Das qualitative Interview. Manfred Lueger

Читать онлайн книгу.

Das qualitative Interview - Manfred Lueger


Скачать книгу
um vor Augen zu halten, dass in konkreten Forschungssituationen immer Handlungsspielräume in Form von Entscheidungsalternativen existieren. Leser*innen sollten dadurch in die Lage versetzt werden, sich die Vor- und Nachteile der jeweils gewählten Vorgangsweise bewusst zu machen, wohlüberlegte Entscheidungen zu treffen und kreative Ideen zu entwickeln. Qualitativ-empirische Forschung ist in diesem Sinne ein kreativer, aber zu begründender und zu reflektierender Entscheidungsprozess.

      b)Um die Anwendbarkeit zu erleichtern, wird auf eine möglichst komprimierte und nachvollziehbare Darstellung mit kurzen Verweisen auf Schlüsseltexte Wert gelegt. Dieser Zielsetzung ist auch der Anhang gewidmet, in dem sich Kurzfassungen zu wichtigen Fragestellungen oder Richtlinien zu zentralen Thematiken finden. Sie bieten eine Gedächtnisstütze für die konkrete Forschungsarbeit. Aufgrund des Verzichts auf eine ausführliche Diskussion der umfangreichen Literatur sind in das Literaturverzeichnis Werke zur qualitativen Sozialforschung aufgenommen, die im Text nicht explizit zitiert wurden, um den Einstieg in eine etwas breitere Literaturbasis zu erleichtern.

      c)Seriös durchgeführte Studien bedürfen einer Begründung der gewählten Vorgangsweise. Daher ziehen sich zentrale methodologische Überlegungen als roter Faden durch die gesamte Arbeit und werden im Kapitel 7 gesondert hervorgehoben. Auch hinsichtlich der Gesprächsführung und der Interpretation finden sich immer wieder Hinweise zur Erleichterung der Entscheidung über die Vorgangsweise.

      d)Interpretationsverfahren lassen sich nur bedingt über eine rein formale Darstellung der Vorgangsweise aneignen. Deshalb werden für alle vorgestellten Varianten der Interpretation exemplarische Analysen angeführt. Sie fungieren nicht als zu kopierendes Vorbild für die Interpretation, machen aber die Idee und den Prozess der Auslegung leichter nachvollziehbar.

      e)Die Verlässlichkeit von Forschungsergebnissen ist nicht bloß eine Frage der Begründung einer Vorgangsweise, sondern bedarf spezifischer Strategien zur Qualitätssicherung (etwa die Integration von Gesprächsführung und Interpretation). [13]Der Bedeutung dieser Forschungskomponente gemäß ziehen sich entsprechende Hinweise durch das gesamte Buch, wobei Kapitel 6 geeignete Maßnahmen systematisiert und zusammenfasst.

      f)Sowohl die theoretischen Ausführungen als auch die Darstellungen zur Durchführung und Interpretation qualitativer Interviews konzentrieren sich auf die Analyse des Kontextes von Gesprächsaussagen. Fokussiert wird dabei die Ausdrucksgestalt von Wirklichkeit und die Erzeugung und Darstellung von Sinn im Rahmen der Strukturierung sozialer Prozesse und Strukturen sozialer Systeme.

      Da uns die Darstellung einer allgemeinen Interview- oder Interpretationstechnik wenig sinnvoll erscheint, beschränkt sich der Anwendungsbereich auf die Analyse sozialer Systeme in ihrem jeweiligen Umfeld (wie Organisationen, Familien, Vereine, Gruppen oder kleine Gemeinden). Diese Einschränkung bietet bei der Interpretation eine wesentliche Erleichterung, weil die zu interpretierenden Daten immer auf ein abgrenzbares Gebilde bezogen werden können, welches eine klare Referenzebene der Interpretation bildet. Darüber hinaus repräsentiert die Analyse sozialer Systeme eines der wichtigsten Felder qualitativer Sozialforschung.

      Einige Redundanzen im Text wurden in Kauf genommen, um die Verständlichkeit auch dann zu gewährleisten, wenn man sich für die praktische Umsetzung nur einzelnen Kapiteln genauer widmet. Dies betrifft speziell zentrale Aspekte des Forschungsdesigns, der Qualitätssicherung und der Methodologie, die alle Bereiche der Erhebung und Interpretation qualitativer Interviews durchdringen.

      Noch etwas bedarf gleich am Beginn der Klärung: Wenngleich in der Literatur meist von Interviews (als eher formalisierten Gesprächssituationen mit klarer Rollenteilung) die Rede ist, besteht in der qualitativen Sozialforschung kein Anlass, ,quasi-natürliche‘ Alltagsgespräche methodisch zu vernachlässigen, zumal diese im Rahmen einer interpretativen Methodologie einen zentralen Stellenwert einnehmen. Wenn wir daher in den folgenden Ausführungen mit Vorliebe den Begriff des ,Forschungsgesprächs‘ wählen, so signalisiert dies die Präferenz für wenig formalisierte Gesprächsformen, in denen die Umsetzung technischer Anforderungen in den Hintergrund tritt und vielmehr die Herstellung eines positiven Gesprächsklimas gefragt ist.

      Ähnlich verhält es sich mit dem eher seltsam anmutenden Begriff der (Re-) Konstruktion. Wir möchten damit nicht vergessen lassen, dass man in der qualitativ orientierten Sozialforschung nicht die Realität als Abbild rekonstruiert (siehe dazu Abschnitt 7.1.1), sondern dass Interpretationen immer Konstruktionsleistungen sind, die für sich in Anspruch nehmen, an Phänomene der Realität anzuschließen (‚Pseudorekonstruktion‘ aus wissenschaftlicher Perspektive).

      [14]

       2Grundlagen qualitativer Forschungsgespräche

      Stellen Sie sich vor, Sie sollen einem größeren Auditorium eine Vortragende vorstellen, die Sie selbst nicht kennen, von der Sie auch nichts wissen und mit der zu sprechen Sie erst fünf Minuten vor dieser Kurzpräsentation eine Gelegenheit haben. Wie gehen Sie dabei vor?

      Natürlich gibt es eine Reihe von Möglichkeiten, diese Situation zu meistern. Eine davon ist folgende: Da Sie zwar das Auditorium kennen, nicht aber die Vortragende, überlegen Sie sich, was das Auditorium über die vorzustellende Person wissen sollte. Entsprechend stellen Sie Fragen wie beispielsweise nach dem Werdegang, den wichtigsten Stationen ihres Wirkens und vielleicht (damit Sie zur Auflockerung auch etwas sagen können) stellen Sie eine Frage zur Anreise.

      Eine solche Vorgangsweise wäre durchaus verständlich und ist in derartigen Kontexten auch üblich. Aber was erfahren Sie auf diese Weise? Zuerst einmal füllen Sie mit solchen Fragen Lücken in Ihrem eigenen Denkschema (z. B.: Was will das Publikum hören, wie kann man die Vorstellung auflockern, was sind zentrale Informationen, um die vorgestellte Person einordnen zu können? etc.). Eine solche Fragetechnik setzt voraus, dass Sie schon im Vorfeld wissen, was relevant ist. Im Zuge dessen erfahren Sie, was Sie für wichtig erachten – aber eben nur dieses (sofern die von Ihnen befragte Person nicht extemporiert). Indem Sie mit Ihren Fragen die Struktur vorgeben, erfahren Sie nichts darüber, was möglicherweise der Vortragenden selbst wichtig sein könnte.

      Wenn Sie hingegen wissen möchten, was der befragten Person wichtig ist, müssen Sie ganz anders vorgehen: Sie können schlicht danach fragen, was die Vortragende möchte, dass Sie dem Auditorium über sie erzählen. Die Intention dieser Strategie ist daher eine völlig andere: Nicht Sie geben eine Struktur vor, sondern die befragte Person muss auf der Grundlage einer Frage eine eigene Struktur entwickeln. Diese enthält zwangsläufig eine Präferenz über die Selbstdarstellung. Und selbst wenn Sie nichts anderes zur Antwort bekommen, als die erstgenannte Fragestrategie ihnen offenbart hätte, so besteht dennoch ein fundamentaler Unterschied: Im ersten Fall wissen Sie nichts über die Bedeutung dieser Inhalte; im zweiten Fall können Sie jedoch davon ausgehen, dass diese Inhalte etwas mit der Person oder ihrer Einschätzung der Situation zu tun haben.

      Im Zentrum qualitativer Interviews steht die Frage, was die befragten Personen für relevant erachten, wie sie ihre Welt beobachten und was ihre Lebenswelt charakterisiert. Dafür bietet sich eine Vorgangsweise an, die der zweiten Variante entspricht, weil nur diese die Möglichkeit eröffnet, aus der Perspektive der befragten Person heraus den für sie bedeutsamen Kontext zu untersuchen. Das gilt generell für die Analyse sozialer Systeme. Wenn Sie sich etwa für Führungsstrukturen in einem Unternehmen interessieren, können Sie nach diesem Muster danach fragen, was ,Führen‘ im Unternehmen heißt oder welche ,Führungsrichtlinien‘ gelten. Die be-[15]fragten Personen müssen dann für sich klären, was überhaupt Führung bedeutet, sie müssen also ihre Antwort in ein Relevanzsystem integrieren, das sie in der Antwort implizit transportieren. Eine solche Frage kann aber auch eine Gegenfrage auslösen, etwa in der Art, was man denn in dieser Frage unter ‚Führung‘ verstehe, damit man die Frage richtig beantworten kann. Aber selbst diese


Скачать книгу