Das qualitative Interview. Manfred Lueger

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Das qualitative Interview - Manfred Lueger


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der kognitiven Verarbeitung von Systemprozessen sowie deren sprachlicher Ausdruck gegenüber einer (meist außenstehenden) anderen Person sind. Eine seriöse [18]qualitativ orientierte Vorgangsweise versteht daher Gesprächsaussagen als Manifestation sozialer Beziehungen und Verhältnisse, deren Regeln in der Selektivität der Mitteilungen zum Ausdruck kommen. Mitglieder eines sozialen Systems sind daher nicht bloß Expert*innen ihres Systems, sondern repräsentieren in ihren Aussagen das System und ihre Beziehungen zu diesem. Sie müssen dabei nicht alles verstehen und sie können je nach Gesprächssituation aus ihrer Sicht Dinge ansprechen, besonders herausheben, verändert darstellen oder verschweigen. Erst die Berücksichtigung dieser komplexen Dynamik erlaubt es, durch die Inhalte hindurch die Sinnstrukturierung des Systems erkennen zu können.

      Diese Ausführungen lassen bereits erkennen, dass sich qualitative Forschungsstrategien nicht für alle Fragestellungen gleichermaßen eignen, sondern deren spezifische Stärken in der Analyse der Organisierung und Manifestation sozialer Prozesse, deren Entwicklungsdynamik und die ihnen zugrundeliegenden Sinnstrukturen liegen. Typische Themen könnten daher beispielsweise sein: Wie organisieren Familien die Beziehungen zu ihrer relevanten Umwelt? Woran orientieren sich Unternehmen bei ihrer Entscheidung über eine Unternehmensberatung? Wie und vor welchem Hintergrund wird ein bestimmtes Problem an einer Universität erzeugt, stabilisiert, verändert und bewältigt? Wie sind in einer Gemeinde die Beziehungen zwischen verschiedenen Bereichen geregelt? Nach welcher Logik entwickeln die Vereinsmitglieder ihre spezifischen Sichtweisen?

      Eine theoriegenerierende Vorgangsweise macht es unmöglich, Forschungsfragen bereits am Beginn der Untersuchung endgültig zu präzisieren oder die Erhebung auf einen Teilbereich des Untersuchungsfeldes zu konzentrieren. Vielmehr erkundet die Forschung den allgemeinen Phänomenbereich (etwa die Organisation als Ganzheit, auch wenn nur ein Teilbereich interessieren sollte), wobei aus den erlangten Erkenntnissen sukzessive adäquate Fragestellungen, die Konkretisierung des Untersuchungsgegenstandes sowie dem jeweiligen Forschungsstand angemessene methodische Vorgangsweisen abgeleitet werden. Die gesamte Forschungsstrategie muss die Voraussetzungen für die Generierung neuen Wissens, dessen Prüfung, Erweiterung und Präzisierung schaffen. Auch das Ende eines solchen Forschungsverlaufes lässt sich nicht genau abschätzen, sondern hängt von der Stabilisierung des Wissens, d.h. von der Frage ab, mit welcher Wahrscheinlichkeit zusätzliche Erhebungen neue Erkenntnisse erschließen könnten. Die Dynamik der sozialen Welt findet insofern ihre Entsprechung in der Vorläufigkeit jeglicher wissenschaftlicher Erkenntnis.

      Die Durchführung qualitativ orientierter empirischer Studien erfordert eine Forschungskonzeption, die den Anforderungen qualitativer Sozialforschung gerecht wird. Um die spezifische Vorgangsweise der Gesprächsführung in der qualitativ-empirischen Sozialforschung nachvollziehbar zu machen und zu zeigen, wie Forschungsentscheidungen in diesem Sinne begründet werden, befasst sich dieses Kapitel mit mehreren Komponenten der Gesprächsvorbereitung und -führung: die Verankerung im Forschungskontext, Funktionen im Rahmen der Analyse, die Auswahl der Gesprächspartner*innen und angemessene Gesprächsstrategien. Den [19]Abschluss bildet ein kurzes Anwendungsbeispiel, welches die Grundidee des Ansatzes veranschaulicht.

      Qualitative Forschungsdesigns erfüllen drei Funktionen, die in den verschiedenen Phasen einer Studie verschiedene Anforderungen an eine adäquate Forschungsstrategie stellen:

      •im Vorfeld der Planung und des Forschungseinstiegs schaffen sie die Voraussetzungen für die Durchführung einer Analyse;

      •für die Forschungsabwicklung sehen sie Maßnahmen zur Sicherstellung der Qualität der Ergebnisse vor;

      •zum Abschluss einer Studie machen sie das gewonnene Wissen verfügbar.

      Eine nähere Beschäftigung mit dem Verlauf qualitativer Studien macht nachvollziehbar, welche Entscheidungen in den verschiedenen Forschungsphasen anfallen und welche Bedeutungen diesen für die Durchführung qualitativer Forschungsgespräche zukommen. Sinnvollerweise lassen sich hierbei vier Phasen unterscheiden (vgl. Froschauer/Lueger 2009b):

      a)Die Planungsphase

      Diese erste Forschungsphase dient der gedanklichen Vorbereitung einer Studie, indem man sich mit den möglichen Anforderungen eines Forschungsfeldes vertraut macht. In ihr werden Lernpotenziale hergestellt und Rahmenbedingungen ausgelotet, die eine möglichst sinnvolle Sammlung oder Erhebung von Materialien sowie deren intensive Nutzung erlauben. Im Zuge dessen schafft man die organisatorischen Voraussetzungen für die Realisierung des Vorhabens.

      In Hinblick auf den Untersuchungsgegenstand sind Überlegungen nötig, welche unterschiedlichen Varianten des Zugangs möglich sind, welche Datenmaterialien man höchstwahrscheinlich für das Verständnis des Feldes braucht und wie man diese erhalten könnte. All dies erfordert die sorgsame Prüfung der sozialen Voraussetzungen des Zuganges zu einem Forschungsfeld, insbesondere bei Forschungsfeldern, die sich nach außen hin abschließen (z. B. eine Haftanstalt, die Entwicklungsabteilung eines Automobilkonzerns).

      Forschungsseitig setzt dies voraus, sich über das eigene Erkenntnisinteresse Klarheit zu verschaffen und damit auch die Eignung einer qualitativ orientierten Forschungsstrategie zu prüfen (siehe Kap. 7). Um eine möglichst offene Vorgangsweise zu gewährleisten, bedarf es einer sehr vagen Frageformulierung oder Themenstellung, in deren Zentrum das Interesse an der sozialen und kollektiven Form der Herstellung von Wirklichkeit und deren Folgen für die soziale Dynamik in einem sozialen System steht. Man stellt Fragen nach Bedeutungen, Kontexten, Konstellationen, Relevanzen, Prozessen, um herauszufinden, warum und wozu ein bestimmter Kontext die Akteur*innen motiviert, welche Entwicklungskräfte und Dynamiken in bestimmten physischen und sozialen Umgebun-[20]gen aufzuspüren sind und was dabei genau vor sich geht, was typische Muster sind und wie diese vor welchem Hintergrund entstehen oder auch, warum jemand etwas als Faktum betrachtet, also wie Bedeutungen entstehen und verändert werden und wie diese mit welchen Folgen von wem in die Argumentation eingebracht werden und wie sie dabei das soziale Feld verändern.

      Die Zentrierung auf ein soziales Problem (wie dies mitunter im Fall von Auftragsforschung vorkommt) ist dafür wenig hilfreich, weil jede Problemdefinition bereits eine Betrachtungsperspektive einschließt und damit die Sicht auf die Funktionsweise eines sozialen Systems einschränkt. Tauchen in der Forschungskonzeption Problemstellungen auf, so ist in der Analyse jedenfalls zu erkunden, warum etwas aus welcher Perspektive überhaupt als Problem betrachtet wird (d. h. was ein ‚Problem‘ zu einem ‚Problem‘ macht). Eine solche Problemreflexion ist eine unabdingbare Voraussetzung für eine differenzierte Analyse. Zu vermeiden ist auch eine einfache Suche nach Faktoren oder Motiven oder Kausalitäten. Die interpretative Sozialforschung erweitert solche Fragestellungen in der Regel, indem man nicht bloß nach Faktoren fahndet, sondern erkundet, was diese zu Faktoren macht, inwiefern sie relevant wofür sind und in welche Prozesse sie eingebunden sind; bezüglich der Motive erkundet man den Kontext ihrer Entstehung und ihre Bedeutung für individuelle oder soziale Vorgänge; Kausalitäten werden als dynamische Konstellationen analysiert, deren Geschichte, Bedingungen, Verläufe oder Folgen sowohl für die direkt oder indirekt betroffenen Akteur*innen als auch für die Umwelt genauer in den Blick genommen werden.

      Qualitative Studien sind erfahrungsgemäß immer wieder mit verschiedensten Interessen konfrontiert: beispielsweise im Rahmen von Forschungsaufträgen, aber auch bei der Begutachtung von Qualifizierungsarbeiten oder von Beiträgen, die in Fachzeitschriften zur Veröffentlichung eingereicht werden, und nicht zuletzt von jenen Gatekeepern, die über den Zugang zu manchen Forschungsfeldern entscheiden). Die empirische Forschungsarbeit muss sich von solchen Einflussnahmen freispielen, um sich nicht vereinnahmen, methodische Einschränkungen auferlegen oder sich in die soziale Dynamik des Feldes verstricken zu lassen. Eine gut überlegte Artikulierung der Forschungsfrage kann viel zum Aufbau einer Vertrauensbeziehung beitragen.

      Darüber hinaus ist es wichtig, in dieser Vorbereitungsphase die erforderlichen Kompetenzen (z. B. in Hinblick auf Erhebungs- und Interpretationsmethoden) zu bestimmen, um ein geeignetes Forschungsteam


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