Schweizer Wasser. Bernhard Schmutz

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Schweizer Wasser - Bernhard Schmutz


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Der Wohnwagen aus den Siebzigerjahren ist das einzige, aber sehr willkommene Erbstück seiner Eltern. Sein mobiles Zuhause steht seit einigen Monaten auf dem Campingplatz am Rand von Thun. Seiner Lieblingsstadt. Groß genug, um anonym zu bleiben. Klein genug, um die Übersicht zu behalten. Weit genug weg von Grindelwald, wo er drei schwierige Jahre seiner Pubertät verbracht hat. Das war ungefähr der Rhythmus, in dem sein Vater eine neue Stelle suchen musste, was jedes Mal zur Folge hatte, dass sie umzogen und er sich in einer neuen Umgebung zurechtfinden musste. Fachlich war sein Vater ein Top-Allround-Mechaniker. Problematisch wurde es meist dann, wenn Teamarbeit oder Kundenkontakt gefragt war. In Grindelwald reparierte er Skilifte, Gondeln und Pistenfahrzeuge.

      Seine Erinnerungen an diese Periode seiner Kindheit sind wie der Blick durch ein Fenster mit transparenten weißen Vorhängen, die schon länger darauf warten, gewaschen zu werden. Die Fenster und die Vorhänge. Ein trüber, unspektakulärer, unscharfer Schleier. Vielleicht, weil schlichtweg die Zeit für ihn zu kurz war, richtige Freunde zu finden. Vielleicht wegen der Teenagerzeit, die für viele junge Menschen nicht so unbeschwert ist, wie die Erwachsenen oft meinen, obschon auch sie einmal jung waren. Umso mehr galt das für Jungs wie Wim, die problemlos übersehen und erst recht überhört wurden. Die kaum jemand vermisst hatte. Bei denen es keinen Unterschied machte, ob sie anwesend oder abwesend waren.

      Und heute? In seiner Rolle als Hausierer (das gefällt ihm besser als »Verkäufer«) wird er wahrgenommen. Nicht weil er viel spricht, sondern weil er besser zuhören kann als viele seiner Berufskollegen. Ein Feedback, das er in all den Jahren ab und zu von Kundinnen und Kunden erhalten hat. Mit ein Grund, weshalb er zwar mehrmals den Arbeitgeber, nie aber die Funktion als Einzelkämpfer im Außendienst wechselte. Mehr noch als die Gespräche liebt er die Einsamkeit und Ruhe zwischen den Kundenbesuchen. Sein privates Umfeld ist mittlerweile so bescheiden wie seine sechs Quadratmeter Wohnfläche. Mit einem Arbeitskollegen hatte er eine Zeit lang alle zwei Wochen Schach gespielt, bis dieser eine Familie gründete. Daneben unterhält er Brieffreundschaften zu einer Skandinavierin und einem Norddeutschen, die er während einer organisierten Wanderwoche entlang der irischen Küste kennengelernt hatte. Ja, Brieffreundschaften, auch wenn das im digitalen Zeitalter komisch klingt. Damit hat es sich mit seinen privaten sozialen Kontakten. Alles in allem ziemlich triste.

      So, Wim! Jetzt kneif den Hintern zusammen und wag doch mal was ganz Neues. Bring etwas Action in dein Leben! Mit 56 hast du nicht mehr alle Zeit der Welt! Lad doch mal deine skandinavische Brieffreundin ein. Trete endlich einem Verein bei. Pack deine Habseligkeiten, steig in den nächsten Zug und lass dich überraschen, wo er dich hinfährt. Schreib ein Buch, beginn zu malen. Egal was!

      Ich weiß, ich weiß. Aber in meiner momentanen Lage muss ich froh sein, wenn ich nicht verhungere. Sobald sich die Situation etwas beruhigt, schreibe ich meine Bucket List.

      Das versprichst du schon seit gefühlten 20 Jahren. Mindestens! Deine Ja-aber-Antwort ist die billigste und abgedroschenste Ausrede. Wie lange willst du dich damit noch selbst betrügen? Übrigens sind Schreiben und Malen gratis. Genauso wie Träumen.

      Du wiederholst dich!

      Du etwa nicht?

      Genervt über sein Selbstgespräch, das sich schon ewig im Kreis dreht, öffnet er sein Feierabendbier und setzt sich mit einem leeren Notizblock auf den Plastikstuhl vor seinem fahrbaren Minipalast. Wim ist nicht gläubig. Während der Wintermonate fühlte er sich dennoch oft als Eremit. Offiziell ist der Campingplatz in der kälteren Jahreszeit geschlossen. Der Betreiber macht für ihn eine einmalige Ausnahme. Aus Nächstenliebe, Mitleid oder wegen Wims Bescheidenheit? Egal. Hauptsache, er muss sein Gefährt nicht auf einer trostlosen Brache parkieren. Hier genießt er eine Fünf-Sterne-Aussicht. In seinem Rücken verabschiedet sich die Sonne. Angenehme 22 Grad. Um die Tageszeit eine Woche vor Pfingsten längst keine Seltenheit mehr. Vor ihm der See, wie eine straff gezogene Frischhaltefolie. Nach zwei, drei Minuten glätten sich auch seine Wogen. Dann greift er zum Bleistift.

      Juni (6)

      »Halloo!!! Jetzt mach mal fertig und komm raus! In zehn Minuten müssen wir bereit sein!«

      Kein Lebenszeichen.

      »Haalloo!! Es eilt wirklich! Bitte!«

      Funkstille. Seit gefühlten 30 Minuten trippelt sie auf den Zehenspitzen. Der Schließmuskel wird arg gefordert. Doch so laut sie schreit, flennt, mit ihren Fäusten gegen die verschlossene Tür hämmert, die Person dahinter reagiert nicht.

      »Wo ist Sophie?«, fragt die Klassenlehrerin.

      »Wahrscheinlich noch immer auf der Toilette. Wobei ›Scheißhaus‹ für diese unmenschliche Einrichtung besser passt. Keine Ahnung, was die wieder geschluckt hat. Oder treibt sie es mit dem Jungbauern in Ausbildung? Wenn ja, dann sehr diskret und geräuschlos. Geöffnet hat sie mir jedenfalls nicht. Ich musste mein Geschäft auf dem Miststock verrichten. Stellen Sie sich das einmal vor! Sooo eklig! Igitt!«

      Pubertierendes Stimmbruchgelächter und zickiges Kichern. »Es reicht jetzt, Jungs und Mädels! Ich werde mal nach ihr sehen. Packt eure Sachen und macht euch mit meiner Kollegin schon mal auf den Weg Richtung Dorf. Der Ortsbus bringt euch wie gestern auf die Bussalp. Dort ist noch einmal eure Tatkraft gefragt. Vorbereitungsarbeiten für den bevorstehenden Alpaufzug und Weiden von Unkraut und Steinen befreien stehen auf dem Programm. Herr Nowak, den ihr ja schon vom Hof hier im Talboden kennt, wird euch instruieren. Gegessen wird ausnahmsweise in der Beiz. Spaghetti bolo auf der Terrasse im Bergrestaurant. Zum Dessert haben wir ein Gratisfitnesstraining organisiert. Fußmarsch zurück ins Dorf. Davon habt ihr doch immer schon geträumt.«

      In Embryostellung liegt Sophie neben der Kloschüssel auf dem Boden, den Kopf in einer stinkenden Lache Erbrochenem. Die langen dunklen Haare verdecken die Augen und kleben an der rechten Wange. Auf ihrer Hose zeichnet sich zwischen den Beinen ein dunkler Fleck ab. So präsentiert sich das schockierende Bild, nachdem die Klassenlehrerin mit dem Ersatzschlüssel der Lagerköchin Lisa die Toilettentür öffnen konnte. Den Brechreiz unterdrückend, bückt sie sich und tastet auf der Innenseite des Handgelenks nach dem Puls. Erst als sie die Augen schließt, sich vollständig konzentriert, spürt sie ein schwaches, unregelmäßiges Pochen. Sophie lebt. Noch.

      40 Minuten später schließt Lisa die Hecktür der Ambulanz mit einem warmen, aufmunternden »das wird schon« in Richtung Klassenlehrerin, die Sophie ins Krankenhaus begleitet. Um die Lehrerin zu entlasten, hat sie angeboten, Eltern und Klasse zu informieren. Diese hat dankend angenommen. Der Albtraum ist auch so belastend genug.

      Dabei hatte die Landschulwoche auf dem Hof von Heinz Grob so vielversprechend begonnen. Aus Lisas Sicht hatte die Klasse mit Juni den perfekten Zeitpunkt für einen Aufenthalt auf der Bussalp gewählt. Dann erwacht hier oben die Vegetation so richtig. Den Kontakt mit den oft vorlauten, dennoch liebenswürdigen Jugendlichen hatte sie wie immer genossen. Die Kommunikation mit den verständnisvollen Leiterinnen und Leitern hatte reibungslos funktioniert. Ihre Kochkünste wurden geschätzt.

      Klassenlager mit jungen Menschen bringen immer Leben auf den Hof und in ihren Alltag. Aus solchen Wochen tankt sie Energie, schöpft neuen Mut und Zuversicht. Was in ihrer aktuellen Lage wichtiger ist denn je. Witzige Aktionen und Streiche der Teenager erinnern sie an unbeschwerte, längst vergangene Zeiten. Die erste Zigarette, Schwindelgefühl inklusive, versteckte, zufällige Berührungen, der erste richtige Kuss und die damit verbundenen Libellen im Bauch (Schmetterlinge klingen ihr zu abgedroschen). Nächtliche Picknicks im Zimmer des andern Geschlechts. Oder das Mithören der Leiterrunde, die auch nicht immer promillefrei, geschweige denn leise blieb. Was ihr schon damals bewies, dass Erwachsene keine fehlerlosen Wesen sind. Heute ist sie überzeugt, dass die Unvollkommenheit im Alter sogar zunimmt. Von wegen Weisheit sei eine Frage des Alters.

      Sophies Zustand sei stabil, aber nach wie vor kritisch. Man könne zuversichtlich sein, dass sie das Gröbste bald überstanden habe, tappe aber immer noch im Dunkeln auf der Suche nach der möglichen Ursache. Drogen seien nicht im Spiel gewesen. Am wahrscheinlichsten sei eine Vergiftung, ausgelöst vermutlich durch ein verdorbenes Lebensmittel. Oder irgendein Virus. Wobei Letzteres eher nach einer medizinischen Standardantwort klingt und so viel heißt wie: Wir haben keine Ahnung.

      Verdorbene Lebensmittel? Die Information


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