Schweizer Wasser. Bernhard Schmutz
Читать онлайн книгу.Minute am Bahnhofkiosk gekauft hat. Immerhin ein Anfang. Den größten Effekt hat so oder so die atemberaubende Aussicht vor seinem Sechs-Quadratmeter-Heim. Jeden Morgen überrascht ihn die Natur mit neuen Stimmungen und Farbkombinationen. Aktuell wird er beinahe täglich mit Bildern verwöhnt, die perfekter sind als retuschierte Ferienprospekt-Fotos. Wie wenn sie mit MySwitzerland einen Vertrag hätte, rückt die aufgehende Sonne die drei Wahrzeichen der Berner Alpen ins richtige Licht, bevor ihre Sonnenstrahlen die schwarze Wasseroberfläche beleuchten. In diesen kurzen Momenten ist sein Leben perfekt. Wobei leicht melancholische Moll-Szenarien ihn mehr berühren als solche in Dur, die ihm schnell zu kitschig, zu auffällig, zu laut sind. Postkarten-Sonnenaufgänge, wolkenloser Himmel, Landschaften, die sich im völlig wellenlosen Wasser spiegeln, als wären sie handgemalt oder mit einem Bildbearbeitungsprogramm korrigiert, sind ihm suspekt. So makellos ist das Leben nicht. Mystische Nebelschleier, die Teile verhüllen, die knalligen Farben entschärfen, oder dunkle Wolken, die bedrohlich wirken und unberechenbar sein können, sind seinem Wesen und dem echten Erdendasein viel näher. Noch ein Hinweis auf seine leicht depressive Veranlagung?
Tatsächlich glückt der Start. Seine drei ersten Kundenbesuche sind erfolgreich. Ein Genossenschaftsladen, der von den Einwohnern mit viel Enthusiasmus betrieben wird, hat für seine Größe überdurchschnittlich viel bestellt. Die ansteckend fröhliche Mitbesitzerin war von den exotischen Gewürzmischungen in Bio-Qualität begeistert. Zuletzt versuchte er ihre Euphorie mit dem Hinweis zu bremsen, dass er gerne regelmäßig für Nachbestellungen vorbeikomme.
Die Pause in seinem Lieblingscafé hat er sich verdient. Er liebt diesen Ort nicht wegen des schönen Ambientes, weil es angesagt ist oder in besonders guter Lage steht. Im Gegenteil. Eine Renovation wäre längst fällig. Der schlauchartige Raum verströmt Wartsaalatmosphäre wie in einem verwaisten Bahnhof. Die meisten Tische auf dem Plattenboden aus einer längst vergangenen Epoche stehen schief, Tageslicht ist Mangelware. Vielen Passanten fällt nicht einmal auf, dass sich hinter den zwei kleinen Frontfenstern an der stark befahrenen Straße ein öffentliches Lokal versteckt. Wim liebt es gerade für seine Schlichtheit und Unscheinbarkeit. Vor allem aber wegen der äußerst sympathischen, auf den zweiten Blick hübschen, unaufdringlichen Bedienung. Für den perfekten Espresso und das große Zeitungsangebot.
»TOD IN DER LANDSCHULWOCHE!« Die Zeitung mit den großen Buchstaben liest er normalerweise nicht. Die schaut man höchstens an, hatte er früher gescherzt. Mittlerweile ist ihm schleierhaft, weshalb er und seine Außendienstkollegen das lustig fanden. War es wirklich nur wegen des bisschen Busens auf Seite drei? Wie auch immer. Sie waren eine reine Männertruppe. Leider. Weibliche Kolleginnen hätten bestimmt positiven Einfluss auf die Manieren einzelner Kollegen gehabt. Vielleicht sogar auf deren oberflächlichen Zeitungskonsum. Als er in der fettgedruckten Zusammenfassung unter dem Titel den Namen »Grindelwald« entdeckt, schnappt er sich, zusätzlich zu seinem Leibblatt, trotzdem eine Ausgabe.
In wenigen Sätzen werden die erschütternden Tatsachen beschrieben. Eine 15-jährige Schülerin sei an den Folgen einer Magenverstimmung gestorben. Insgesamt seien fünf Personen hospitalisiert worden. Vier davon hätten sich bald erholt. Weshalb die zuerst Erkrankte es nicht geschafft habe, sei unklar. Als Ursache werde eine Lebensmittelvergiftung vermutet. Drogen könnten ausgeschlossen werden. Ob eine andere, bisher unbekannte körperliche Schwäche mitspielte, werde vom Institut für Rechtsmedizin noch abgeklärt. Bei außergewöhnlichen Todesfällen sei laut Polizei eine Obduktion wahrscheinlich.
Selbstverständlich sei man erschüttert, fühle mit der Familie der Schülerin mit und spreche sein herzliches Beileid aus. An Spekulationen beteilige man sich nicht; wenngleich ein verdorbenes Lebensmittel, gepaart mit einem tragischen Zufall, die im Moment logischste Erklärung sei. Erste Maßnahmen seien bereits eingeleitet worden. Die Öffentlichkeit werde, so weit relevant, über Neuigkeiten informiert. Die Privatsphäre der hart geprüften Familie gehe aber vor, werden die Verantwortlichen von Grindelwald zitiert. Ergänzt wird das Ganze mit einem Interview des Hofbesitzers und, für Wim wenig überraschend, mit Luke Mischler. Das Gespräch wurde jedoch kurz vor der tragischen Wende geführt. Zum Schluss stellt der Journalist eine Frage in den Raum, mit der er die Fortsetzung der Geschichte elegant vorspurt: Was bedeutet das für die Abstimmung über das ambitiöse Honeymoon-Projekt?
Wim bestellt sich einen zweiten, diesmal doppelten Espresso. Sogar in seinem bevorzugten Printmedium wird die Geschichte behandelt. Etwas kleiner und an weniger prominenter Stelle.
Und was jetzt, Luke? Nur ein Rückschlag oder der Super-GAU für eure Tourismuspläne? Was sind das für Maßnahmen, die bereits eingeleitet wurden?
Seine Erinnerungen an Grindelwald sind zum größten Teil schmerzhaft. Die letzten an die Klassenzusammenkunft und den Helfereinsatz eher peinlich. Umso erstaunlicher, dass ihn die Geschichte nicht einfach kalt lässt. Ist es Neugier? Schadenfreude? Hassliebe? Womöglich sogar Rache für all die erniedrigenden Erlebnisse, die ihn mit diesem Ort verbinden?
Jetzt beruhig dich. So wichtig bist du auch wieder nicht, dass sich eine höhere Macht für dich rächen würde, hört er sich laut denken. Trotzdem. Einen Denkzettel haben die überheblichen Zukunftsgestalter verdient; so wie die an der Informationsveranstaltung aufgetreten sind.
Aber hallo! Doch nicht mit einem tragischen Todesfall eines Menschen, der noch sein Leben vor sich hatte, brüllt sein Gewissen.
Natürlich hast du recht. Aber Gedanken sind nun mal unkontrollierbar, beruhigt er es.
Von Demut keine Spur und mit narzisstischen Zügen gespickt, hat er den Auftritt der Honeymoon-Promotoren im Congress Center in Erinnerung. Am Infoabend war er nur dabei gewesen, weil er sich erhofft hatte, Personen zu treffen, die er »en passant« über sein Verhalten in der Bar nach dem Sportanlass im Frühjahr ausfragen konnte, um seine Gedächtnislücken zu schließen. Vielleicht genügten auch Blicke, um herauszufinden, ob er sich daneben oder noch schlimmer benommen hatte. Hatte er nicht, konnte er erleichtert resümieren. Zumindest waren ihm keine rollenden Augenpaare, spitze oder mitleidige Bemerkungen aufgefallen. Vielmehr empfand er Mitleid für die mutige Person in der Sitzreihe vor ihm. Oder war es Sympathie? Wahrscheinlich ein Mix aus beidem. Egal. Gerne hätte er ihr anschließend gratuliert. Leider verließ die Frau den Anlass fast fluchtartig. Seine Spontanität war viel zu träge, um sie aufzuhalten. Wie schon so oft. Immerhin hatte seine Reaktion genügt, um den Schal einzustecken, den sie in der Eile auf ihrem Stuhl vergessen hatte. Vielleicht würde er ja eine zweite Chance bekommen. Schließlich stehen auch einige Geschäfte und Gastronomiebetriebe aus Grindelwald auf seiner Akquisitionsliste. Würde er bei diesen Kontakten, so nebenbei wohlverstanden, mehr über die Besitzerin und die Hintergründe dieser Geschichte erfahren? Wie werden sich die Honeymoon-Initianten aus der Affäre ziehen? Wer oder was ist wirklich für den Tod im Klassenlager verantwortlich? Diese Fragen formulieren sich automatisch und sorgen für leichtes Kribbeln im Bauch. Ein stimulierendes Gefühl, das er lange nicht mehr erlebt hat. Einen Tick aufrechter als sonst macht er sich auf den Weg, aus dem gut begonnenen einen überragenden Tag zu machen. Das Trinkgeld ist noch üppiger als sonst.
Juni (9)
»Ja!?«
»Guten Tag, Frau Pelletier. Mein Name ist …«
»Ich kaufe nichts!«, antwortet die Gegensprechanlage.
»Darum geht es nicht, ich möchte nur …«
»Irgendein Freikirchler-Geschwafel brauche ich noch weniger.«
»Keine Angst. Ich möchte nur …«
»Sind Sie schwerhörig? Hauen Sie ab!«, überschlägt sich die Stimme. »Lassen Sie mich einfach in Ruhe.«
»Frau Pelletier. Ich möchte wirklich nur …«
Klick. Der Lautsprecher hat sich verabschiedet.
Heute lasse ich mich nicht abwimmeln, erinnert sich Wim an seinen Vorsatz, den er vor dem ersten Klingeln getroffen hat.
»Wenn Sie nicht sofort verduften, rufe ich die Polizei!«
»Herrgott noch mal! Jetzt hören Sie mir verdammt noch mal zu und lassen Sie mich ausreden! Ich bringe Ihnen nur etwas zurück, was Ihnen gehört!«, entgegnet Wim und ist