Schweizer Wasser. Bernhard Schmutz

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Schweizer Wasser - Bernhard Schmutz


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zeigen und einfach abhauen! Aber wohin? Und wer gibt mir mit 57 noch einen Job?

      Der Kampf der beiden Stimmen in ihr wogt nicht zum ersten Mal. In letzter Zeit gewinnt meist die negative. Auch diesmal?

      Mittlerweile hat Sonnyboy Luke seinen Auftritt im TV-Beitrag. Jovial platziert er einmal mehr seine Lobrede auf das Zukunftsprojekt.

      Hat deine Platte einen Kratzer oder leidest du an Alzheimer, dass du dich immer wiederholst? Mit dieser Honeymoon-Spinnerei wollt ihr euch doch nur ein Denkmal setzen, ihr narzisstischen Wichtigtuer! Wer nicht eure Meinung teilt, wird mitleidig belächelt, ignoriert oder irgendwann entsorgt.

      So, jetzt aber mal halblang, Lisa! Im Moment hast du deine Jobs noch. Vielleicht solltest du etwas weniger tri…

      Halt die Klappe! Fakt ist, dass nichts und niemand sie aufhalten wird. Schon gar nicht eine wehrlose alte Schachtel mit Kummerfalten und einer grau melierten Mähne. Das Einzige, was diese scheinheiligen Opportunisten interessiert, sind ihr Profit, Schulterklopfen und Applaus!

      Für eine alte Schachtel finde ich dich ziemlich attraktiv. Wenn du nüchtern bist, insistiert ihre innere Stimme.

      Pahpahpah! Verarschen kann ich mich selbst. Weißt du, wann ich zuletzt Sex hatte?

      Klar! Ich war ja dabei.

      Dann hör verdammt noch mal mit deinem Zweckoptimismus auf. Mein Leben befindet sich im Sturzflug, ohne Aussicht auf Thermik. Sterbe ich hier und jetzt, wird man meine Leiche erst finden, wenn’s im Treppenhaus zu stinken beginnt. So sieht es aus!

      Dann ist es so weit. Das angestaute explosive Gemisch detoniert. Ein ohrenbetäubender Knall. Stille. Glühende Tränen kullern über ihr Gesicht, auf die schwer atmende Brust.

      Apathisch, mit glasigem Blick und rot gefärbtem Speichel in den Mundwinkeln starrt Lisa auf den mit Wein getauften und Glassplittern dekorierten Röhrenbildschirm.

      Mai (5)

      Endlich. Im fünften Anlauf erbarmt er sich mit einem jammernden Wehklagen seines Meisters. Wobei nicht klar ist, wer hier die Macht über wen hat. In letzter Zeit musste Wim mehr als einmal mit ein paar kräftigen Schlägen auf den Anlasser die Hierarchie wiederherstellen. Mit jedem Jahr wird seine uralte Occasion widerspenstiger und eigensinniger. Fast schon beängstigende Parallelen zu den Menschen, geht es ihm durch den Kopf. Wobei er bei ihnen natürlich nie Gewalt anwenden würde. Nicht einmal verbal. Auf einen neuen fahrbaren Untersatz verzichtet er nicht aus nostalgischen Gründen. Ihm fehlen schlicht die flüssigen Mittel. Das war nicht immer so. Bis vor drei Jahren hatte er als regionaler Verkaufsleiter ein regelmäßiges, ganz akzeptables Einkommen inklusive Firmenwagen. Der Titel suggerierte allerdings mehr Verantwortung, als der Job wirklich verlangte. Von ihm aus hätte auf der Visitenkarte einfach »Verkauf« stehen können. Parallel zum Ausbau des Onlinehandels wurden Stellen abgebaut. Für die wenigen verbliebenen Jobs im Verkaufsaußendienst kamen jüngere, dynamischere und billigere Kolleginnen und Kollegen zum Handkuss. Diesen Entscheid konnte Wim sogar nachvollziehen. Die paar Menschen, die ihn etwas besser kannten, staunten immer, dass ausgerechnet er im Verkauf gelandet war. Dem in vielen Köpfen noch vorhandenen typischen Verkäuferbild hatte er nie entsprochen. Seine introvertierten, leicht depressiven Züge erinnern ihn an seinen Vater. Bestimmt nicht an seine holländische Mutter, die meist nach dem Motto kommunizierte: »Woher soll ich wissen, was ich denke, bevor ich höre, was ich sage?« Noch so gerne hätte er einen Teil ihres heiteren Gemüts geerbt. So wie sie im Moment leben, Emotionen und Gefühle zeigen konnte, ohne sich zu fragen, was andere darüber dachten. Gegensätze ziehen sich an, sagt man. Trotzdem hatte Wim nie verstanden, weshalb seine Eltern überhaupt zueinandergefunden hatten. Noch weniger, wieso sie heirateten. Und am allerwenigsten, dass sie sich nicht scheiden ließen. Nachdem er mit 20 definitiv von zu Hause ausgezogen war, hätten doch beide einen Neuanfang wagen können. Stattdessen lebten sie getrennt in der gleichen Wohnung. So eine Art WG mit Trauschein. Er hat sie nie danach gefragt. Wie auch. Bei einem, maximal zwei Besuchen im Jahr spricht man nicht über so persönliche Dinge. Leider. Und jetzt ist es seit sechs Monaten zu spät. Innerhalb weniger Wochen starben beide. Ein Hinweis, dass sie sich trotzdem gebraucht hatten. Immerhin konnten sie auf die Art und Weise gehen, wie es sich viele Menschen wünschen. Einschlafen und nicht mehr aufwachen. Die spärlichen Erinnerungen an seine Eltern begleiten ihn seither oft auf den Fahrten zu seinen Kunden. Wieso interessieren wir uns erst dann für andere, wenn es zu spät ist? Und Eltern sind doch nicht einfach andere. Bin ich wirklich so oberflächlich und empathielos? Liegt es daran, dass ich nie nur in die Nähe davon kam, eine eigene Familie zu gründen?

      Ein lautes Hupkonzert reißt ihn abrupt aus seinem Tagtraum. Keine Ahnung, wie lange die Ampel schon grün leuchtet. Bestimmt keine zwei Sekunden. Die Gesellschaft wird ja nicht geduldiger. Trotzdem will er natürlich kein Verkehrshindernis sein, gibt Vollgas und lässt die Kupplung etwas zu schnell los. Sein bescheidenes vierrädriges Blechhaus macht einen känguruähnlichen Sprung, röchelt ein letztes Mal und bleibt in seiner ganzen Pracht mitten auf der Kreuzung stehen. Zwei misslungene Startversuche später ist der Fall klar. Er muss seinem unzuverlässigen Begleiter den Meister zeigen. Schon wieder. Du hast es so gewollt. Denk bloß nicht, ich könnte Mitleid für dich empfinden! Auch auf dein Alter kann ich keine Rücksicht nehmen.

      Wäre alles nicht passiert, wenn du deine Gedanken bei der Straße gehabt hättest. Und du weißt ganz genau, dass meine Kupplung sehr sensibel ist. Jammere nicht und sorg dafür, dass wir hier fortkommen. Die Huperei ist unerträglich!

      Für dieses Szenario hat Wim bereits eine Routine entwickelt. Wenn auch der Ort noch nie so exponiert war. Trotz Déjà-vu-Erlebnis sind Schweißperlen und Schamröte unvermeidbar, als er wie ferngesteuert aussteigt, seinen Anlasser-Knüppel aus dem Kofferraum holt, die Motorhaube öffnet, dreimal gezielt zuschlägt, den Blechdeckel schließt, das Holzwerkzeug wieder verstaut, einsteigt, kuppelt, den Zündschlüssel dreht und davonfährt. Was, wenn jemand dieses Schauspiel, das es durchaus mit einem Sketch von Mr. Bean aufnehmen könnte, mit der Handykamera gefilmt hat und in den sozialen Medien verbreitet? Who cares! Tausende Klicks wären mir sicher. Wim Peter – YouTube-Star! Ein kleines, kaum sichtbares Schmunzeln kann er sich nicht verkneifen, während er vor einem Lebensmittelladen parkt. Dem nächsten potenziellen Kunden auf seiner Akquisitionsliste.

      »Nein, danke. Wir brauchen nichts und sind zufrieden mit unseren Lieferanten«, lautet die Standardreaktion der Ladenbesitzerin.

      »Freut mich, dass Sie wunschlos glücklich sind. Wie breit ist Ihr Gewürzsortiment? Führen Sie zum Beispiel Mischungen für die indische und asiatische Küche?«, versucht er, die Aufmerksamkeit auf eine Angebotslücke zu richten.

      »Da haben wir in der Tat gar keine Auswahl. Aber solange die Konsumentinnen und Konsumenten uns nur berücksichtigen, wenn sie irgendetwas im Einkaufszentrum vergessen haben, kann ich mein Sortiment nicht beliebig vergrößern.«

      »Auch nicht mit exotischen Gewürzmischungen in Bio-Qualität?«, startet Wim eine letzte Offensive.

      »Tut mir leid. Obwohl ich durchaus für Bio bin, ist mir das im Moment nicht möglich. Vielleicht sieht es nach dem Ladenumbau in sechs Monaten besser aus. Wir haben uns entschieden, trotz ungewisser Zukunft die Flucht nach vorne zu ergreifen.«

      Um eine Visitenkarte und ein Muster Ras el Hanout – eine marokkanische Mischung aus 25 Gewürzen – ärmer, notiert er den nächsten Nachfasstermin auf der Liste, bevor er zweimal liebevoll über das Lenkrad streichelt und ein Stoßgebet zum gefleckten Autohimmel sendet. Die Zuneigung wirkt. Der Motor schnurrt auf Anhieb, ohne Murren. Haben Motoren auch Gefühle oder gar eine Seele?

      Nach drei weiteren Kundenbesuchen und einem kleinen Verkaufserfolg entscheidet er sich für den Feierabend. Weder Restaurants noch Tante-Emma-Läden wollen nach 17 Uhr gestört werden. Die Tätigkeit als freischaffender Gewürzvertreter ist eine Notlösung. Nach 24 Monaten Arbeitslosigkeit, über 200 Bewerbungen und zwei Praktika bei der Arbeitsvermittlung hatte er kaum mehr eine Wahl. Auf jeden Fall sah er keine andere Möglichkeit als die Selbstständigkeit. Sozialhilfe zu beziehen, war und ist tabu, solange er es irgendwie schafft, jeden Morgen aufzustehen. Egal wie schwer es ihm manchmal fällt. Der Erfolg ist bisher äußerst bescheiden, seine Ersparnisse weiterhin im Sinkflug,


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