Max und Moritz - Was wirklich geschah. Johannes Wilkes
Читать онлайн книгу.bei Witwe Bolte und erfährt, die beiden sind getürmt. Darauf ruft sie bei dir an, schickt dir per WhatsApp ein Foto von dem Sandgekritzel neben ihren Salatbeeten. Soweit die Fakten. Und was sollen wir jetzt damit anfangen? Erklär mir das.«
»Du hast was vergessen.«
»Und was, bitte schön?«
»Die dunkle Gestalt gestern Nacht, die mit dem Brief.«
»Wenn du dir das mal nicht eingebildet hast.«
»Ich hab’s mir nicht eingebildet!«
»Vielleicht war’s ein Verehrer der Witwe. Sie ist ja wieder zu haben.«
Karl-Dieter verstummte und betrachtete seine Zehen, die er wie immer sorgfältig pedikürt hatte. Gute Nagelpflege war Karl-Dieter wichtig. Mütze lachte nur darüber. Würde doch keiner sehen, wie die Fußnägel ausschauten. Das war typisch Mütze! Ob jemand anderes die Nägel sah oder nicht, war doch völlig egal. Es machte einfach ein gutes Gefühl, gepflegte Nägel zu haben. Karl-Dieter spreizte die blassen Zehen ein wenig, dann sagte er leise: »Wehe, wehe, wenn ich auf das Ende sehe.«
Sie einigten sich auf einen Kompromiss. Zwei Tage. So viel Zeit wollte Mütze investieren. Zwei Tage und nicht mehr. Heute war Samstag. Hatten sie bis Sonntagabend nichts Vernünftiges herausgefunden, würden sie abreisen. Er zumindest. Karl-Dieter könne ja gerne noch bleiben und nach Vogelspuren auf Sandwegen Ausschau halten.
»Und wo fangen wir an zu suchen?« Karl-Dieter versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, wie verletzt er war.
»Ich hatte gehofft, das könntest du mir sagen.«
»Der Brief. Er hat eine Bedeutung, das spüre ich. Beim Frühstück wirkte unsere Wirtin wie ein nervöses Huhn, fandest du nicht?«
»Das hatte einen völlig anderen Grund, das lag doch an den Käfern. Aber gut, auch Tante Dörte scheint der Witwe zu misstrauen. Dann schauen wir mal, was die gute Frau den Tag über so treibt.«
Zehntes Kapitel
Sie mussten nicht lange warten, bis die Haustür geöffnet wurde und die Witwe heraustrat, den Spitz an der Leine. Die beiden Freunde lugten heimlich um die Hausecke. Ein kleiner Sicherheitsabstand, dann liefen sie hinterher. Der Tag war heiß, die Sonne stand schon hoch am Himmel. Ein trockener Wind war aufgekommen, kleine Staubteufel wirbelten über die Dorfstraße. Finsterfelde war wirklich ein echtes Provinznest. Einige Dutzend armselige Häuser, eine gedrungene Backsteinkirche, wie es sie in der Gegend häufig gab, die Dorfschule in ihrem Schatten, das Wirtshaus Zum Großen Kurfürst, das war’s. Die Straße war breit, typisch für eine Dorfstraße in der Mark Brandenburg, am Platz brauchte man nicht zu sparen, zu unergiebig war der Sandboden, man nahm keinem Bauern auch nur einen Quadratmeter wertvollen Boden weg. Die enorme Breite der Straße aber verstärkte den Eindruck der Trostlosigkeit weiter. Finsterfelde lag im brandenburgischen Nirgendwo, irgendwo zwischen Wittstock und Wusterhausen, wo sich Fuchs und Hase gute Nacht sagen würden, wenn sie denn das Kaff je gefunden hätten. Neben der erwähnten Windmühle war Finsterfeldes einziger Stolz, von Theodor Fontane in seinen Wanderungen durch die Mark Brandenburg erwähnt worden zu sein und zwar als Ort, an dem sich ein schrecklicher Mord an einem französischen Soldaten während der Zeit der Napoleonischen Kriege ereignet haben soll. Lange hatte sich der Glaube daran gehalten, die Leiche des Soldaten würde als Gespenst durch die Nächte geistern und seine Mörder suchen. Schauerlich.
Mütze staunte einmal mehr, was Karl-Dieter alles über Fontane und seine Mark Brandenburg wusste.
»Er ist eben mein Lieblingsdichter«, sagte Karl-Dieter.
»Habt in eurem Theater wohl schon viele Stücke von ihm aufgeführt?«
»O Mann, Mütze! Theaterstücke von Fontane sind ungefähr so zahlreich wie Wellnesshotels in Finsterfelde.«
»Oder Meisterschalen in Herne-West?«
»Auch das.«
Hinter der Kirche bogen Hund und Wirtin links ab. Ein schmaler Feldweg wand sich hinunter zu den grünen Auenwiesen, durch die sich die Dosse schlängelte. Der Weg endete nach einigen Hundert Metern an einer gesperrten Holzbrücke, rot-weiße Flatterbänder knatterten im Wind. Dicht daneben führte eine frisch geschotterte Zufahrt zu einer langen Eisenplatte, die man neben dem Holzsteg über den Fluss gelegt hatte. »Behelfsbrücke. Benutzung auf eigene Gefahr«, stand warnend auf einem Schild. Darunter war ein Totenkopf mit gekreuzten Knochen gemalt: »Eltern haften für ihre Kinder.« Dem Spitz schien die Eisenplatte nicht geheuer zu sein, heftig zog er an der Leine, um ans andere Ufer zu gelangen. Nicht weit vom Fluss entfernt duckte sich ein niedriges Haus unter alte Kopfweiden, an der Straßenseite schaukelte an einem ausschwingenden Haken eine kupferne Schere im Wind. »Kunstschneiderei Böck«, stand über der grünen Eingangstür, »Maßanfertigungen und Änderungen aller Art.« Mit ein paar schnellen Handgriffen band die Witwe den Hund an einer Weide fest und klopfte an die Tür. Ein kleines Fenster ging auf, und ein schmaler Kopf schob sich ins Freie.
»Erkennst du ihn?«, flüsterte Mütze und stieß Karl-Dieter in die Seite.
»Der Mann mit dem roten Zinken und der Zwickerbrille, einer der Skatbrüder«, flüsterte Karl-Dieter zurück, während der Kopf wieder verschwand. Kurz darauf wurde die Haustür geöffnet und Witwe Bolte schlüpfte ins Haus.
Mütze und Karl-Dieter hatten sich in den Büschen neben der Brücke versteckt gehalten. Jetzt sahen sie sich fragend an. Sollten sie es wagen, zur Schneiderei zu schleichen? Vielleicht konnten sie durch das geöffnete Fenster ein paar Brocken von dem Gespräch aufschnappen. Warum nicht? Was hatten sie schon zu verlieren? Sie wollten gerade loslaufen, da gab es einen schnalzenden Laut. Der Spitz! Er hatte sich mit einem Ruck vom Baum losgerissen und kam über die Brücke gelaufen, direkt auf sie zu. Er schien in keiner Weise überrascht, sie zu sehen, im Gegenteil, wie auf einen geheimen Befehl stoppte er unmittelbar vor ihren Füßen, machte Sitz und sah sie schwanzwedelnd an. Dann entfuhr ihm ein geheimnisvolles »Rawau!«, zugleich machte er einen Sprung an ihnen vorbei, sah sich um und blickte sie aufmunternd an, machte einen weiteren Satz und blickte erneut zurück.
»Der hat was für uns!«, rief Mütze. »Los, hinterher!«
So liefen sie den Weg zurück dem Dorfe zu, immer auf den Spuren des Hundes, der sich von Zeit zu Zeit umsah, wie um sich zu vergewissern, dass sie ihm noch folgten. Vor dem Dorf schlug er sich in einen Feldweg, der im weiten Bogen um den Dorfkern herum zum Friedhof führte. Der Gottesacker war mit einer niedrigen Feldsteinmauer umgeben, Findlinge gab es in der Mark Brandenburg an jeder Ecke, die letzte Eiszeit hatte unzählige herbeigerollt. Ein schmiedeeisernes Tor schloss den Friedhof zur Straße hin ab. Hier blieb der Spitz sitzen und wartete ungeduldig auf Mütze und Karl-Dieter. Ohne lange zu überlegen, drückte Mütze das Tor auf, und der Spitz schoss an ihnen vorbei, die kleine Allee von Lebensbäumen entlang, um vor dem Leichenhaus scharf links abzubiegen. Als die Freunde den Abzweig erreicht hatten, sahen sie den Hund vor einem frischen Grabhügel, der dicht mit Stiefmütterchen bepflanzt worden war, sitzen. Karl-Dieter mochte Stiefmütterchen nicht, sie sahen aus, als hätten sie den bösen Blick. Er wünschte sich nichts als einen Rosenstock aufs Grab.
»Erwin Bolte«, las Mütze von dem schmalen Holzkreuz ab.
Ein zerzauster Efeukranz lag daneben. »In ewiger Liebe, deine Witwe«, stand auf der Schärpe zu lesen. Genau an dieser Stelle hatten sie gestern beim Weg von der Gastwirtschaft zurück zur Pension ihre Wirtin beim Blumenpflanzen gesehen.
»Und nun?«, fragte Karl-Dieter, indem er sich zu dem Spitz niederkniete, um ihm den Hals zu kraulen.
Zu Karl-Dieters nicht geringem Erschrecken aber sprang der Spitz plötzlich auf den Grabhügel hinauf und fing an, die Blumen und die Erde wegzuscharren, dass es nur so spritzte.
»Er will sein Herrchen ausbuddeln«, rief Karl-Dieter entsetzt.
Sie waren so überrascht, dass sie den Mann nicht bemerkten, der hinter sie getreten war. Er setzte einen Fuß auf das Grab, packte den Spitz mit harter Hand am Nackenfell und riss ihn unsanft in die Höhe.
»Was soll der Blödsinn?«, rief