Die Eifel und die blinde Wut. Angelika Koch
Читать онлайн книгу.»Lass dir doch Zeit. Ich meine es ernst. Wenn du zu früh in die Mühle zurückgehst, ist das Risiko für einen Rückfall groß. Ich brauche dich, verstehst du das?«
Er legte seine Hand auf ihre, drückte sie sanft. »Keine Angst. Ich bin wieder neugierig. Ich habe wieder Lust auf die Arbeit. Und außerdem: Etwas an dem Fall sagt mir, dass da jemand am Werk war, dem es ähnlich ging wie mir. Nur viel brutaler, natürlich.« Er schaute einem großen dunklen Tier zu, vielleicht ein Karpfen, dessen Maul an der Wasseroberfläche nach Luft schnappte. Plötzlich tauchte es ab, hinterließ kleine, sich kreisförmig ausbreitende Wellen. »Kannst du dir vorstellen, dass eine Tochter ihren Vater auf eine solche Weise tötet? Ihn zerhackt und in den Müll wirft?« Er hoffte auf Antwort, auf Sachlichkeit. Er konnte sich darauf verlassen, als Sozialarbeiterin war sie unbestechlich nüchtern und gut.
Sie nahm ihre Hand zurück und schwieg eine Weile. »Mir ist schon viel Wut begegnet. Sicher gibt es immer wieder den Wunsch, so etwas zu tun. Man stellt es sich vor. Aber es wirklich zu machen … nein. Ich glaube nicht, dass irgendeine meiner Betreuten so was in die Tat umsetzen würde. Nicht mal, wenn sie geschlagen wurden. Gerade dann nicht. Die Frauen verharren auf der Opferseite. Das kennen sie, sie finden da nur schwer heraus, ihre Wut richtet sich eher gegen sich selbst … wenn sie überhaupt zulassen, das zu spüren. Oder sie gehen weg, ganz weit weg.«
*
Lisamarie Bentheim war weit weggegangen und zurückgekehrt. Baltes fuhr auf das Nippes’sche Anwesen. Er wollte sich selbst ein Bild machen. Von allem, was seine Kollegen damals notiert hatten. Die Pracht überraschte ihn nicht. Reiche Bauern hatte es in diesem Landstrich schon immer gegeben. Anwesen – das traf es, es glich fast schon einem Herrenhaus. Baltes stand vor einem in hellem Altrosa verputzten stattlichen Dreiseithof mit schwarz glänzenden Dachschindeln, mit weiß gestrichenen Fensterstürzen, gediegenen hölzernen Rahmen und einer wuchtigen, zweigeteilten Haustür aus Eiche. Überall waren Blumenkübel verteilt, aus denen sich rote, violette und weiße Geranien rankten. Sogar eine Palme war in den kopfsteingepflasterten Innenhof gestellt worden und fühlte sich offenbar wohl im Eifelklima. Abseits, in einer weiß markierten Parkbucht, standen drei Autos, ein SUV und zwei Kombis mit Hundegittern, alle mit Kennzeichen von weit her … Heile Wanderurlaubswelt. Baltes atmete tief durch. Ja, das Glück lag so nah, ein paar Kilometer vor der Bürotür. Irgendwo hinter den Mauern blökte ein Schaf, andere stimmten mit ein.
Er klingelte. Doch im Haus tat sich nichts. Er versuchte, durch eines der Fenster im Erdgeschoss zu schauen. Das Wohnzimmer, in das er blickte, war menschenleer … Ein gemauerter weißer Kaminofen, ein voluminöses braunes Ledersofa mit bunten Kissen, ein Regal voller Bücher. Er hatte Nippes nicht zugetraut, ein Literaturgenießer zu sein, aber dann bemerkte er einen aufgeschlagenen Modekatalog auf dem Couchtisch und ahnte, dass Lisamarie Bentheim nach dem Tod ihres Vaters längst den Zufluchtsort über dem Stall verlassen und den feudalen Wohntrakt für sich erobert hatte.
Unschlüssig blieb Bentheim stehen. Sollte er zurückfahren? Immerhin waren es vierzig Kilometer von seinem Homeoffice in Daun hierher. Diesmal meckerte ein Ziegenchor, klar erkennbar aus dem Stallgebäude. Er ging hinüber. Eine schlichte Stalltür wurde geöffnet.
Auf dem Foto in den Akten sah sie stämmig aus, die Familienähnlichkeit mit ihrem Vater war frappierend und auch der Blutschwamm war da in ihrem Gesicht, wenngleich deutlich kleiner und fast in den Haaren versteckt. Die blonde Frau, die auf der Schwelle zum Stall stehen blieb, wirkte jedoch fast zerbrechlich und durchscheinend wie jemand, der eine lange Krankheit überstanden hatte. Sie steckte in einer Cargohose und einer Arbeitsjacke, die ihr an Schultern und an den Hüften unförmig runterhingen, die klobigen Gummistiefel waren viel zu weit für ihre Waden. Vielleicht hatte ihr neues Leben ohne den Vater nebenan dazu geführt, eine seelenschützende Fettschicht loszuwerden. »Kann ich Ihnen helfen?«, fragte sie.
Baltes zückte seinen Dienstausweis.
»Haben Sie neue Erkenntnisse?«, fragte sie, bevor er irgendetwas sagen konnte. Ihre auffallend hellen Augen waren voller Lebendigkeit, in ihnen lag keine Spur von Angst oder Beunruhigung.
Nach Aktenlage war sie eine Verdächtige, noch immer. Doch nach ihrem gelassenen Auftreten zu urteilen war sie das nicht. Baltes registrierte den Widerspruch. Aber er musste nichts bedeuten. Der Kommissar wusste, dass sogar Täter, die eindeutig überführt werden konnten, sich selbst eine ganz andere Geschichte erzählten und fest an diese glaubten. Sie erinnerten sich an eine vollkommene Unschuld, die es nicht gab. »Der Fall wird noch mal überprüft, routinemäßig. Ich würde mich gern mit Ihnen über Ihren Vater unterhalten.«
Sie winkte ihn her. »In Ordnung. Kommen Sie rein, ich habe hier noch zu tun. Oder haben Sie Angst vor Tieren?«
Er schüttelte den Kopf und ging an ihr vorbei ins Halbdunkel der Streichelzoo-Behausung. Sie schloss die Stalltür, griff nach einer Forke und warf den Ziegen, die hinter einem hölzernen Gatter auf Stroh standen oder wiederkäuend herumlagen, frisches Heu zu. Es duftete intensiv, süß nach dem getrockneten Gras und zugleich würzig wie Maggi nach Tier. Baltes sah, wie sauber und gepflegt alles war. Lisamarie Bentheim musste ihre Arbeit lieben.
»Sie waren hier, als Ihr Vater getötet wurde? Allein?« Er lehnte sich ans Gatter.
Sie nickte. »Nehme ich jedenfalls an. Ich weiß ja nicht, wann genau er umgebracht wurde. Oder ist das eindeutig klar?« Sie sah in sein unbewegliches Gesicht. »Jedenfalls war er tagelang fort, damals, es gab ja einen ziemlichen Trubel wegen ein paar Entscheidungen, die er durchgeboxt hat. Ich habe mir nichts dabei gedacht, er war oft unterwegs und wir haben uns nicht gesehen. Oder er ging auf Jagd … Er hatte Kumpel in Sachsen und Thüringen, mit wildreicheren Revieren als hier. Er hat sich bei mir nie abgemeldet. Er war niemand, der sich bei seiner Tochter abgemeldet hat. Umgekehrt schon, umgekehrt hätte ich das tun müssen. Sonst wäre er wütend geworden.«
»Und wie sah seine Wut aus?«
Sie schaufelte weiter. »In den letzten Jahren nicht mehr so schlimm. Nicht mehr so laut. Seit Mama tot ist. Hat ihn wohl milder gestimmt. Zuzuschauen, wie jemand an Krebs stirbt, das hat nicht mal ihn kaltgelassen. Seitdem hat er nicht mehr gebrüllt, nur noch irgendwas in sich hineingebrummt und mich stehen lassen, mich mit Missachtung gestraft. Früher, als ich klein war, da war es ein richtiges Wechselbad. Mal war ich sein Liebling, mal hat er mich auch geschlagen. Ich habe dann ein einziges Mal zurückgeschlagen, da habe ich schon studiert. Seitdem hat er mich in Ruhe gelassen, mehr oder weniger.« Sie unterbrach ihr rhythmisches Arbeiten. »Sind Sie gekommen, um herauszufinden, ob ich immer noch dasselbe sage, was in den Akten steht? Widersprüche finden vielleicht?« Sie lächelte.
Baltes wollte einen beschwichtigenden Schritt auf sie zutun. Doch etwas hielt ihn fest. Als wäre er am Gatter festgetackert. Es wurde ihm eng in seiner Lederjacke. Und noch enger. Er stand da, mit dem Rücken am Holz, und spürte ein Zerren. Ratlos blickte er in das Gesicht der Frau. Ihr Lächeln war einem breiten Grinsen gewichen.
»Sie mag Sie. Zumindest Ihre Jacke.«
Er versuchte, sich umzudrehen, schaffte es halb. Und sah in rechteckige, waagrechte Pupillen. Ein Stück seiner Jacke verschwand zwischen den Holzstäben und dann im Maul der Ziege, die ihn durchaus freundlich, aber zugleich wild entschlossen musterte. Das Tier ging einen Schritt zurück. Das Leder war zum Zerreißen gespannt. Ziegenleder, dachte er reuevoll, butterweiches Ziegenleder. »Was muss ich tun, damit sie mich loslässt?«
»Nichts. Geduld haben.«
Hatte er nicht. Er hob den Arm, hoffte, die Ziege so zur Aufgabe zu bringen und zu verscheuchen, langte an eines ihrer gebogenen Hörner. »Das ist ja warm«, sagte er erstaunt, »richtig handwarm.« Er hielt das Horn fest, die Ziege hielt die Jacke fest. Ein zähes Ringen begann, Mann gegen Mann. Nein, er sah das Euter, das wie die Sahnespritztüten eines Konditors vom pelzigen Leib abstand. Mann gegen Ziegenmama. Es war entwürdigend.
Endlich ließ sich die Bentheim herab, dem Tier mit dem Stiel der Forke zu drohen. Es machte abrupt kehrt. Baltes starrte auf Bissspuren und Tropfen von schleimigem Sabber, die nun seine Jacke zierten. Zum Glück war nichts eingerissen.
»Kommen Sie, ich mache Ihnen einen Kaffee. Und wenn Sie dann noch was fragen wollen … meinetwegen.« Sie ging