Kreuzberger Leichen. Dieter Hombach
Читать онлайн книгу.Meister ist inzwischen Petersens Aufforderung gefolgt und näher gekommen, so nah, dass er dem Toten in die Augen schauen kann. Hartenfels merkt gleich, dass das eine Serie von Ticks auslöst, Meister blinzelt in Reihe. Eine ganze Weile geht das so, er scheint es nicht zu merken.
»Kennen Sie ihn?«, fragt Hartenfels.
Meister schüttelt bloß den Kopf, und seine Mimik beruhigt sich. Wie ein Teich, der sich klärt, nachdem jemand einen Stein hineingeworfen hat.
»Mal zurück zu dem Ast«, wendet sich Hartenfels wieder an Petersen, »woran denkst du denn da?«
Petersen breitet die Arme aus. »Wir werden das Holz bestimmen und dann sage ich dir, ob jemand etwas Bestimmtes mitgebracht oder es vor Ort gefunden haben kann, einverstanden?«
Hartenfels nickt und fasst Meister am Arm, sagt, dass sie nun gehen würden, Meister wendet sich abrupt von der Leiche ab. Der Blick ins Gesicht des Toten hat ihn aufgewühlt. Erst jetzt bemerkt Hartenfels, dass der kleine Bottich am einen Ende des Obduktionstischs vollkommen blutverschmiert ist. Ist das der Grund für Meisters Panik?
Und wieder der Geruch. Nein, denkt Hartenfels, kein Geruch, sondern ein Duft.
Er schnappt sich den Beutel, in dem die Kleidung des Toten steckt, und öffnet ihn. Eine Duftwolke schlägt ihm entgegen. Unglaublich, dass er der Einzige zu sein scheint, der das riecht. Er packt alles zusammen.
»Augenblick«, hört er Petersen hinter sich sagen, »ich habe da noch etwas Seltsames gefunden.«
Hartenfels und Meister drehen sich um.
»An der Hose des Toten«, fügt Petersen hinzu.
»Was?«, fragt Hartenfels.
»Parfüm. Und zwar eine große Menge, Marke sage ich dir noch.«
Dabei lächelt er sein besonderes Lächeln.
Hartenfels könnte schwören, dass Petersen die ganze Zeit auf diesen Augenblick gewartet hat.
Na warte, denkt er und rennt hinaus, durchquert Gänge und Flure und erreicht schließlich seinen Wagen. Ohne zu zögern, reißt er die Fondtür auf und Zerberus springt heraus.
»Komm«, ruft Hartenfels und läuft zurück, Zerberus ist begeistert.
Natürlich haben Hunde keinen Zutritt zu Petersens Reich, aber das ist es ja gerade. Schwer und groß wie er ist, stampft Hartenfels über den gefliesten Boden, Türen schwingen automatisch auf. Dann ist er wieder da. Petersen und Meister haben sich kaum bewegt, stehen immer noch in der Nähe des Tischs mit der Leiche.
Zerberus will zu Meister, hält plötzlich inne und dreht ab, rennt zu dem Sack mit der Kleidung des Toten, schnüffelt und bellt, weil er ihn nicht aufmachen kann, dafür zerrt er ihn von dem Wägelchen, auf dem er liegt.
»Und ich weiß, von wem dieses Parfüm ist«, sagt Hartenfels zu Petersen, wobei er dessen Lächeln imitiert.
Was Hartenfels, seit sie hier sind, in die Nase sticht, was er schon am Fundort der Leiche gerochen und später in Meisters Haus als »Atmosphäre« wahrgenommen hat, ist das Parfüm von Evelyn Köhler.
»Ich besorge dir eine Probe«, erklärt Hartenfels und lässt das Lächeln verschwinden.
6. Kapitel
Zur erkennungsdienstlichen Behandlung fährt Hartenfels Meister von der Turm- in die Keithstraße zum LKA und nutzt die Zeit selbst, um einen Besprechungstermin mit seinen Mitarbeitern für den Nachmittag anzusetzen, wobei er davon ausgeht, dass bis dahin erste Ergebnisse der Spurensicherung vorliegen. Er nimmt Kontakt zu dem Suchtrupp auf, der den Viktoriapark durchkämmt hat, und erfährt, dass die Männer nichts gefunden haben. Dann wartet er, bis Meister fertig ist, um ihn nach Hause zu bringen.
Weil es nicht mehr schneit, hat sich der Verkehr auf den Berliner Straßen beruhigt. Hartenfels betrachtet Meister aus den Augenwinkeln, während er am Landwehrkanal entlangfährt. Der Besuch in der Rechtsmedizin hat ihn nicht weitergebracht, Meister wirkt gedankenverloren. Er sagt nichts, starrt nur nach vorn. Hartenfels selbst will nicht darüber reden, dass an dem Mann, den Meister ausgegraben hat, Spuren des Parfüms seiner Freundin nachweisbar sind. Das ist ihm viel zu verwickelt. Hat sie den Toten gekannt? Was hat es für einen Sinn, darüber zu spekulieren, solange niemand weiß, wo sie ist und um wen es sich bei der Leiche handelt. Und weil Meister dabei bleibt, den Mann noch nie gesehen zu haben, braucht er das auch nicht wiederzukäuen.
»Der Suchtrupp hat keine Spur von Frau Köhler gefunden«, sucht sich Hartenfels ein Thema, mit dem er vielleicht zu Meister vordringen kann.
Tatsächlich blinzelt Meister und dreht seinen Kopf, aber er schweigt weiter.
»Wo könnte Ihre Freundin sich aufhalten?«, fragt Hartenfels. »Vielleicht bei Verwandten, in einem Wochenendhaus?«
»Warum sollte sie da hinwollen?«, fragt Meister zurück.
»Vielleicht gibt es Dinge im Leben Ihrer Lebensgefährtin, von denen Sie nichts wissen.«
»Was für Dinge?« Meister zieht die Brauen hoch, klingt ehrlich erstaunt.
»Ein anderer Mann?« Hartenfels lässt es bewusst wie eine Frage klingen.
»Das hätte ich gemerkt«, meint Meister, »und Verwandte hat sie keine.«
Hartenfels staunt über die unerschütterliche Ruhe, die von Meister ausgeht. Von diesem Tick mit den Augen einmal abgesehen.
»Machen Sie sich denn gar keine Sorgen?«, platzt es aus ihm heraus.
»Natürlich mache ich mir Sorgen«, antwortet Meister, »aber davon kommt sie auch nicht zurück.«
»Jedenfalls glaube ich nicht, dass Ihre Freundin dem mutmaßlichen Mörder begegnet ist«, sagt Hartenfels.
»Und wieso nicht?«
»Der Tote lag seit circa 24 Uhr im Viktoriapark. Das würde bedeuten, dass er stundenlang auf sie gewartet hat, was mehr als unwahrscheinlich ist.«
Meister wendet sich ab und schaut wieder nach vorn.
»Sind Sie sicher, was den Todeszeitpunkt angeht?«, fragt er so leise, dass Hartenfels ihn kaum versteht.
»Petersen ist sich sicher.«
Meister nickt mehrmals, was Hartenfels nicht einzuordnen weiß. Weil er gerade auf den Mehringdamm einbiegt und sofort im Stau steht, ist er abgelenkt.
»Evelyn hat mich inspiriert«, sagt Meister, ohne seine Blickrichtung zu ändern.
Hartenfels wartet erst einmal ab. Worauf will Meister hinaus?
»Es wäre eine Katastrophe, wenn sie weg wäre.«
Hartenfels schweigt.
»Warum sollte sie so etwas tun?« Meister ist lauter geworden. »Wir hatten keinen Streit, das müssen Sie mir glauben.«
»Manchmal braucht es keinen Streit«, sagt Hartenfels.
»Wollen Sie wissen, ob wir noch Sex haben?« Meister sieht Hartenfels direkt an, seine Augen haben einen stechenden Ausdruck angenommen.
Nein, das wollte Hartenfels nicht wissen, aber wenn Meister es schon anbot.
»Haben Sie?«, fragt er.
»Erst heute Morgen.« Wie Meister das sagt, die Hände zu Fäusten geballt, sodass die Fingerknöchel weiß hervortreten, scheint es für ihn sehr wichtig zu sein.
Wahrscheinlich ist Meister einer dieser Männer, die sich ihre Selbstbestätigung im Bett holen, überlegt Hartenfels, aber wie bringt ihn das weiter? Vielleicht bekommt Meisters Panzer langsam Risse, denkt er dann.
»Und damit ist die Welt für Sie in Ordnung?«, fragt er bewusst provokativ.
»Mein Gott«, Meister dreht Hartenfels den ganzen Oberkörper zu, schreit fast, so laut spricht er, »geben Sie endlich Ruhe. Ich habe doch auch keine Antwort.«