Das qualitative Interview. Manfred Lueger

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Das qualitative Interview - Manfred Lueger


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sie sich orientieren oder der sie widersprechen kann. Und damit wird bei genauer Hinsicht das Führungsthema bereits in der Interaktionssituation vorgeführt. Der Nachteil einer solchen Strategie ist, dass die angesprochenen Personen von ihren eigenen Führungserfahrungen abstrahieren und erzählen, was man eben über Führung so erzählt, womit sie die Antwort auf eine öffentliche Situation (wie das Interview eine ist) anpassen. Dadurch erfahren Sie zwar etwas über führungsrelevante Vorstellungen, aber wenig über Führung im alltagspraktischen Kontext.

      Darüber hinaus können Sie noch offener vorgehen, indem Sie Ihr primäres Interesse, nämlich Führung, überhaupt nicht thematisieren, sondern das Gespräch generell über den Arbeitsalltag führen. Eine solche Verfahrensweise erscheint zwar etwas paradox, weil vielfach angenommen wird, Interviewer*innen müssten das ansprechen, was sie unmittelbar interessiert. Aber indem man die Themenführung den befragten Personen überträgt, entscheiden diese, ob führungsrelevante Aspekte überhaupt zur Sprache kommen. Wenn dies der Fall ist, dann ist von Interesse, wie diese Thematik zum Ausdruck kommt. Auf diesem Weg erfahren Sie nicht nur etwas über ‚Führung‘, sondern darüber hinaus etwas über die Bedeutung, den Kontext oder damit verbundene Handlungsstrategien. Falls die Gesprächsteilnehmer*innen ‚Führung‘ explizit ansprechen, können Sie diese Thematik vertiefend behandeln.

      Damit ist der Gegenstand der folgenden Ausführungen bereits angesprochen: Qualitative Forschung widmet sich der Untersuchung der sinnhaften Strukturierung von Ausdrucksformen sozialer Prozesse. Es geht also darum zu verstehen, was Menschen in einem sozialen Kontext dazu bringt, in einer bestimmten Weise zu handeln, welche Dynamik dieses Handeln im sozialen Umfeld auslöst und wie diese auf die Handlungsweisen zurückwirkt. Im Zuge dessen fokussieren qualitative Analysen die gesellschaftliche Verankerung der Praxis menschlichen Handelns, sozialer Ereignisse und deren Entwicklungsdynamik (allgemein: die Strukturiertheit sozialer Prozesse) und versuchen diese einem theoretisierenden Verständnis zuzuführen. Die Erhebungsmethode übernimmt dabei die Funktion, jene Materialien zu beschaffen, die diesem Anspruch gerecht werden können.

      Hinter einer solchen Fragestrategie, die den befragten Personen eine möglichst umfassende Strukturierungsleistung abfordert, stehen – und das wird im Kapitel 7 noch ausführlicher besprochen – eine Reihe von Annahmen. Diese beziehen sich auf die Durchführung der Erhebung und deren Integration in einen Forschungskontext, um ein bestmögliches Verständnis eines untersuchten sozialen Systems zu ermöglichen. Einen allgemeinen Hintergrund bilden die im Folgenden kurz umris-[16]senen Annahmen über den Gegenstandsbereich, die eine interpretativ orientierte Forschungsstrategie leiten:

      •Phänomene kommen nur in einem kommunikativen Prozess der Vergesellschaftung zur Geltung. Wie Menschen handeln, ist nicht bloß Resultat subjektiver Überlegungen oder Planungen, die Außenstehenden nicht zugänglich sind (gemeinter Sinn), sondern ist in einen kollektiv geformten lebensweltlichen Horizont aus Relevanzstrukturen und Typisierungen integriert. Dies rückt die Prinzipien der Strukturierung sozialer Beziehungen und der Bedingungen der Verständigung in das Zentrum qualitativer Studien. Die Perspektive einzelner Personen, wie sie in Interviews zum Ausdruck kommt, ist folglich nur der Ausgangspunkt für die Analyse, die in die (Re-)Konstruktion der subjektunabhängigen Regeln der Organisierung von sozialen Systemen mündet.

      •Die Praxis menschlichen Handelns weist darüber hinaus eine eigenständige Dynamik auf. Die im sozialen Kontext produzierte Sinnhaftigkeit und die Orientierung des Handelns an anderen Personen bilden einen gemeinsamen Rahmen, der individuelle Handlungsstrategien in einen Kontext integriert. Durch das miteinander verbundene Handeln vieler Akteur*innen entsteht ein gesellschaftliches Milieu, welches diesen als äußerliche Rahmenbedingung entgegentritt und dem sie potenziell ausgeliefert sind. Die Analyse sozialer Systeme mittels Interviews ist ein typischer Fall einer solchen Kontextanalyse: Das Gespräch wird als Manifestation eines Kontextes, nämlich des sozialen Systems interpretiert, in dem die Menschen ihre situativen und allgemeinen Vorstellungen, Erwartungen und Handlungsweisen entwickeln. Dabei sind die Inhalte nur eine Komponente für die Analyse; genauso wichtig sind die Darstellungsformen, weil sich hier die Reproduktionsmechanismen eines sozialen Systems sowie die Spezifika der Außendarstellung am deutlichsten offenbaren.

      •Soziale Phänomene unterliegen einer permanenten Fluktuation, in der sich die Reproduktionsstrategien von Kollektiven und die Lebensbedingungen aller Mitglieder einer Gesellschaft (langsam oder krisenhaft) verändern. Aus diesem Grund ist die Entwicklungsdynamik, d. h. die (Re-)Konstruktion der Logik und die Entfaltung von Entwicklungskräften, Bestandteil jeder Analyse. Der Begriff der sozialen ‚Logik‘ meint dabei jene Regeln, die konkretes Handeln mit einer sinnhaft erlebbaren Ordnung versehen. Zum einen bezieht sich diese Ordnung auf die Beziehungen zwischen den Elementen eines Phänomens (Relationalität), andererseits auf die zeitliche Abfolge (Sequentialität) von Interaktionen.

      •Den zentralen Analysefokus im Untersuchungsfeld bilden folglich Lebensäußerungen und deren zugrundeliegende Regeln (z. B. die Äußerungsstruktur, die spezifische Kontextbezogenheit, die kommunikative Dynamik). Interpretative Analysen sind hierbei mit dem Problem konfrontiert, sich mit einem Gegenstandsbereich zu befassen, der sich einer Beobachtung nicht unmittelbar präsentiert (z. B. Sinn, Struktur), sondern sich nur erschließen lässt. Erkenntnisse sind daher Konstruktionen aus einer spezifisch wissenschaftlichen Perspektive, die den Erkenntnisgegenstand theoretisierend dem Verständnis zugänglich machen. [17]Dieser konstruktive Charakter erfordert gewissenhafte Maßnahmen zur Qualitätssicherung, um zuverlässige Ergebnisse bereitzustellen.

      Im Gegensatz zur quantitativ orientierten Forschung besteht die Zielsetzung folglich nicht in der Prüfung vorgefasster Annahmen, sondern im Aufbau eines (meist fallorientierten) theoretischen Verständnisses eines Untersuchungsbereiches, wie etwa das sozialer Systeme. Viele Studien widmen sich einer solchen theoriegenerierenden Vorgangsweise, indem sie etwa

      •die untersuchten Phänomene auf den kulturellen Kontext bezogen im Sinne einer dichten Beschreibung (vgl. Geertz 1991) durchleuchten (z. B.: Was bedeutet Durchsetzung im kulturellen Kontext eines Unternehmens?),

      •aus dem untersuchten Bereich eine gegenstandsorientierte Theorie (vgl. Glaser/Strauss 2010: 50ff.) herausdestillieren (z. B.: Was sind typische Durchsetzungsstrategien in einem spezifischen Unternehmen?),

      •aus einer umfassenden vergleichenden Studie vieler heterogener Fälle formale Theorien (vgl. Glaser/Strauss 2010: 93ff.) mit einem hohen Verallgemeinerungsgrad zu erstellen versuchen (z. B.: Wie lässt sich die Logik von organisationaler Durchsetzung unabhängig von einem spezifischen Fall verstehen?).

      Soziale Systeme, deren Analyse in den folgenden Ausführungen im Zentrum steht, zeichnen sich durch ihre Grenzziehung aus. Dadurch bildet die Generierung gegenstandsorientierter Theorien mit der Möglichkeit einer Weiterentwicklung zu formalen Theorien den Analyseschwerpunkt. In erster Linie soll also ein im Rahmen einer Untersuchung fokussiertes soziales System durch die Analyse dem Verstehen zugänglich gemacht werden. Dies lenkt die Aufmerksamkeit primär auf das theoretische Verständnis von Prozessen, Ereignissen, Differenzierungen oder Strukturierungen innerhalb des sozialen Systems, auf die Untersuchung der Gestaltung und Entwicklung der sozialen Beziehungen nach innen und nach außen zu relevanten Systemumwelten und auf die Erkundung von Zusammenhängen individuellen Handelns und kollektiver Dynamiken. Führt man solche Analysen im Sinne einer fallübergreifend vergleichenden Analyse weiter, so trägt dies zu immer tragfähigeren Verallgemeinerungen im Sinne der Entwicklung formaler Theorien bei. Dichte Beschreibungen spielen eine Rolle, wenn die spezifischen Bedeutungskontexte und subkulturellen Verankerungen von Sinnstrukturen innerhalb einer Fallstudie zum Tragen kommen. Insofern sind die drei Vorgangsweisen zwar miteinander verbunden, setzen aber spezifische Schwerpunkte in der Analyse und stellen infolgedessen unterschiedliche Anforderungen an die Sammlung bzw. Erhebung von Materialien und deren Interpretation.

      Das kommunikative Fundament sozialer Systeme (siehe Abschnitt 7.2.1) macht die Durchführung von Interviews zu einem wichtigen Instrument organisationaler Reflexion. Es wäre jedoch völlig unzureichend, sich in der Textauslegung von den vordergründigen Gesprächsinhalten vereinnahmen


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