Das qualitative Interview. Manfred Lueger
Читать онлайн книгу.Ergebnisse sind für die Adressat*innen (und nicht nur für das Forschungsteam) von besonderer Bedeutung?
•[27]Welche Informationen über die Forschungsdurchführung sind erforderlich, damit die Adressat*innen den Ergebnissen vertrauen können?
•Welchen Beitrag leistet die durchgeführte Studie für die Adressat*innen und inwiefern konnte die Wissenschaft auf diese Weise vorangetrieben werden?
Der geschilderte Forschungsprozess ist vereinfacht in Abbildung 1 dargestellt.
Abbildung 1: Forschungsprozess
Quelle: Eigene Darstellung
Eine solche Vorgangsweise erfordert aufseiten der Forscher*innen eine hohe Ungewissheitstoleranz, weil sie sich vorweg nicht auf alle Eventualitäten einstellen können, keiner durchgehenden detaillierten Planung folgen können und ständig den Anforderungen des Forschungsprozesses entsprechend ihre Vorgangsweise ändern müssen. Folgende Punkte sind deshalb wichtig, weil sie erfahrungsgemäß immer wieder (mit negativen Folgen für die Forschungsqualität) übergangen werden:
•Generell sollte man sich mittels sehr offener Vorgangsweisen das Feld in der inhaltlich und methodisch sinnvollsten Weise erschließen, dagegen Absicherungsstrategien oder stärkere Vorstrukturierungen (wie etwa Interviews mit persönlich bekannten Personen, genaue Leitfäden für die Befragung, zu starke Berücksichtigung der [28]Sichtweise der hierarchischen Spitze eines sozialen Systems) meiden, weil dies blinde Flecken eher verstärkt als überwindet.
•Da gerade der Forschungszugang wichtige Einsichten in die Selbstbeschreibung und das Selbstverständnis sozialer Systeme gewährt, sind bereits die Erstkontakte zu einem sozialen System möglichst umfassend zu dokumentieren und einer besonders sorgfältigen Analyse zu unterziehen. Die ersten Analysen bilden das Fundament für die weitere Arbeit – und dieses Fundament sollte möglichst solide gestaltet werden.
•Die Interpretation des Materials im Rahmen der zyklischen Hauptforschungsphase bildet den Schwerpunkt der Analyse. In den meisten Fällen mangelt es nämlich nicht an Material, sondern an der extensiven Auslegung ausgewählter Materialien und an systematischen Forschungsentscheidungen, die nur eine gewissenhafte Interpretation ermöglicht.
•Für die Analyse sollte man grundsätzlich folgende Regel beherzigen: Langsamer ist schneller und informativer. Weil der Beginn einer Textinterpretation aufgrund der für die Analyse noch unbekannten Gesprächsdynamik die gewagtesten Schlussfolgerungen erzwingt (die den Blick erweitern), ist die erste Interpretationsphase eines Textes besonders gründlich durchzuführen (wobei die Feinstrukturanalysen den Systemanalysen oder Themenanalysen meist vorangehen).
2.2Allgemeine Formen der Gesprächsführung
Die in der Literatur vorfindbaren Verfahren der Interviewführung bzw. die damit verbundenen spezifischen Techniken der Gesprächsführung lassen sich nach einem zentralen Differenzkriterium einordnen, nämlich wer vorrangig die Gesprächssteuerung übernimmt: Einen Pol bilden demnach Gespräche, die eine möglichst umfassende Strukturierung des Redeflusses durch die befragten Personen anstreben, wobei die interviewende Person die Funktion übernimmt, den Redeverlauf zu begleiten. Dies entspricht einer genuin interpretativen Sozialforschung, indem die Forscher*innen sich verstehend an der Logik der Befragten orientieren und durch Provokation von Selektionsleistungen die befragten Personen anregen, sich nach ihren eigenen Relevanzkriterien zu richten. Den anderen Pol bilden jene Gespräche, in denen die interviewende Person die Gesprächssteuerung übernimmt. In diesem Gesprächstypus werden in unterschiedlichem Maße die wichtigsten Vorgaben durch die Forscher*innen definiert (etwa durch einen vorgegebenen Frageraster). In diesem Sinne tendieren solche Gespräche zu einer stärker ausgeprägten Strukturierung bis hin zu Standardisierungen durch die Forscher*innen (im Fall vorformulierter Fragen und vorgegebener Antworten) und nähern sich dadurch den Anforderungen an quantitativ orientierte Forschungsarbeiten an.
Der Unterschied wird deutlich, wenn man die beiden Extrempole jenes Kontinuums darstellt, auf dem sich die unterschiedlichen Formen der Gesprächsführung bewegen. Dabei repräsentieren etwa ethnografische, narrative und qualitative Interviews den genuin qualitativ orientierten Pol, der andere Pol ist am extremsten in [29]einem Fragebogen abgebildet (und spielt daher in der qualitativen Sozialforschung eine marginale Rolle). Leitfadeninterviews wären zwischen den beiden Polen anzusiedeln. Die nachstehende Abbildung 2 streicht die wichtigsten Unterscheidungsmerkmale zwischen beiden Vorgangsweisen heraus.
Genuin qualitativ geführte Gespräche oder Interviews lassen sich nach diesem Schema als solche beschreiben, die sich in einer sehr offenen Weise einer nur grob umrissenen Thematik annähern und den befragten Personen einen sehr weiten Gestaltungsspielraum einräumen. Dadurch rücken Forscher*innen den Blickwinkel ihrer Gesprächspartner*innen in den Vordergrund und erhalten solcherart Hinweise auf deren Verständnis ihrer Lebenswelt. Im Zentrum solcher Gespräche steht die Frage: Was ist für die befragte Person wichtig? Die Forschungsinteressen müssen daher so verpackt werden, dass sie dieser zentralen Frage nicht zuwiderlaufen. Die folgenden Ausführungen befassen sich mit genau diesen qualitativen Forschungsgesprächen.
Abbildung 2: Die beiden Pole des Kontinuums der Gesprächsführung
Quelle: Eigene Darstellung
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2.3Das in Forschungsgesprächen generierte Wissen
Vor dem Hintergrund interpretativer Sozialforschung liegt der Schlüssel zum Verständnis von sozialen Systemen im Verstehen der individuellen und kollektiven Herstellung von Ordnung und somit von Sinn. Im Zentrum stehen kommunikative Prozesse der Generierung von Informationen, die in einen lebensweltlichen Kontext eingebettet sind und zu einer geordneten Wissensstruktur zusammengefügt werden (siehe Abschnitt 7.2). Die Durchführung von Studien sozialer Systeme stützt sich daher auf mehrere Basiskomponenten:
•die Analyse des sozialen Prozesses der Erzeugung von Sinn und die Inhalte dieses dabei generierten Wissens, das in irgendeiner Form stabilisiert und verfügbar gemacht werden muss (soziale Kognition);
•die Erkundung der Folgen dieses Sinngenerierungsprozesses für die Strukturierung kooperativen Handelns in einem sozialen System (kommunikatives Handeln);
•die Untersuchung der in der Entwicklung eines sozialen Systems auftretenden Differenzierungen und Strukturen, wobei die Einheit in dieser Verschiedenheit (Heterogenität und potenzielle Konfliktträchtigkeit) einen wichtigen Bezugspunkt bildet (Systemdynamik).
In Forschungsgesprächen geht es nun darum, diese verschiedenen Komponenten zu erkunden. Der Gesprächsinhalt ist dabei nur eine Komponente, die das Benennbare bzw. das explizit Gewusste anspricht. Die Form des Sprechens und die im Kontext des Gesprächs beobachtbaren Vorgänge geben Auskunft über die beiden letzteren Komponenten, die für das Verständnis sozialer Systeme besonders wichtig sind. Aus diesem Grund ist für die Gesprächsanalyse nicht nur wichtig, was gesagt wird, sondern noch mehr, wie es gesagt wird und warum ein Gesprächsthema auf eine spezifische Weise abgehandelt wird (siehe Abschnitt 4.3).
Befragte Personen gelten im Rahmen von qualitativen Forschungsgesprächen immer als Expert*innen: Sie sind Expert*innen ihrer Lebenswelt, deren lebensweltlicher Wissensvorrat, wie Schütz und Luckmann (1979: 133ff.) meinen, an die Situiertheit biografischer Erfahrungen des Subjekts gebunden ist und der Bewältigung