Max und Moritz - Was wirklich geschah. Johannes Wilkes
Читать онлайн книгу.die ein eigentümliches Foto zeigte.
»Was soll das sein?«, fragte Mütze knurrend.
»Dortmund-Dorstfeld. Der Weg zwischen Tante Dörtes Salatbeeten.«
»Willst du mich auf den Arm nehmen?«
»Du musst genau hinschauen.«
Karl-Dieter spreizte das Bild etwas, sodass es sich vergrößerte. Zu sehen war ein sorgfältig geharkter Sandweg.
»Erkennst du’s jetzt?«
Er vergrößerte es weiter, bis die Körner des geharkten Weges zu unterscheiden waren. An einer Stelle aber waren die parallelen Linien durchbrochen.
»Da hat ein Vogel im Sand gescharrt.«
»Richtig«, flüsterte Karl-Dieter, »es könnte ein Vogel gewesen sein, ein Himmelsbote. Dann muss es aber ein besonderer Vogel gewesen sein, ein recht gebildeter. Schau doch, da hat doch jemand was in den Sand geschrieben.«
Karl-Dieter vergrößerte das Foto noch ein wenig.
»Ich sehe nichts«, sagte Mütze.
»Man muss sich etwas einsehen«, sagte Karl-Dieter, »da oben, erkennst du’s? Da steht doch das Wort Erwin.«
Mütze blickte auf die Stelle. Hm. Mit etwas Fantasie konnte man sich tatsächlich einbilden, den Namen Erwin in dem Gekritzel zu erkennen.
»Okay«, sagte Karl-Dieter erleichtert, »und nun das Wort darunter.«
Mütze schob die Lesebrille weit auf seine Nasenspitze und buchstabierte, was mit krakeligen Vogelkrallen auf den Weg geschrieben zu sein schien: »M – O – R – D«.
»Mord!«, sagte Karl-Dieter und schwieg bedeutungsschwer.
Siebtes Kapitel
Stinksauer war kein Ausdruck. Wutschnaubend warf Mütze seine Sachen in den Koffer. Keine Sekunde länger würde er mehr in diesem Kaff bleiben. Auf was für einen Irrsinn hatte er sich da eingelassen. Mensch, Karl-Dieter! Dass Tante Dörte zu spinnen begann, geschenkt, sie war nicht mehr die Jüngste. Dass sich jedoch Karl-Dieter von der Spinnerei anstecken ließ, machte ihn einfach nur sprachlos.
»Jetzt warte doch mal eine Sekunde«, sagte Karl-Dieter.
Die Art, wie Mütze die von ihm so sorgfältig zusammengelegten Hemden einfach in den Koffer stopfte, verursachte ihm körperliches Unwohlsein.
»Lass mich doch erklären. Nachdem Tante Dörte die Botschaft gelesen hat, hat sie sogleich versucht, die Söhne von Erwin Bolte zu erreichen. Max und Moritz sind doch unmittelbar nach Eintreffen der Todesnachricht aus dem Internat geflohen und nach Finsterfelde gefahren. Am Tag nach der Beerdigung hat Tante Dörte die Botschaft auf ihrem Gartenweg entdeckt und sogleich versucht, die Jungs zu erreichen. Vergebens. Beide Handys tot! Daraufhin hat Tante Dörte bei Witwe Bolte angerufen. Die Jungen seien auf und davon, hat die Wirtin ihr erzählt, keiner wüsste, wohin.«
»Vielleicht sind sie zurück ins Internat, um noch ihre Sachen zu holen.«
»Eben nicht! Schlimmer noch, welcher Halbwüchsige kann auch nur einen Tag ohne sein Handy leben?«
Im selben Moment ertönte ein kurzes Kläffen. Erschrocken blickte Karl-Dieter zur Tür. Jetzt erst bemerkte er den Spitz. Er musste sich mit ihnen ins Zimmer gestohlen haben. Der Hund saß aufrecht auf seinem Hinterteil, hatte seine Vorderpfoten durchgedrückt und sah sie mit klugen Knopfaugen an. Dann bellte er erneut, ein kurzer Laut, nicht ängstlich, nicht aggressiv, es klang vielmehr wie eine Bestätigung, Karl-Dieter würde später sagen, wie eine Aufmunterung. Doch bevor er etwas sagen konnte, polterte es draußen, zugleich wurde die Tür mit Schwung aufgerissen, Witwe Bolte stampfte ungebeten ins Zimmer. Wütend beugte sie sich nieder und gab dem Spitz was hinter die Ohren. »Raus hier, du Gauner! Was hast du hier verloren?« Winselnd zog der Spitz den Schwanz ein und eilte die Treppe hinunter. »Und Sie, meine Herren, lassen künftig meinen Hund in Ruhe, haben wir uns verstanden?«
Achtes Kapitel
Mütze wollte eine Weile für sich sein? Gut, in Ordnung, des Menschen Wille war sein Himmelreich! Verärgert marschierte Karl-Dieter los. Auch ihm war es sehr recht, ein Stündchen für sich allein zu haben. Was bildete sich Mütze ein? Ohne ihn zu fragen, den Koffer zu packen! Ging man so miteinander um? Stand man nicht zusammen in guten wie in schlechten Zeiten? Gut, man sollte nicht dramatisieren. Von einer schlechten Zeit zu sprechen, war stark übertrieben. Dennoch, ging es nicht darum, die Sorgen des anderen zu teilen, Anteil zu nehmen an dem, was den Partner beschäftigte? Karl-Dieter lief unwillkürlich schneller. Er konnte nicht anders, er machte sich nun mal Sorgen, Sorgen nicht nur um Max und Moritz, fast mehr Sorgen noch um Tante Dörte. Er konnte doch auch nichts dafür; die gute Tante in Nöten zu wissen, war für ihn unerträglich. Alles hatte Tante Dörte für ihn getan, immer ist sie für ihn da gewesen, und nun sollte er sie enttäuschen? Unmöglich!
Zum Dorf zog ihn nichts, stattdessen schlug er den Weg hinunter zu den Flussauen ein. Er liebte die schlichten Landschaften der Mark, er brauchte keine dramatischen Gebirgspanoramen, keine spektakulären Strände. Das weite grüne Land, die sanft sich wellenden Felder, die vielen versteckten Seen, die kleinen Wälder, die freundlichen Dörfer, all das wirkte wie Balsam auf sein Gemüt. Karl-Dieter spürte, wie sein Ärger nachließ. Nicht lange und er stieß auf einen kleinen Bach, dessen Ufer er folgte. Murmelnd flossen die munteren Wellen durch die Wiesen, bis sie sich hinter einer sanften Kurve entschlossen, sich schwungvoll in die größere Dosse zu ergießen.
Karl-Dieter blieb sinnierend stehen. Er hatte ein Faible für solch einen Ort. In Irland sind sie mal an so einer bezaubernden Stelle gewesen, bei Killarney. Meeting of the waters, hatten die Iren die Geburt des Avoca-Rivers genannt. Die Franzosen sprachen von Confluence, von einem Zusammenfließen. Der Ausdruck traf es nach Karl-Dieters Meinung gut. Dennoch blieben Fragen. Schluckte der größere Fluss den kleineren, ging der kleinere im größeren auf, oder war es nicht vielmehr so, dass beide zusammen einen völlig neuen Fluss bildeten, der mehr war als die schlichte Summe ihrer Wassermengen?
Nicht ohne Grund sprach man auch beim Menschen von Einflüssen und vom Beeinflussen. Immer dann, wenn zwei Menschen sich etwas bedeuteten, wenn sie miteinander in Kontakt traten, beeinflussten sie sich zwangsläufig. Wie war es mit ihnen, mit ihm und Mütze? Wer nahm Einfluss auf wen und in welcher Weise? Eine Freundschaft war nicht möglich, ohne sich von solchen Einflüssen freizumachen. Wichtig nur war es, nicht völlig im anderen aufzugehen. Das konnte nicht das Ziel sein. Karl-Dieter seufzte. Wie oft hatte er eine solche Selbstaufgabe in seinem Bekanntenkreis erleben müssen. Das ging nicht gut, das nahm ein trauriges Ende. Dann trennte man sich lieber rechtzeitig. Doch selbst, wenn man auseinanderging, war man doch nicht mehr der, der man vorher gewesen war. Die Einflüsse blieben, man trug sie mit sich herum, ob man wollte oder nicht, ob sie einem guttaten oder nicht, selbst, wenn man sie loswerden wollte, wirbelten sie einem weiter durch die Adern.
Karl-Dieter kniete sich nieder. Seine Augen folgten dem Fluss. Der kleinere Bach war heller als die Dosse. Karl-Dieter versuchte, den Ort auszumachen, wo die Wasser der beiden Bäche sich endgültig vermengten. Ihm war, als würde der kleine Bach noch ein Weilchen seinen eigenen Weg nehmen, bevor sich alles verwirbelte. Einflüsse aufzunehmen, selbst positiv Einfluss zu nehmen, ohne sich dabei zu verlieren, war eine schwierige Kunst. Bisher war es ihnen gelungen, aber eine Garantie gab es natürlich keine.
Neuntes Kapitel
»Also noch mal von vorne«, seufzte Mütze.
Die Freunde saßen nebeneinander auf der Bettkante und ließen die Füße baumeln. Ihre Beine hätten nicht unterschiedlicher sein können, muskulös und durchtrainiert wirkten die Schenkel von Mütze, weich und blass die seines Freundes Karl-Dieter. Als Bühnenbildner kam es ja auch auf andere Qualitäten an. Beide Männer starrten geradeaus und sahen nicht sehr glücklich aus.
Mütze atmete tief durch: »Okay, versuchen wir zusammenzufassen. Was wissen wir? In Finsterfelde stirbt Erwin Bolte an einer Herzattacke. Seine Söhne kommen zur Beerdigung. Am nächsten Tag findet sich