Schweizer Wasser. Bernhard Schmutz
Читать онлайн книгу.davon aus, dass der Großteil des Strombedarfs damit abgedeckt werden kann. Steht übrigens so im Projektbeschrieb, sofern man sich die Zeit nimmt, genau zu lesen. Für den kleinen Rest sollte die vorhandene Energiezufuhr reichen. Und wer weiß, vielleicht können wir eines Tages die Windenergie nutzen. Sie sehen, wir sind bestrebt, in ökologische Energieversorgung zu investieren. Hier sucht das Projekt ebenfalls seinesgleichen.« Für einen, der nicht gerne vor Publikum redet, sehr souverän, meint er, aus Lukes und Claudias motivierendem Kopfnicken herauszulesen.
»Im Leitbild der Gemeinde heißt es: ›Der Tourismus steht im Einklang mit Natur, Umwelt und Landschaft.‹ Wie schaffen Sie diesen Spagat, wenn plötzlich Privatverkehr zugelassen ist? Abgesehen davon ist das Ganze doch reine Wasserverschwendung. In den letzten zehn Jahren hatten wir in der Schweiz mindestens vier zu trockene Sommer. Von Wasserknappheit können auch Alpgebiete betroffen sein.«
Wegen der anfänglichen Anspannung und weil er seine Lesebrille schon länger durch ein Modell mit Gleitsicht-Gläsern ersetzen sollte, erkennt er erst jetzt, wer ihn mit diesen Fragen herausfordert. Dass ausgerechnet Lisa ihn damit schikaniert, überrascht nicht, ärgert ihn trotzdem. Mit seiner demonstrativen Gelassenheit kann die leicht gereizte Stimme nicht ganz mithalten.
»Laut Ihrer Statistik heißt das, sechs von den letzten zehn Sommern waren regenreich genug. Teilweise hatten wir sogar zu viel Niederschlag. Der Lauf der Natur ist nun mal nicht vorhersehbar. Zum Glück. Denn sonst meinen die Menschen plötzlich, sie müssten sich auch ins Klima einmischen, bestimmen wollen, wann die Sonne scheint und wann es regnet. Wo kämen wir da hin?« Für dieses Votum erhält er spontanen Szenenapplaus. »Zum Privatverkehr: Vorgesehen ist nur der Zubringer für Gäste, die mehrere Tage auf ›Honeymoon-Alp‹ verbringen.«
»Und für die paar Nasen wird die Straße verbreitert? Man muss schon ziemlich naiv sein, diese Salamitaktik nicht zu durchschauen«, lässt Lisa nicht locker.
»Ich sage immer, wer lesen kann, ist im Vorteil. In der Ausschreibung steht schwarz auf weiß, wer Zufahrt haben wird. Auswärtige werden zudem dafür bezahlen müssen«, kontert er einigermaßen gekonnt, greift in die Hosentasche und wischt sich mit dem Nastuch über die Stirn.
Lisa kennt kein Erbarmen. »Und was ist mit dem Wörtchen ›vorerst‹ in der Ausschreibung? Lassen Sie mich raten …«
»Gerne können Sie das beim anschließenden Umtrunk noch bilateral diskutieren, wenn es wichtig ist für Sie«, erhebt sich Luke, während seine Hand auf Heinz’ Schulter ihn sanft auffordert, sich zu setzen.
»Ja, liebe Gäste. Sie haben richtig gehört. Der Apéro geht gleich in die zweite Runde. Bevor der Weißwein warm wird, setzen wir hier einen Schlusspunkt. Herzlichen Dank nochmals für Ihr Interesse. Schön, wenn Sie noch mit uns auf ›Honeymoon-Alp‹ anstoßen!«
Noch so gerne würde Lisa sich auf Kosten der Initianten ein paar Gläser gönnen. Den Ärger ertränken. Aber morgen ist sie für das Frühstücksbuffet eingeteilt. Einer ihrer Aushilfsjobs. Ausgerechnet im Hotel Kirche, dessen Direktor ein Busenfreund von Heinz Grob ist.
Mai (4)
Wie masochistisch muss man sein, sich so was anzutun? Oder ist es reine Verzweiflung? Voyeurismus, weil man sich so schön vorstellen kann, wie es wäre, wenn sich diese Lackaffen bis auf die Knochen blamieren würden, wenn man hemmungslos Schadenfreude empfinden könnte? Natürlich erfüllen sich solche Szenarien nur im Traum. Okay, dann träum weiter. Aber das ist nur eines von Lisas Problemen. Seit längerer Zeit schläft sie kaum. Und wenn, dann unruhig. Es ist lange her, dass sie mehr als drei Stunden am Stück ins Reich der Träume entfliehen konnte. Und als wäre das nicht genug, waren nicht wenige davon Albträume. Vielleicht ist ihr Alkoholkonsum schuld. Bestimmt nicht nur, ist sie überzeugt.
In ungesunder Haltung, mehr liegend als sitzend auf dem Kunstledersofa aus dem Brockenhaus, die nackten Füße auf dem alten Salontischchen, in der linken Hand ein Glas billigen Rioja, rechts die TV-Fernbedienung, lässt sie ihrer Opferrolle freien Lauf. Körperlich und mental fühlt sie sich, als hätte sie einen 16-Stunden-Tag hinter sich. In Tat und Wahrheit waren es nur sechs. Nach dem Einsatz beim Frühstück durfte sie noch drei Stunden Zimmer putzen. Aus Sicht der Gouvernante war es ein Dürfen. Aus ihrer ein Müssen. Aber sie braucht jeden Cent, um über die Runden zu kommen. Und da sind drei Stunden zum Mindestlohn eben wichtig. Anstrengender als die körperliche Arbeit war allerdings die Angst davor, Heinz Grob zu begegnen, der im Hotel Kirche ein und aus geht, als wäre es sein Betrieb. Wann immer jemand den Frühstücksraum oder einen Korridor betrat, schnellte ihr Puls in die Höhe. Nur für ein paar Sekunden. Trotzdem so ermüdend wie ein Intervalltraining. Heute ist sie ihm nicht begegnet. Wobei das früher oder später nicht zu vermeiden sein würde. Wahrscheinlich eher früher. Schließlich ist sie auf Abruf auch direkt für Heinz Grob tätig.
Die wenigen kritischen Fragen nach der Veranstaltung haben im Beitrag des Regionalsenders keinen Platz. Vielmehr wird der große Aufmarsch betont und dass sogar Tourismusorte mit noch größerer internationaler Ausstrahlung sich plötzlich für Grindelwald interessieren. Journalistisch wenig ausgewogen. Die Abstimmung scheint nur noch Formsache zu sein. Ein voller Erfolg für Luke und seine Crew, muss Lisa neidlos eingestehen. Darauf hebt sie sarkastisch ihr Glas und trinkt einen großen Schluck.
Wie nonchalant und herablassend ihre ernsthaften Fragen beantwortet wurden, macht sie immer noch wütend. Ihr einfach das Wort abschneiden und die Fragerunde beenden, der Gipfel der Frechheit. Und das Verhalten der übrigen Einheimischen? Schlicht trostlos. Kein Schwein wagte, etwas zu sagen, ihr Hinterfragen zu unterstützen. Stattdessen musste sie mitleidige, genervte Seitenblicke aushalten. In ihrem Innern brodelt es wie in einem Vulkan, kurz bevor er mit voller Wucht ausbricht. Plötzlich macht sich auch noch Angst breit. Was, wenn sie diesmal zu weit gegangen war, indem sie versucht hatte, Heinz Grob in der Öffentlichkeit anzugreifen? Wobei, es waren ja nur zwei, maximal drei Fragen gewesen. Wird er ihr das Leben noch schwerer machen? Sie endgültig fallen lassen? Nach außen wirkt er umgänglich, hilfsbereit, gar väterlich. Tatsächlich nutzt er ihre Abhängigkeit schamlos aus.
Bis vor zwei Jahren waren Lisa und ihr Partner 15 Jahre lang Pächter auf dem Hof von Heinz Grob gewesen. Ein schöner Betrieb im Talboden zwischen der Talstation Pfingstegg und Landi. Die ersten zehn Jahre ließ man sie mehr oder weniger in Ruhe. Dann wurde im großen Stil umgebaut. Für Lisa und ihren Partner völlig überdimensioniert. Zu viele Tiere und zu wenig Land, um nur annähernd für genügend eigenes Futter zu sorgen. Statt sich, wie von ihnen vorgeschlagen, Richtung Bio zu entwickeln, wurde der entgegengesetzte Weg gewählt. Widerstand war zwecklos. Vogel friss oder stirb, die unmissverständliche Taktik des Hofbesitzers.
»Wir sind kein Freilichtmuseum, das ›Ueli der Knecht‹-oder ›Geissenpeter‹-Zeiten nachtrauert. Nur wer rentabel wirtschaftet, kann mittelfristig überleben«, so seine Lieblingsargumente gegen ihren Einwand, dass Größe allein doch keine Strategie sei und Erfolg sich nicht nur monetär messen lasse. Drei Jahre hatte ihr Partner die Kraft gehabt, gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Dann starb er viel zu jung an einem Herzinfarkt. Für Lisa besteht kein Zweifel daran, wer oder was dafür verantwortlich ist. Ein paar Monate nach seinem Tod musste sie kapitulieren. Den Betrieb mit oft wechselnden, billigen Aushilfen zu führen, war nicht mehr möglich. Dazu kam, dass sie bei einzelnen Tieren erste Symptome der Blauzungenkrankheit nicht sofort erkannt hatte. Obwohl die Krankheit für Menschen ungefährlich und die Übertragung auf andere Tiere äußerst selten ist, spielte dieses Ereignis in Heinz Grobs Karten. Seither führt er den Betrieb mit einer fest angestellten, gut bezahlten Fachkraft wieder selbst.
Einzig das Angebot »Schlafen im Stroh« darf sie noch betreuen. Eine ihrer Ideen in all den Jahren, die ausnahmsweise vom Besitzer nicht abgeschmettert wurde. Vermutlich, weil der Erfolg sich rasch einstellte und nach wie vor anhält. Für sie erstaunlich, weil mit dem Umbau ein Teil des heimeligen Charmes des Bauernhofs verloren ging. Insbesondere von Mitte Mai bis Ende September sind regelmäßig Schulklassen und Familien zu Gast, die sie auf Wunsch bekocht. Zusammen mit temporären Teilzeit-Einsätzen im Hotel Kirche und der Bergbeiz auf der Bussalp kommt sie finanziell mehr schlecht als recht über die Runden.
Was, wenn er sich rächt, mich von der Liste für Aushilfen streicht? Dann kann ich mich