Das qualitative Interview. Manfred Lueger
Читать онлайн книгу.Sichtweisen zu diesen:
Interviews, die solches Material produzieren, werden zumeist in Aktionsforschungen, partizipativer Forschung, Beratungsprojekten oder familientherapeutischen Prozessen zu Interventionszwecken eingesetzt. Dabei greifen Inspektion und Intervention permanent ineinander. Als Sonderform von Gesprächsmaterial bleibt dieser Aspekt hier ausgeklammert, weil er weniger zur Analyse als vielmehr zu Veränderungen in Systemen beiträgt (etwa im Kontext von Beratungsgesprächen). Es sei aber an dieser Stelle auf die ausführlichen theoretischen und praktischen Darstellungen zur rekursiven Informationsschöpfung von Deissler (1986) verwiesen.
[34]Die drei Funktionen gehen stufenweise ineinander über, indem die Inspektion eine beschreibende Verständigung voraussetzt und Reflexion der genauen Untersuchung im Rahmen der Inspektion bedarf. Von der Beschreibung bis zur Reflexion erhöht sich der Komplexitätsgrad von Gesprächen, wobei auch die Anforderungen an die Interpretation höher werden. Im Fall eines deskriptiven Interviews ist noch eine reduktive Zusammenfassung der manifesten Inhalte möglich (etwa eines Expert*innengesprächs; siehe die Themenanalyse in Abschnitt 5.4; oder die Zusammenfassung des manifesten Inhalts, ohne diese zu interpretieren; siehe Abschnitt 5.5). Inspektive und reflexive Gespräche dagegen bedürfen aufwendiger Analyseverfahren (siehe Abschnitte 5.1, 5.2 oder 5.3).
2.4Beispiel einer Forschungsarbeit mittels qualitativer Interviews
Bisher waren die Ausführungen eher abstrakt gehalten, um die Grundlagen einer qualitativ orientierten Forschungsstrategie unter besonderer Berücksichtigung von Gesprächsanalysen als zentrale Methode herauszuheben. Dieser Abschnitt soll nun exemplarisch vorführen, wie sich die Grundlagen qualitativer Forschung in die Forschungspraxis übersetzen lassen. Der Fall einer an der Schnittstelle zwischen autonomer Forschung und Auftragsforschung angesiedelten interpretativen Unternehmensanalyse (vgl. dazu auch Lueger 1997) wurde gewählt, um auch jene Schwierigkeiten zu verdeutlichen, die bereits im Zuge der Formulierung einer Forschungsfrage auftreten können. Darüber hinaus zeigt das Design, wie trotz ungünstiger Bedingungen (etwa kein größeres Forschungsteam, starkes Misstrauen seitens des Forschungsfeldes) eine sinnvolle Analysestrategie entwickelt werden kann. Die zusammenfassende Darstellung der Durchführung der Studie erfolgt entlang der oben vorgestellten Forschungsphasen.
a)Die Planungsphase als Aushandlung der Forschungsthematik
Den Ausgangspunkt der Studie bildeten zwei verschiedene Erkenntnisinteressen: Forschungsseitig griff die Studie eine grundlagentheoretische Fragestellung nach den Bedingungen und Möglichkeiten von sozialer Ordnung in Organisationen im Kontext alternativer Sicht- und Handlungsweisen auf. Die Analyse sollte sich daher mit der Analyse von Kommunikationsbeziehungen, den spezifischen sozialen Konstruktionsweisen von Wirklichkeit im Unternehmen und den kommunikativen Steuerungsmechanismen beschäftigen, die soziale Ordnung im Unternehmen erzeugen, erhalten oder verändern. Damit wurde eine grundlagenthematische Fragestellung aufgegriffen, die sich in Form einer fallorientierten Analyse der sozialen Logik in einer Organisation hervorragend für eine qualitative Analyse eignet. Zwei Kriterien wurden auf die Auswahl des Falles angelegt: Erstens sollte es sich um ein größeres Unternehmen handeln, um eine komplexe Dynamik untersuchen zu können; zweitens sollte es sich um ein Unternehmen mit deutlich hervortretenden Konflikten handeln.
[35]Im Verlauf der Suche nach einer geeigneten Organisation wurden Gespräche mit einem Vorstandsmitglied eines größeren Produktionsunternehmens geführt, das von sich aus ein spezifisches Organisationsinteresse vorbrachte: Das Unternehmen laborierte – so die von den Vorstandsmitgliedern geteilte Sichtweise – an einem massiven Kommunikationsproblem zwischen Vorstand und Belegschaft. Die Belegschaft misstraute den Vorstandsinformationen, was von ausgeprägten Verständigungsproblemen und Konflikten mit enormen Reibungsverlusten begleitet war. Versuche, die Information besser zu strukturieren und mehr Informationen zu geben, haben die Beziehung zwischen Vorstand und Belegschaft jedoch weiter verschlechtert. Die Auftragsidee war nun, eine Kommunikationsstrategie zu entwickeln, die es ermöglicht, Informationen im Unternehmen so zu verbreiten, dass sie von der Belegschaft als zuverlässig akzeptiert werden.
Damit ist ein Basisproblem interpretativer Organisationsforschung angesprochen: Die Akzeptanz dieser Sichtweise des Vorstandes würde heißen, dass man (a) die Problemdefinition des Vorstands übernimmt, (b) eine rein technische Natur des ‚Kommunikationsproblems‘ unterstellt und (c) auch gleich die Lösung für das Problem (geschicktere Kommunikationsstrategie) billigt. Eine solche Vorgangsweise wäre sozialwissenschaftlich unergiebig, weil man in diesem Fall nur externe Expertisen zu bemühen bräuchte, aber nichts über die Bedeutung des ‚Kommunikationsproblems‘, die Sichtweisen der Belegschaft, den Prozess des Entstehens und des Erhaltens des ‚Problems‘ erfahren würde. Dies käme einer einseitigen Instrumentalisierung der Forschung durch den Vorstand als Auftraggeber gleich. Damit war klar, dass man zu einer gemeinsamen Definition des Auftrags gelangen musste, welche den Ansatzpunkt für das ‚Problem‘ umdefiniert und der Forschung einen entsprechenden Freiraum gewährt, um auch das grundlagentheoretisch fokussierte Phänomen in seiner Vielfalt erfassen zu können. Die in der Folge ausgehandelte gemeinsame Fragestellung redefinierte das Ausgangsproblem des Vorstands so, dass sie sowohl dem Forschungsinteresse als auch dem Auftragsinteresse entgegenkam: Im Rahmen des Projekts sollte untersucht werden, welche Organisationsdynamik hinter den Spezifika der organisationsinternen Kommunikation steht. Dies sollte die Forschung aus einer politischen Funktion heraushalten, nämlich die Lösung für ein definiertes Problem zu liefern und dadurch die vorgegebene Problemdefinition und Problemlösung zu legitimieren. Die Forschung bot ‚nur‘ an, zu verstehen, warum und für wen das Problem ein solches ist, was dahinter stecken könnte und wo daher Ansatzpunkte zu finden sind, die eine adäquate Bewältigung des wahrgenommenen Problems versprechen.
Die Forschung wurde von zwei Personen durchgeführt. Diese Konstellation erforderte bereits in der Planung zwei Vorkehrungen für eine seriöse Abwicklung der Studie: (a) Eine spezifische Aufgabenverteilung, um die Durchführung der Erhebung wie auch die Interpretation des Materials abzusichern. Dies ließ sich nur umsetzen, indem eine Person schwerpunktmäßig die Gesprächsdurchführung übernahm, die zweite Person jedoch die Interpretation. In der Organisierung der [36]Orientierungsphase spielte darüber hinaus die unternehmensinterne Vermittlungsperson eine wichtige Entlastungsrolle. (b) Zusätzlich erhöhte ein externes Forschungsumfeld (in diesem Fall andere Forscher*innen, die für eine intensive Diskussion sorgten) das Forschungspotenzial und übernahm partiell Supervisionsfunktionen.
Methodisch wurde (neben Artefaktanalysen und begleitenden Beobachtungen) das Hauptaugenmerk auf Gesprächsanalysen gelegt, weil diese die Ansichten der Beteiligten einer diskursiven Betrachtung erschließen. Aufgrund der Bedeutung der Analyse von Kommunikationsprozessen und der sozialen Konfliktdynamik bei dieser Thematik sollten Gesprächsrunden mit mehreren Teilnehmer*innen die wichtigste Erhebungskomponente bilden.
b)Die Organisierung der Orientierungsphase
Grundsätzlich kann man sich bei einer solchen Thematik nicht auf externes Wissen verlassen, sondern es ist notwendig, das Wissen der Mitarbeiter*innen, d. h. die feldinternen Expertisen, für die Studie fruchtbar zu machen. In diesem Sinne wurde bereits im Vorbereitungsstadium der Studie mit dem Auftraggeber die Möglichkeit ausgehandelt, mit allen Mitarbeiter*innen (deren Einverständnis vorausgesetzt) Gespräche zu führen, ohne dass die Unternehmensführung in die Organisierung der Gespräche interveniert. Für die Forschung sind grundsätzlich alle Mitarbeiter*innen, egal ob Vorstand oder Mitarbeiter*innen auf unterster hierarchischer Ebene, gleichberechtigte Gesprächspartner*innen, die sich nur durch ihre spezifische Expertise unterscheiden.
Interpretative Sozialforschung geht davon aus, dass die Ergebnisse der Forschung nicht nur vom analysierten Gegenstand, sondern auch vom Zugang der