacht. Von mir und meinem Bruder. Sie wissen nichts von meinem Bruder? Tut er was zur Sache?
Na ja, wenn Sie meinen, also die ganze Geschichte. Sie haben Zeit? Gut, meinetwegen. Kevin hieß er, ein alberner Name. Aber Mama wollte moderne Namen. Kevin und Lisamarie … Ich bitte Sie. Wenigstens heiße ich nicht Vanessa oder Jacqueline oder Chantal, hätte auch sein können. Jedenfalls gab es damals noch den Hof, ich meine, den richtigen Bauernhof. Wir hatten Milchvieh mit Grünland auf den weniger fruchtbaren und Ackerbau auf den fruchtbaren Böden und Schweine. Ein Helfer kam jedes Jahr aus Polen, damals waren die Leute dort noch arm und wollten bei uns richtig Geld verdienen. Und mein Vater … der hatte eine billige Arbeitskraft und das gute Gewissen obendrein. Er fing ja damals schon an, sich politisch zu interessieren. Konservativ, klar, konservativ auf seine eigene Weise. Der Pole? Czeslaw hieß er, ich erinnere mich noch an ihn, er hat viel gelacht und ich bin ihm immer mit dem Buggy um die Beine gefahren. Er wurde nie wütend, fand das lustig. Bei meinem Vater hätte ich mich das nie getraut.
Und Mama war schon seit Ewigkeiten krank, seelisch krank. Ich habe das als Kind natürlich gar nicht begriffen, warum sie tagelang im Bett liegen blieb, immer völlig geistesabwesend war … und dann wieder so reizbar war, so unberechenbar. Heute weiß ich, was die Benzos ihr angetan haben. Ich habe das im Internet nachgelesen, Benzodiazepine blockieren auf Dauer die Hirnareale, die für Sozialverhalten zuständig sind. War natürlich völlig illegal, so etwas jahrelang zu verschreiben, aber mein Vater kannte den Arzt. Der hat dann trotzdem Rohypnol-Rezepte ausgestellt oder Probepackungen rausgerückt. Wenn Sie mich fragen, das war richtige Dealerei, Junkies besorgen sich das Zeug als Heroinersatz. Ich weiß nicht, womit mein Vater den Arzt in der Hand hatte. Ich nehme an, dass es da etwas gab. Welcher Arzt wäre sonst so verrückt, illegal Betäubungsmittel zu verschreiben?
Ach, Sie kennen auch Ärzte, die so etwas machen? Dann tun Sie doch was dagegen! Was sagen Sie, das geht schlecht, von wegen ärztlicher Schweigepflicht? Glauben Sie wirklich, das ist eine Zwickmühle für die Ärzte? Sozusagen ein Betriebsunfall, weil man so schnell süchtig nach dem Zeug wird und schon nach vierzehn Tagen den Absprung vielleicht nicht schafft? Das ist keine medizinische Notwendigkeit, weiter Tabletten zu verschreiben, obwohl man weiß, dass man damit Abhängigkeit züchtet! Das ist Bequemlichkeit, weil es ja lästig ist, wenn da alle naslang jemand in der Praxis steht und Nachschub will. Aber die Sache mit Mama … da war noch mehr. Ich glaube fest daran, dass der Arzt etwas zu verbergen hatte. Und mein Vater wusste, was es war. Warum? Reines Bauchgefühl. Weibliche Intuition. Mein Vater wusste viel, von allen möglichen Leuten.
Der Arzt ist schon lange tot. Den können Sie als Mörder ausschließen, falls Sie glauben, der hätte ein Motiv. Hatte er vermutlich, aber er hat sich selbst den goldenen Schuss gesetzt, wusste ja, wie es geht, war selbst süchtig. Selbstsüchtig … glaube ich eher nicht. Ich erinnere mich an ihn, war eher so ein Landarzt wie aus dem Bilderbuch. Aber er hat immer gezittert. Dem ist irgendwas im Leben ganz furchtbar schiefgelaufen, wenn Sie mich fragen.
Was ich Ihnen eigentlich erzählen wollte … Ich schweife ab, ich weiß. Aber Sie haben ja nach den Fotos gefragt, das haben Ihre Kollegen damals nicht getan. Damals sah es auch anders aus hier, können Sie sich ja vorstellen. Ich habe alles rausgeworfen, was mich an meinen Vater erinnert. Also Kevin. Ich war fast fünf, ich sollte auf ihn aufpassen, wenn er im Kinderwagen schlief. Das war natürlich total langweilig, ich hätte lieber mit den Nachbarsmädchen gespielt. Aber nichts da, ich musste babysitten. Ich hab den Wagen mit Kevin drin dann einfach stehen lassen, vor der Scheune. Der hat ja sowieso geschlafen und nichts gemerkt. Ich weiß noch, ich bin zur großen Linde da vorn … Sehen Sie, die steht immer noch. Toller Baum! Es roch so schön und da waren Tausende Bienen. Ich hatte nie Angst vor Bienen. Wieso auch, Biene Maja war doch sooo lieb, ich hatte das Buch. Mich hat nie eine gestochen, Wespen auch nicht. Noch nie. Man muss einfach ruhig bleiben, ganz ruhig, dann tun sie auch nichts. Ich finde es albern, wenn man draußen auf der Terrasse sitzt und Kuchen isst und dann hektisch rumwedelt, bloß weil da so ein Insekt kommt und auch was abhaben will. Man muss nur aufpassen, dass sie nicht … Ach Entschuldigung. Ich sollte drüber weg sein und das nicht verdrängen, ich weiß. Außerdem habe ich das schon zigmal erzählt, in zig Therapien. Aber das ändert ja nichts. Es ist erstaunlich, wie wenig sich ändert, wenn plötzlich jemand tot ist. Für mich hat sich nichts geändert, nichts nach dem Tod meines Vaters, nichts nach dem Tod meiner Mutter, und bei Kevin … doch, da schon, ich war ja noch klein. Aber das Erzählen, das hat nichts geändert. Jedenfalls habe ich den Kinderwagen stehen lassen und bin weg, zum Baum. Wollte nur mal kurz riechen und schauen. Ich habe noch gehört, wie das Scheunentor aufging, es rumpelt ziemlich, wenn man es beiseiteschiebt, es klingt wie ein entfernter Donner. Und das Tuckern des Treckers habe ich gehört, das Quietschen der Bremse, Metall auf Metall irgendwie. Das Schreien von Czeslaw habe ich auch gehört. Er hat gebrüllt wie ein Stier. Ich habe mich hinter der Linde versteckt. Ich dachte sofort, dass was Schreckliches passiert sein musste … mit Kevin. Weil … weil … Babygeschrei gab es nämlich nicht. Er hätte doch wach sein müssen bei dem Lärm, er war immer total quengelig, wenn er plötzlich geweckt wurde. Nur Czeslaw habe ich gehört und dann meine Mutter … Wo mein Vater war, weiß ich nicht. Vermutlich unterwegs, für seine Rechtsstaatlichen. Oder vielleicht doch auch auf dem Feld, es war ja Frühsommer. Doch, vielleicht auf dem Feld.
Mich getröstet? Wo denken Sie hin! Czeslaw, der hat mich in den Arm genommen und selbst geweint. Auf der Beerdigung habe ich ihn zum letzten Mal gesehen. Der weiße Sarg war so winzig … ich erinnere mich nicht an viel, nur an rote Rosen in der Kirche und dass die ganz voll war von Leuten. An meine Eltern erinnere ich mich nicht, ich weiß nicht mehr, wie es denen danach ging. Oder ob meine Großeltern da waren … Die Eltern meiner Mutter lebten damals ja noch im Nachbardorf. Ich weiß nicht, ob meine Onkel und Tanten und Cousins da waren, es ist wie ausradiert. Irgendwie hatten wir wohl nie so ein nahes Verhältnis … seltsam für die Eifel, nicht wahr? Hier glucken doch immer alle zusammen und beschweren sich dann, dass man nichts tun kann, ohne dass irgendwer seinen Senf dazugibt. Bei mir war das anders. Die Leute gehen weg, weil es denen zu eng wird. Ich bin weggegangen, weil mich nichts gehalten hat … Erst als Mama krank wurde, da bin ich zurück hierher. Hätte ich wohl besser nicht getan. Aber wer weiß, was sonst mit mir passiert wäre. Irgendwas ist ja immer.
Jedenfalls setzt meine Erinnerung erst wieder ein, da ging ich schon zur Schule. Mein Vater hat mich mit dem Arsch nicht mehr angeguckt. Ein Mädchen, das war für ihn bloß niedlich und sowieso keine Stammhalterin, und dann hatte ich seinen Sohn auf dem Gewissen. In der Klasse haben sie