Max und Moritz - Was wirklich geschah. Johannes Wilkes
Читать онлайн книгу.zu machen, wer erlaubte sich, so zu tun, als ob die beiden die schlimmsten Verbrecher wären? Karl-Dieter glaubte weiter Tante Dörte. Tante Dörte konnte sich nicht täuschen. Wen sie ins Herz geschlossen hatte, der war ein anständiger Mensch. Punkt. In diesem Augenblick sah Karl-Dieter eine dunkle Gestalt um die Ecke biegen, rasch näherte sie sich dem Haus. Die Witwe!
»Mütze!«, rief er in den dunklen Keller hinab. Da klackerte es schon an der Haustür, die Wirtin trat ein.
Fünftes Kapitel
Schnaufend ließ sich Karl-Dieter auf das Bett fallen. Im letzten Moment hatte er die Kellertür schließen können. Was aber, wenn die Wirtin das Knarren gehört hatte, wenn sie einen prüfenden Gang in den Keller machte und Mütze entdeckte? Dann war Schluss mit inkognito, dann würde ihr klar werden, welches Spiel hier gespielt wurde. Und wenn Witwe Bolte tatsächlich Dreck am Stecken hatte, wie es Tante Dörte vermutete, dann konnten sie gleich ihre Koffer packen.
Zäh verrannen die Minuten. Atemlos lauschte Karl-Dieter in die Dunkelheit. Was mochte Mütze im Keller finden? Es würden doch nicht … Nein, Karl-Dieter verbot sich, daran zu denken, dennoch drängte sich ihm der Gedanke auf, wieder und wieder. Zugegeben, Tante Dörte schien der Witwe manches zuzutrauen, aber dass diese die beiden Jungs … Bislang hatte Karl-Dieter es nicht für möglich gehalten, jetzt aber, wo er mit klopfendem Herzen allein im Zimmer wartete, sah er vor seinem Auge Max und Moritz plötzlich vor sich, sah sie tot im Kartoffelkeller liegen, vergiftet von ihrer bösen Stiefmutter. Karl-Dieter setzte sich auf und lauschte. Wann kam Mütze endlich zurück? Hin und wieder drang ein Geräusch an sein Ohr, ein Klackern und leises Stühlerücken, das musste die Wirtin sein, sie schien im Gastraum beschäftigt. Hoffentlich ging sie nicht in den Keller. Was aber, wenn doch? Wenn sie die Brettertür öffnete und die Treppe hinunterging, hinunter in den Keller? Und wenn sie dort tatsächlich Max und Moritz … Was würde sie dann mit Mütze machen? Ob sie bewaffnet war? Ob sie eine Knarre besaß? Karl-Dieter sprang auf, öffnete die Zimmertür einen Spalt und spähte ins dunkle Treppenhaus hinunter. Unten war nichts mehr zu hören, nicht das kleinste Geräusch drang an sein Ohr. Nur noch seinen eigenen Herzschlag, den hörte er pochen. Musste er nicht nachsehen, musste er nicht ebenfalls hinunter in den Keller? Er wollte gerade los, da klang in die Stille hinein ein diskretes Knarren aus dem Treppenhaus, Sekunden später tauchte eine Gestalt aus dem Dunkeln auf. Karl-Dieter plumpste ein Stein vom Herzen. Es war Mütze.
»Und?«, fragte Karl-Dieter atemlos.
»Eine Mausefalle und ein dickes Fass.«
»Ein Fass? Was für ein Fass?«
»Ein Fass voller Sauerkraut.«
Sechstes Kapitel
Mitten in der Nacht erwachte Karl-Dieter. Wie spät mochte es sein? 2 Uhr, 3 Uhr? Und was war es, das ihn geweckt hatte? Ist es der Wind gewesen, der aufgekommen war und nun ums Haus heulte? Nein, es ist nicht der Wind gewesen, auch nicht dessen Pfeifen im Kamin, es war ein anderes Geräusch, ein ächzendes Klappern und Knarren, das sich zu einem immer schnelleren Rhythmus aufschwang. Karl-Dieter trat ans Fenster und schob die vergilbte Gardine beiseite. Die Windmühle! Das Geräusch kam von der Windmühle. Sie hatte sich in Gang gesetzt. Die schwarzen Schatten ihrer Flügel schwangen durch die Nacht wie Fallbeile, es war, als wollten sie die Dunkelheit zerhacken, dazu stöhnten Holz und Sparren zum Gotterbarmen. War das üblich? Mitten in der Nacht zu mahlen?
Karl-Dieter blickte eine Weile in die Nacht hinaus. Wo nur mochten Max und Moritz stecken? Waren sie hier in Finsterfelde? Hielt man sie irgendwo versteckt, in einem Verlies als Kellerkinder, so wie einst Kaspar Hauser? Er wollte die Gardine schon wieder zurückgleiten lassen, da sah er eine Person um die Ecke biegen. Sie hatte sich in ein Tuch verhüllt und eilte durch den Garten zu einem der rückwärtigen Fenster, das einen Spalt weit offen stand. Karl-Dieter bekam große Augen. Die dunkle Person hielt inne, zog etwas Weißes aus der Tasche und warf es durch den Fensterspalt ins Zimmer hinein.
Jetzt erst löste sich Karl-Dieter aus der Erstarrung. Rasch weckte er Mütze, der sofort zum Fenster lief. Gemeinsam starrten sie hinaus in die Nacht. Nichts war zu sehen. Nur die Schatten der Windmühlenflügel durchschnitten die Dunkelheit, wieder und wieder, dazu stöhnte und ächzte es wie unter einer großen Last.
Zitat
Denn hinderlich, wie überall.
Ist hier der eigne Todesfall.
Wilhelm Busch
Samstag
»Du wirst es dir eingebildet haben.«
»Habe ich nicht!«
»Es wird ein Schatten der Windmühle gewesen sein.«
»War es nicht.«
Die Freunde saßen alleine im Eck des Frühstückszimmers. Über ihnen an der Wand hing eine goldblechgerahmte Autogrammkarte mit dem verblichenen Foto eines fröhlichen Schlagerpaars. »Danke für die Gastfreundlichkeit, Dagmar Frederic und Siegfried Uhlenbrock«, stand mit schwarzem Filzstift darauf geschrieben. Lange her. Niemand anderes schien mehr auf die Idee zu kommen, in diesem gottverlassenen Nest Urlaub zu machen, geschweige denn, ein Konzert zu geben. Das Frühstück hätten frühere Generationen lächelnd als frugal bezeichnet, Mütze sagte einfach nur Frechheit dazu. Nicht mal ein Frühstücksei gab es, trotz der vollmundigen Ankündigung auf der Schiefertafel. Obwohl, jetzt erst fiel Mütze auf, dass der Spruch »Eier von hauseigenen Hühnern« weggewischt worden war. »Aus gegebenem Anlass keine Eier mehr«, war dort nun zu lesen. »Aus gegebenem Anlass …«, die Freunde rätselten, was das bloß zu sagen hatte. Aber selbst mit Eiern hätte das Frühstück nicht mal den Jugendherbergsmindeststandard erreicht. Die vier Aldi-Brötchen in dem Plastikkorb waren sicher im Ofen aufgebacken, den Marmeladenglibber musste man aus kleinen Aufziehaluschälchen kratzen, die Butter war kühlschrankhart, und die bräunliche Plörre, die ihnen Witwe Bolte als Kaffee verkaufen wollte, war ungenießbar.
Verdrossen biss Mütze in ein trockenes Brötchen. Nicht nur das Frühstück verdarb ihm die Laune. Was sollten sie hier länger? Wenn die Bengel wirklich in Finsterfelde waren, wo sollten sie anfangen zu suchen? Und warum durften sie mit niemandem darüber sprechen, warum sie hier waren? Was sollte die verdammte Geheimnistuerei?
»Tante Dörte …«
»Jetzt hör mit Tante Dörte auf!«
»Sie hat ihre Gründe.«
»Und welche, bitte schön?«
Karl-Dieter senkte den Blick und mühte sich krampfhaft, mit dem Messer etwas von dem Buttereisklotz zu kratzen.
»Würdest du mir bitte antworten, Knuffi?«
»Ich sag’s dir nur, wenn du mich nicht auslachst.«
»Hab ich dich schon mal ausgelacht?«
»Also gut.«
Karl-Dieter machte eine kurze Pause. Die Wirtin kam um die Ecke gebogen, in der Hand eine Porzellanschale, in der zwei Döschen Kaffeesahne kreiselten. Alles war offensichtlich genau abgezählt, bloß die Gäste nicht zu sehr verwöhnen! Als sie die Porzellanschale auf den Tisch stellen wollte, stürzten von der Zimmerdecke plötzlich zwei Schatten herab, zwei dicke Käfer, die anfingen, die Wirtin brummend zu umschwirren. In aggressiven Kurven setzten sie zum Angriff an, umsurrten Kopf und Nase der Alten in immer dichteren Attacken. Klirrend ließ die Witwe die Porzellanschale fallen, schrie auf und schlug heftig nach den Tierchen.
»Ich erschlag euch, ihr Mistkäfer«, rief sie kreischend und wedelte wie verrückt mit den Armen.
»Aber nicht doch«, rief Karl-Dieter, »das sind doch Maikäfer!«
Rasch sprang er auf und fing die Brummer geschickt mit der Serviette ein, um sie aus dem geöffneten Fenster ins Freie zu entlassen.
»Dass es noch Maikäfer gibt«, sagte er mit verwundertem Lächeln, die Witwe aber lief schimpfend davon. Die Freunde waren wieder allein.
»Nun?«, sagte Mütze, »was